Rendezvous mit Rama Arthur C. Clarke Das rätselhafte Objekt, das die Astronomen auf den Namen Rama tauften, gab allen Rätsel auf. Es war noch weit entfernt, deutlich außerhalb der Jupiter-Umlaufbahn. Etwas, das auf eine solch große Entfernung auf dem Radar erschien, musste gigantisch groß sein. Während das Objekt durch das Sonnensystem raste, zeigte sich bald, dass es geformt war wie ein perfekter Zylinder. Offenbar stand die Menschheit im Begriff, ihren ersten Besucher von den Sternen zu empfangen… Arthur C. Clarke Rendezvous mit Rama Übersetzung: Roland Fleissner 1. KAPITEL SPACEGUARD Früher oder später mußte es passieren. Am 30. Juni 1908 war Moskau nur um drei Stunden und viertausend Kilometer der Vernichtung entgangen — eine winzige Spanne, gemessen an den Dimensionen des Universums. Am 12. Februar 1947 kam eine weitere russische Stadt noch knapper davon, als der zweite große Meteorit des zwanzigsten Jahrhunderts knapp vierhundert Kilometer von Wladiwostok mit einer Detonation explodierte, die es mit der gerade erfundenen Uranbombe aufnehmen konnte. In jenen Tagen konnten die Menschen nichts zu ihrem Schutz gegen die letzten Zufallstreffer von jenem Bombardement aus dem Kosmos unternehmen, das einstmals die Mondoberfläche zerklüftet hatte. Die Meteoriten von 1908 und 1947 waren in unbewohnter Wildnis aufgeschlagen; doch gegen Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts gab es auf der Erde kein Gebiet mehr, das für die Schießübungen des Himmels hätte herhalten können. Die menschliche Rasse hatte sich von einem Pol zum anderen ausgebreitet. Und so war es unvermeidlich… Um 9.46 Uhr MEZ, am 11. September in jenem außergewöhnlich schönen Sommer des Jahres 2077, sahen die meisten Einwohner Europas am östlichen Himmel einen leuchtenden Feuerball aufscheinen. In Sekundenschnelle strahlte er heller als die Sonne, und während er — zunächst völlig geräuschlos — über den Himmel schoß, ließ er hinter sich eine wirbelnde Staub- und Rauchwolke zurück. Irgendwo über Österreich begann der Ball sich aufzulösen, was eine Reihe so heftiger Erschütterungen hervorrief, daß über eine Million Menschen dauernde Gehörschäden davontrugen. Sie hatten noch Glück gehabt. Mit fünfzig Kilometer pro Sekunde prallten einige tausend Tonnen Gestein und Metall auf die Ebenen Norditaliens und vernichteten in ein paar flammenerfüllten Augenblicken das Werk von Jahrhunderten. Die Städte Padua und Verona wurden vom Angesicht der Erde weggefegt die letzte Pracht Venedigs versank für immer im Meer, als die Fluten der Adria nach dem furchtbaren Einschlag aus dem All landeinwärts donnerten. Sechshunderttausend Menschen gingen zugrunde, der Gesamtschaden betrug über eine Billion Dollar. Doch der Verlust für die Kunst, die Geschichte, die Wissenschaft- für die ganze Menschheit bis ans Ende der Zeiten — überstieg jede Berechnung. Es war, als sei an einem einzigen Morgen ein großer Krieg geführt — und verloren worden. Und daß die Welt über Monate hin die prachtvollsten Morgendämmerungen und Sonnenuntergänge seit dem Ausbruch des Krakatau zu sehen bekam, während sich der Staub der Zerstörung langsam setzte, das vermochte nur wenige zu trösten. Nach dem anfänglichen Schock reagierte die Menschheit mit einer Entschlossenheit und Einigkeit, wie sie in keinem früheren Zeitalter möglich gewesen wären. Man machte sich klar, daß eine derartige Katastrophe vielleicht erst wieder in tausend Jahren eintreten würde — daß sie sich aber auch schon morgen wieder ereignen könnte. Und beim nächstenmal würden die Folgen vielleicht sogar noch schlimmer sein. Also gut: es würde kein nächstes Mal geben! Hundert Jahre früher hatte eine viel ärmere Welt, in der es viel weniger Hilfsmittel gab, ihren Reichtum bei dem Versuch vergeudet, Vernichtungswaffen zu bauen, die die Menschheit in selbstmörderischer Weise gegen sich selbst richtete. Sie war nie erfolgreich gewesen, doch die damals erworbenen Kenntnisse waren nicht in Vergessenheit geraten. Nun konnte man sie für einen weit edleren Zweck und in unendlich größerem Rahmen nutzen. Keinem Meteoriten, der groß genug war, eine Katastrophe heraufzubeschwören, sollte es je wieder gelingen, die Verteidigungsbasen der Erde zu durchbrechen. So nahm das Projekt SPACEGUARD (›Raumpatrouille‹) seinen Anfang. Fünfzig Jahre später sollte SPACEGUARD auf eine Weise, die keiner der Planer je voraussehen konnte, seine Daseinsberechtigung erweisen. 2. KAPITEL DER EINDRINGLING Um das Jahr 2130 entdeckten die Radarstationen auf dem Mars pro Tag etwa ein Dutzend neue Asteroiden. Die Computer von SPACEGUARD berechneten automatisch ihre Umlaufbahnen und speicherten die Informationen in ihren Datenbanken, so daß ein interessierter Astronom alle paar Monate die neuesten Statistiken abrufen konnte. Das Datenmaterial war mittlerweile recht beeindruckend. Es hatte seit der Entdeckung der Ceres, der größten unter diesen winzigen Welten, am allerersten Tag des neunzehnten Jahrhunderts, mehr als hundertzwanzig Jahre gedauert, bis die ersten tausend Asteroiden verbucht waren. Hunderte entdeckte man, verlor sie und fand sie erneut; sie traten in solchen Schwärmen auf, daß ein verärgerter Astronom sie einmal ›Himmelsungeziefer‹ genannt hatte. Er wäre sehr erschrocken gewesen, hätte man ihm gesagt, daß SPACEGUARD nunmehr eine halbe Million im Auge behielt. Nur die fünf Giganten — Ceres, Pallas, Juno, Eunomia und Vesta — hatten Durchmesser von mehr als zweihundert Kilometern; die meisten aber waren bloß etwas zu groß geratene Felsbrocken, die in einem kleinen Park Platz gehabt hätten. Nahezu alle wanderten auf Umlaufbahnen jenseits des Mars; nur die paar, die weit genug sonnenwärts kamen, daß sie möglicherweise für die Erde gefährlich werden konnten, erregten das besorgte Interesse von SPACEGUARD. Und nicht eins unter Tausenden solcher Objekte würde während der ganzen zukünftigen Geschichte des Sonnensystems näher als eine Million Kilometer an die Erde herankommen. Das Objekt, das zunächst nach Jahr und Rang seiner Entdeckung als 31/439 katalogisiert wurde, entdeckte man, als es sich noch außerhalb der Umlaufbahn des Jupiters bewegte. Diese Ortung war keineswegs ungewöhnlich, denn viele Asteroide wanderten bis über den Saturn hinaus und kehrten dann wieder in Richtung auf ihre ferne Herrin, die Sonne, zurück. Und Thule II, der am weitesten von allen hinausstreunte, wanderte so dicht bei Uranus, daß er sehr leicht ein verlorengegangener Mond dieses Planeten sein konnte. Ein Novum war allerdings ein erster Radarkontakt über eine derartige Entfernung; es war klar, 31/439 mußte ungewöhnlich groß sein. Aus der Echostärke folgerten die Computer einen Durchmesser von mindestens vierzig Kilometern, einen solchen Giganten hatte man seit 13 hundert Jahren nicht entdeckt. Daß man ihn so lange übersehen hatte, schien unglaublich. Dann berechnete man die Umlaufbahn und fand des Rätsels Lösung — nur um auf ein noch größeres Problem zu stoßen. 31/439 bewegte sich nicht auf einer normalen Asteroidenbahn, auf einer Ellipse, die mit der Präzision eines Uhrwerks alle paar Jahre umlaufen wird. Er war ein einsamer Wanderer zwischen den Sternen, der dem Sonnensystem seinen ersten und zugleich letzten Besuch abstattete, denn er bewegte sich so schnell, daß das Gravitationsfeld der Sonne ihn nie würde einfangen können. 31/439 würde blitzschnell an den Umlaufbahnen von Jupiter, Mars, Erde, Venus und Merkur vorbei mit wachsender Geschwindigkeit auf die Sonne zustoßen, sie umkreisen und wieder in unbekannte Fernen hinausschießen. In diesem Stadium der Überlegungen blinkten die Computer ihr „He, hallo! Wir haben was Interessantes entdeckt“, und damit erregte 31/439 erstmalig das Interesse der Forscher. Im SPACEGUARD-Hauptquartier schlugen kurzfristig die Wellen der Erregung hoch, und man würdigte den Wanderer zwischen den Sternen rasch eines Namens statt der bloßen Nummer. Schon seit langem hatten die Astronomen das Namenreservoir der griechischen und rö14 mischen Mythologie ausgeschöpft; jetzt arbeiteten sie sich durch den hinduistischen Götterhimmel hindurch. Und so wurde 31/439 ›Rama‹ getauft. Ein paar Tage lang machten die Nachrichtenmedien einen großen Wirbel um den Besucher, wurden allerdings durch die spärlichen Informationen darin stark behindert. Über Rama waren nur zwei Tatsachen bekannt: seine merkwürdige Umlaufbahn und in etwa seine Größe. Aber auch dies war eine bloße wissenschaftliche Hypothese, die auf der Stärke der Radarechos basierte. Durch das Teleskop wirkte Rama noch immer wie ein blasser Stern der fünfzehnten Größenordnung — also viel zu klein, um als Scheibe sichtbar zu sein. Doch während er auf das Herz des Sonnensystems zustürzte, würde er Monat für Monat heller und größer erscheinen, und ehe er für immer verschwinden würde, hatten die Observatorien im Orbit wohl Gelegenheit, präzisere Daten über seine Form und Größe zu sammeln. Man hatte Zeit genug, und es war ja durchaus möglich, daß irgendein Raumschiff bei Durchführung seiner normalen Aufgabe nahe genug an ihn herangeführt werden könnte, um gute Fotos zu machen. Ein Rendezvous zum gegenwärtigen Zeitpunkt war höchst unwahrscheinlich: der Energieaufwand für den physischen Kontakt mit einem Objekt, das mit mehr als hunderttausend Stundenkilometern quer durch die Umlaufbahnen der Planeten raste, war viel zu groß. So vergaß die Welt Rama bald wieder. Nicht so die Astronomen. Ihre Erregung wuchs im Lauf der Monate, als der neue Asteroid ihnen immer neue Rätsel aufgab. Da war zunächst einmal das Problem mit Ramas Lichtkurve. Er hatte keine. Ausnahmslos alle Asteroiden wiesen eine langsame Veränderlichkeit in ihrer Helligkeit auf, sie wurden in einer Periodizität von wenigen Stunden heller und dunkler. Seit mehr als zwei Jahrhunderten galt, daß dies eine unvermeidliche Folge ihrer Umdrehung und ihrer unregelmäßigen Gestalt sei. Während sie kopfüber ihre Bahnen entlangtorkelten, veränderten sich die reflektierenden Flächen, die sie der Sonne zuwandten, andauernd und dementsprechend auch ihre Helligkeit. Rama wies keinerlei derartige Veränderungen auf. Entweder drehte er sich überhaupt nicht um seine Achse, oder er mußte vollkommen symmetrisch sein. Beide Erklärungen schienen gleich unwahrscheinlich. Mehrere Monate lang lag das Problem auf Eis, weil alle großen Teleskope im Orbit für die reguläre Späharbeit in die fernen Tiefen des Universums benötigt wurden. Weltraumastronomie ist ein kostspieliges Unternehmen, und die Zeit an einem der großen Instrumente konnte leicht einige tausend Dollar pro Minute kosten. Dr. William Stenton hätte niemals den Farside-Zweihundertmeterreflektor in die Finger bekommen, und das eine ganze Viertelsrunde lang, wäre nicht ein wichtigeres Programm durch das Versagen eines Kondensators, der fünfzig Cent kostete, fehlgelaufen. Das Pech eines Kollegen war sein Glück. Auf was er gestoßen war, erfuhr Bill Stenton erst am darauffolgenden Tag, als es ihm gelang, Computerzeit zu bekommen und seine Ergebnisse zu verwerten. Aber auch als sie vor ihm auf dem Monitor aufleuchteten, brauchte er doch noch ein paar Minuten, um ihre Tragweite zu begreifen. Das von Rama reflektierte Sonnenlicht besaß demzufolge keineswegs eine absolut konstante Intensität. Es zeigte sich eine sehr geringfügige Variation: sie war schwer feststellbar, doch ganz eindeutig und extrem regelmäßig. Rama drehte sich also effektiv um sich selbst wie alle anderen Asteroiden. Doch während bei den Asteroiden der normale ›Tag‹ mehrere Stunden betrug, dauerte Ramas ›Tag‹ nur vier Minuten. Dr. Stenton stellte rasch ein paar Berechnungen an, und es kam ihn hart an zu glauben, was dabei herauskam. Die Umdrehungsgeschwindigkeit dieser Zwergwelt mußte am Äquator über eintausend Stundenkilometer betragen; es müßte also äußerst ungesund sein, an irgendeiner Stelle außer an den Polen landen zu wollen. Die Zentrifugalkraft am Äquator Ramas müßte stark genug sein, alle nicht verankerten Objekte mit einer Beschleunigung von nahezu 1G fortzuschleudern. Rama war ein kosmischer Geröllkiesel, der niemals kosmisches Moos angesetzt haben konnte; es war erstaunlich, daß solch ein Körper es fertiggebracht hatte fortzubestehen, daß er nicht schon längst in Millionen Trümmer zerborsten war. Ein Objekt mit einem Durchmesser von vierzig Kilometern und einer Umdrehungsdauer von nur vier Minuten? Wie paßte denn dies ins astronomische Schema? Doch Dr. Stenton war ein Mensch mit einer gewissen Fantasie, der ein wenig zu voreiligen Schlußfolgerungen neigte. Diese jetzt sollte ihm ein paar recht unbequeme Augenblicke bereiten. Das einzige Exemplar im himmlischen Zoo, auf das diese Beschreibung zutraf, war ein zusammengebrochener Stern. Vielleicht handelte es sich ja bei Rama um eine tote Sonne — eine wild herumwirbelnde Neutroniumkugel, bei der jeder Kubikzentimeter Milliarden Tonnen wog… In diesem Moment schoß eine Erinnerung an jenen zeitlosen Klassiker von H. G. Wells The Star blitzartig durch Dr. Stentons schrekkerfülltes Gehirn. Er hatte das Buch zum erstenmal in sehr jungen Jahren gelesen, es hatte sein Interesse an der Astronomie entzündet. In über zweihundert Jahren hatte das Werk nichts von seinem Zauber und seiner Schrecklichkeit eingebüßt. Stenton würde nie die Bilder von Orkanen und Flutwellen vergessen, die Städte, die ins Meer stürzten, als jener andere Besucher mit Jupiter zusammenstieß und dann an der Erde vorbei auf die Sonne zuraste. Sicher, der Stern, den der alte Wells beschrieben hatte, war keine erkaltete Sonne gewesen, sondern eine flammende, und die Zerstörung, die sie anrichtete, entstand durch Hitze. Doch das spielte wohl kaum eine Rolle: selbst wenn Rama ein erkalteter Himmelskörper sein sollte, der nur das Licht der Sonne reflektierte, er konnte ebenso leicht durch Schwerkraft wie durch Hitze tödlich werden. Jede stellare Masse, die in das Sonnensystem eindrang, würde die Planetenbahnen völlig durcheinanderbringen. Die Erde brauchte nur ein paar Millionen Kilometer auf die Sonne zuzutreiben — oder von der Sonne fort —, und ihr empfindliches klimatisches Gleichgewicht würde zerstört sein. Die Eiskappe der Antarktis konnte schmelzen und alles tiefliegende Land überfluten; oder die Ozeane konnten zufrieren, und die gesamte Erde konnte in einem ewigen Winter festsitzen. Ein unmerklicher Anstoß in eine von beiden Richtungen wäre ausreichend… Dr. Stenton löste sich aus seiner Verkrampfung und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Das war ja alles Unsinn. Eigentlich müßte er vor Scham über sich selbst erröten. Denn Rama konnte ja auf gar keinen Fall aus flüssiger Materie bestehen. Keine Masse von Sternengröße würde so tief in das Sonnensystem eindringen können, ohne Störungen hervorzurufen, die ihre Anwesenheit längst hätten verraten müssen. Die Umlaufbahnen aller Planeten wären beeinflußt worden; schließlich hatte man gerade dadurch Neptun, Pluto und Persephone entdecken können. Nein, es war völlig ausgeschlossen, daß ein Objekt von der Größe und Masse einer toten Sonne sich unbemerkt einschleichen konnte. Einerseits war das ja schade. Eine Begegnung mit einem Dunkelstern wäre höchst aufregend gewesen. Solange sie gedauert hätte… 3. KAPITEL RAMA UND SITA Die außerordentliche Konferenz des Space Advisory Council verlief stürmisch und war sehr kurz. Selbst im zweiundzwanzigsten Jahrhundert hatte man bisher noch keinen Weg gefunden, zu verhindern, daß vergreiste konservative Wissenschaftler in den entscheidenden Verwaltungspositionen saßen. Und es stand effektiv zu bezweifeln, ob man das Problem jemals lösen würde. Was die Sache noch schlimmer machte: Professor (Emeritus) Olaf Davidson, der renommierte Astrophysiker, hatte diesmal den Vorsitz des Beratergremiums der Raumfahrt SAC inne. Und Professor Davidson interessierte sich nicht sonderlich für Objekte im Raum, die kleiner waren als Galaxien. Außerdem gab er sich nie die geringste Mühe, seine Voreingenommenheit zu verbergen. Und wenn er auch eingestehen mußte, daß sein Wissensgebiet nunmehr zu neunzig Prozent auf den Beobachtungsergebnissen von Raumsonden beruhte, so war er doch keineswegs glücklich über diese Tatsache. In seiner an Auszeichnungen so reichen Laufbahn war es nicht weniger als dreimal passiert, daß Satelliten, die man einzig und allein ins All gefeuert hatte, um eine seiner Lieblingstheorien zu beweisen, haargenau das Gegenteil davon bewiesen hatten. Die dem Gremium vorliegende Frage war eindeutig genug. Es bestand kein Zweifel daran, daß es sich bei Rama um ein ungewöhnliches Objekt handelte. Aber, war es auch ein wichtiges Objekt? In ein paar Monaten würde Rama für immer verschwunden sein. Es blieb also nur wenig Zeit zum Handeln. Gelegenheiten, die man jetzt verpaßte, würden nie wiederkehren. Mit einem ziemlich gespenstischen Kostenaufwand würde man eine Raumsonde, die in Kürze vom Mars über den Neptun hinaus gestartet werden sollte, so weit umdirigieren können, daß sie auf eine hochbeschleunigte Flugbahn gebracht werden konnte, um die von Rama zu kreuzen. Aussicht auf ein Rendezvous bestand nicht: es würde sich um das bisher schnellste Flugbegegnungsmanöver der Geschichte handeln, denn die zwei Flugkörper würden mit einer Geschwindigkeit von zweihunderttausend Stundenkilometern aneinander vorbeirasen. Rama würde nur ein paar Minuten lang gründlich beobachtet werden können. Beim realen Close-up würde es weniger als eine Sekunde sein. Wenn man allerdings das richtige Instrumentarium einsetzte, könnte das zur Beantwortung vieler Fragen ausreichen. Professor Davidson stand dem Projekt der Neptunsonde sehr mißgünstig gegenüber: trotzdem, es war bereits gebilligt worden, und er hatte keine Lust, in eine für ihn sowieso verlorene Sache zu investieren. Er ließ sich beredt über den Unsinn der Jagd nach Asteroiden aus und plädierte für ein dringlichst benötigtes Interferometer mit hoher Auflösungskraft auf dem Mond, damit die neuerdings wiederbelebte Theorie von der Schöpfung als einem großen Urknall ein für allemal bewiesen werden könne. Dies sollte sich als gravierender taktischer Fehler erweisen. Denn drei der glühendsten Verfechter der Theorie von einem modifizierten Ausgewogenheitszustand des Universums waren ebenfalls Ratsmitglieder. Insgeheim pflichteten sie zwar Professor Davidson bei, daß die Asteroidenjagd reine Geldverschwendung sei, aber immerhin und alles in allem… Professor Davidson unterlag mit einer Stimme. Drei Monate darauf wurde die auf den Namen Sita umgetaufte Raumsonde von Phobos, dem inneren Marsmond, aus gestartet. Die Flugzeit sollte sieben Wochen betragen, das Instrument erst fünf Minuten vor der Begegnung mit voller Kraft arbeiten. Gleichzeitig würden zahlreiche Kamerasonden abgeschossen, Rama umkreisen und ihn von allen Seiten fotografieren. Die ersten Bilder aus zehntausend Kilometern Entfernung ließen die gesamte Menschheit aufmerksam werden. Auf einer Milliarde Fernsehschirmen erschien ein winziger Zylinder ohne bestimmte Merkmale, der rasch von Sekunde zu Sekunde wuchs. Als sich seine Größe verdoppelt hatte, konnte niemand mehr behaupten, daß Rama ein natürlicher Gegenstand sei. Seine Form war ein geometrisch so perfekter Zylinder, als wäre er auf einer überdimensional großen Töpferscheibe gedreht worden. Die beiden Enden waren völlig flach, nur an einem Ende im Mittelpunkt zeichneten sich einige kleine Gebilde ab. Sie waren zwanzig Kilometer voneinander entfernt. In dieser Entfernung und ohne Vergleichsmaßstab für die Größe sah Rama beinahe so lächerlich wie ein ganz gewöhnlicher Wasserboiler aus. Rama wuchs und füllte schließlich den ganzen Bildschirm aus. Seine Oberfläche hatte ein stumpfes Graubraun, war so wenig farbig wie der Mond und völlig ohne Konturen. Mit einer Ausnahme. In halber Höhe zeigte sich auf dem Zylinder ein kilometerlanger Fleck oder Kratzer, als wäre dort vor langer Zeit etwas aufgeprallt und zerplatzt. Es gab kein Anzeichen dafür, daß der Aufprall die kreisenden Zylinderwände im geringsten beschädigt hatte; aber dieser Fleck hatte die leichte Helligkeitsschwankung hervorgerufen, die Stenton zu seiner Entdeckung führte. Die Übertragungen der anderen Kameras lieferten keine neuen Erkenntnisse. Doch aus den Durchlaufbahnen in dem minimalen Gravitationsfeld Ramas ergab sich eine weitere wichtige Information: die über die Maße des Zylinders. Er war viel zu leicht, als daß er ein fester Körper hätte sein können. Niemand war sehr überrascht, daß Rama sich eindeutig als hohl erwies. Das lange erhoffte und lange befürchtete Rendezvous war schließlich doch eingetroffen. Die Menschheit machte sich bereit, ihren ersten Besucher von den Sternen zu empfangen. 4. KAPITEL DAS RENDEZVOUS Commander Norton erinnerte sich in den wenigen Minuten der Begegnung an jene ersten Fernsehbilder, die er immer und immer wieder durchgespielt hatte. Doch etwas hatte kein Elektronenbild wiederzugeben vermocht: die ungeheuren Ausmaße von Rama. Bei keiner Landung auf einem natürlichen Himmelskörper wie dem Mond oder dem Mars hatte Norton solch einen überwältigenden Eindruck erfahren. Das waren Welten, und man erwartete, daß sie groß waren. Doch er war auch auf Jupiter VIII gelandet, der ein wenig größer war als Rama — und dieser Mond war ihm als ein ziemlich kleines Objekt erschienen. Dieses Paradoxon war sehr einfach zu erklären. Seine Meinung wurde vollkommen umgestoßen durch die Tatsache, daß Rama ein künstliches Gebilde war, millionenmal schwerer als alles, was der Mensch je in den Raum geschickt hatte. Die Masse Ramas betrug mindestens zehn Milliarden Tonnen — für jeden Astronauten eine nicht nur ehrfurchtgebietende, sondern auch eine furchterregende Vorstellung. Es war daher keineswegs verwunderlich, daß Norton gelegentlich das Gefühl hatte, ein Sandkorn zu sein, manchmal sogar deprimiert war, während dieser Zylinder aus alterslosem geformten Metall immer größer auf ihn zuwuchs. Es schlich sich auch eine Ahnung von Gefahr in seine Gedanken, was ihm bisher noch nie passiert war. Bei jeder früheren Landung hatte er gewußt, womit er zu rechnen hatte; es waren natürlich immer Unfälle möglich, doch war das Element der Überraschung ausgeklammert gewesen. Bei Rama indes war die einzige Sicherheit die, daß man auf Überraschungen stoßen würde. Im Augenblick schwebte die Endeavour knapp tausend Meter über dem Nordpol des Zylinders, genau über dem Mittelpunkt der langsam rotierenden Scheibe. Man hatte diese Seite gewählt, weil sie der Sonne zugewandt war. Die Schatten der kurzen rätselhaften Gebilde wanderten gleichmäßig rund um die Achse, gemäß der Rotation Ramas, und strichen über die metallische Fläche. Die Nordansicht Ramas wirkte wie eine riesige Sonnenuhr, auf der der rasche Ablauf des Vierminutentags abzulesen war. Die Landung seines fünftausend Tonnen schweren Raumschiffs im Zentrum einer rotierenden Scheibe war die geringste Sorge, mit der Commander Norton sich herumschlug. Es war nicht komplizierter, als auf der Achse einer großen Raumstation anzudocken. Die Seitentriebwerke der Endeavour hatten sie bereits in die gleiche Rotation wie Rama versetzt, und er konnte sich völlig darauf verlassen, daß sein Leutnant Joe Calvert das Schiff so sanft wie eine Schneeflocke aufsetzen würde. Mit oder ohne Navigationscomputer. Joe ließ den Bildschirm nicht aus den Augen, als er sagte: „In drei Minuten werden wir wissen, ob das Ding aus Antimaterie gemacht ist.“ Norton mußte grinsen. Er erinnerte sich an ein paar jener Gruseltheorien, die man über den Ursprung Ramas aufgestellt hatte. Wenn diese unwahrscheinlichen Spekulationen zuträfen, dann würde es in ein paar Sekunden den größten Knall seit der Entstehung des Sonnensystems geben. Die völlige Vernichtung von zehntausend Tonnen würde, schlicht gesagt, den Planeten eine neue Sonne schenken. Doch im Computerprofil ihres Auftrags war auch diese ausgefallene Möglichkeit berücksichtigt worden. Die Endeavour hatte aus sicheren tausend Kilometern Entfernung aus einem der Triebwerke einen kurzen Strahl auf Rama losgelassen. Es geschah überhaupt nichts, als die quellende Dampfwolke ihr Ziel erreichte. Eine Materie-Antimaterie-Reaktion von auch nur ein paar Milligramm würde aber ein fürchterliches Feuerwerk bewirkt haben. Norton war wie alle Kommandanten eines Raumschiffs ein vorsichtiger Mann. Er hatte sich die Nordansicht Ramas lange und eingehend angesehen, um den Landepunkt zu wählen. Nach sorgfältigen Überlegungen hatte er beschlossen, den naheliegenden Punkt zu vermeiden: das genaue Zentrum auf der Achse. Auf der Polachse lag nämlich ein klar abgegrenzter kreisförmiger Bezirk von hundert Metern Durchmesser, und Norton hatte den starken Verdacht, daß dies die äußere Klappe einer riesigen Ausstiegsluke sein müsse. Die Geschöpfe, die diese Hohlwelt gebaut hatten, mußten über Möglichkeiten verfügt haben, ihre Raumschiffe nach innen zu bringen. Und dies war logischerweise der beste Platz für einen Hauptzugang. Darum hielt Norton es für unklug, mit seinem Raumschiff die Vordertür zu blockieren. Doch aus dieser Entscheidung ergaben sich andere Probleme. Wenn die Endeavour auch nur ein paar Meter von der Achse entfernt aufsetzte, würde die hohe Umdrehungsgeschwindigkeit Ramas sie vom Pol nach außen rutschen lassen. Zunächst würde die Zentrifugalkraft sehr schwach sein, doch sie würde stetig und unerbittlich zunehmen. Der Gedanke, daß sein Schiff über die Polebene schlittern könnte und von Minute zu Minute schneller werden würde, bis es schließlich mit ein paar tausend Stundenkilometern am Rand der Scheibe in den Raum hinausgeschleudert würde, gefiel Norton keineswegs. Es bestand die vage Möglichkeit, daß das winzige Gravitationsfeld Ramas — etwa ein Tausendstel der Schwerkraft auf der Erde — dies verhindern würde. Dadurch würde die Endeavour mit einer Kraft von mehreren Tonnen gegen die Fläche gepreßt werden, und bei einer relativ rauhen Oberflächenstruktur würde das Schiff in Polnähe bleiben. Aber Commander Norton beabsichtigte keineswegs, eine unbekannte Reibungskraft gegen eine vollkommen sichere Zentrifugalkraft in die Waagschalen zu werfen. Glücklicherweise hatten die Konstrukteure Ramas die Antwort bereits geliefert. In gleichmäßigen Abständen um die Polachse waren drei niedrige bunkerförmige Gebilde von etwa zehn Metern Durchmesser angeordnet. Wenn die Endeavour zwischen zweien davon landete, würde sie durch die Zentrifugalkraft gegen sie getrieben und von ihnen abgeblockt werden, wie ein Schiff, das von den andrängenden Wellen am Kai festgehalten wird. „Kontakt in fünfzehn Sekunden“, sagte Joe. Während Commander Norton sich auf die Kontrollsteuerung konzentrierte (die er, wie er hoffte, nicht würde bedienen müssen), kam ihm blitzartig zum Bewußtsein, welche Bedeutung dieser Augenblick hatte. Es handelte sich zweifellos um das wichtigste Landemanöver seit der Mondlandung vor anderthalb Jahrhunderten. Die grauen bunkerähnlichen Gebilde glitten langsam das Bullauge hinauf. Es kam das letzte Zischen einer Reaktionsdüse, dann ein kaum spürbarer Stoß. In den vergangenen Wochen hatte Commander Norton sich oftmals gefragt, was er in diesem Moment sagen würde. Doch nun, da er eingetreten war, wählte die Geschichte die Worte für ihn, und er sagte halb automatisch (und ohne sich wirklich bewußt zu sein, daß er auf ein historisches Ergebnis der Vergangenheit anspielte): „Rama-Basis. Endeavour ist gelandet.“ Noch vor einem Monat hätte er es nicht für möglich gehalten. Das Raumschiff war mit einem Routineauftrag unterwegs gewesen und hatte Warnungsbaken für Asteroiden überprüft und ausgewechselt, als der Befehl gekommen war. Die Endeavour war das einzige Raumschiff im Sonnensystem, das von der Position her überhaupt dafür in Frage kam, den Eindringling abzufangen, ehe er um die Sonne herumflitzte und wieder zu den Sternen hinausschoß. Aber trotz der günstigen Position war es notwendig gewesen, drei anderen Schiffen der solaren Wachpatrouille den Treibstoff abzunehmen. Sie trieben jetzt hilflos im Raum, bis sie von Tankern wieder Nachschub erhalten würden. Norton hatte den Verdacht, daß es lange dauern würde, bis die Käptn der Calypso, der Beagle und der Challenger wieder mit ihm reden würden. Trotz des zusätzlichen Treibstoffs war es eine lange und schwierige Verfolgungsjagd gewesen: Rama befand sich bereits in der Umlaufbahn der Venus, als die Endeavour den Planeten einholte. Kein anderes Raumschiff hatte jemals etwas Derartiges unternommen. Es war ein außerordentliches Privileg, und in den kommenden Wochen durfte kein einziger Augenblick verschwendet werden. Tausende von Wissenschaftlern auf der Erde hätten mit Freuden ihre Seele verpfändet, wenn ihnen diese Möglichkeit geboten worden wäre. Jetzt blieb ihnen nichts übrig, als die Sache am Fernsehschirm zu verfolgen, mit den Zähnen zu knirschen und sich einzubilden, daß sie für diesen Job weit besser gewesen wären. Vielleicht hatten sie sogar recht, aber es blieb eben keine andere Wahl. Die unerbittlichen Gesetze der Himmelsmechanik hatten entschieden, daß die Endeavour das erste und letzte Raumschiff der Menschheit war, das je in Kontakt mit Rama kommen würde. Die Hilfe, die Norton unablässig von der Kontrollstation auf der Erde empfing, trug wenig dazu bei, ihm die Bürde seiner Verantwortung zu erleichtern. Wo es um Entscheidungen in Bruchteilen von Sekunden ging, konnte ihm niemand helfen. Die Zeitdifferenz zwischen der Kontrollbasis und seinem Schiff betrug per Radio bereits zehn Minuten, und sie erhöhte sich von Relais zu Relais entsprechend. Oft beneidete er die großen Navigatoren der Vergangenheit, die in einer präelektronischen Zeit gelebt hatten und ihre versiegelten Befehle ohne die ständige Einmischung des Hauptquartiers interpretieren konnten. Wenn die einen Fehler gemacht hatten, erfuhr kein Mensch je davon. Gleichzeitig war er jedoch ganz froh darüber, daß manche Entscheidungen an die Kontrollstation auf der Erde verwiesen werden konnten. Nun, nachdem die Endeavour dieselbe Bahn hatte wie Rama, flogen sie auf die Sonne zu, als wären sie eine einzige Masse. In vierzig Tagen würden sie das Perihelion erreichen und weniger als zwanzig Millionen Kilometer entfernt um die Sonne herumfliegen. Das war bei weitem zu nahe, um angenehm zu sein. Die Endeavour würde längst vorher den noch vorhandenen Treibstoff einsetzen müssen, um sich auf eine weniger gefährliche Bahn zu katapultieren. Es standen ihnen also etwa drei Wochen für die Exploration Ramas zur Verfügung, ehe sie sich von dem Objekt endgültig trennen mußten. Danach würde die Erde sich mit dem Problem herumschlagen müssen. Die Endeavour raste dann praktisch hilflos auf einer Bahn dahin, auf der sie als erstes Raumschiff der Erde die Sterne erreichen konnte — in zirka fünfzigtausend Jahren. Es besteht kein Grund zur Besorgnis, hatte die Kontrollführung vom ›Projekt Rama‹ versichert. Irgendwie würde man die Endeavour ohne Rücksicht auf die Kosten wieder auftanken — selbst wenn man Tanker hinter ihr herschicken und sie im Weltraum preisgeben müßte, nachdem sie ihr letztes Gramm Treibstoff abgegeben hätten. Rama rechtfertigte jegliches Risiko, außer einem Himmelfahrtskommando. Und selbstverständlich lag sogar dies im Bereich der Möglichkeiten. In dieser Hinsicht gab sich Commander Norton keinen Illusionen hin. Seit Hunderten von Jahren war nun zum erstenmal ein völlig unkalkulierbares Element in den menschlichen Bereich eingedrungen. Und Ungewißheit war etwas, das weder Wissenschaftler noch Politiker ertragen konnten. Und natürlich würde man ohne Zögern die Endeavour und ihre Mannschaft opfern, falls dies nötig wäre, diese Ungewißheit zu beseitigen. 5. KAPITEL DIE ERSTE EVA Rama war so still wie ein Grab — und das war er vielleicht auch. Auf keiner Frequenz gab es Radiosignale. Keine Vibrationen, die die Seismographen auffangen konnten, außer Mikroerschütterungen, die zweifellos durch die zunehmende Sonnenhitze verursacht wurden. Keine elektrischen Ströme, keinerlei Radioaktivität. Das Objekt war beinahe bedrohlich still; sogar ein Asteroid würde vermutlich lauter sein. Was haben wir erwartet? fragte sich Norton. Ein Begrüßungskomitee? Er war sich nicht ganz im klaren, ob er enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Die Maßnahmen, die ergriffen werden sollten, waren ihm immerhin vorgeschrieben. Sein Befehl lautete, vierundzwanzig Stunden zu warten und dann zu Erkundungen das Raumschiff zu verlassen. An diesem ersten Tag schlief keiner sehr viel; selbst die Männer der Besatzung, die keinen Dienst hatten, hockten die meiste Zeit vor den Monitoren der Testinstrumente oder starrten durch die Beobachtungsluken auf die nackte geometrische Landschaft hinaus. Lebt diese Welt? fragten sie sich immer und immer wieder. Ist sie tot? Oder schläft sie nur? Auf die erste EVA nahm Norton nur einen Begleiter mit, Kapitänleutnant Karl Mercer, seinen abgebrühten und erfinderischen Offizier für Lebenserhaltung. Er beabsichtigte nicht, das Raumschiff aus den Augen zu verlieren, und wenn es Probleme geben sollte, so würde ein Trupp von mehreren Leuten kaum mehr Sicherheit garantieren. Er traf jedoch Vorsichtsmaßnahmen und ließ zwei weitere Mann der Besatzung in Raumanzügen an der Luftschleuse aufstellen. Die paar Gramm, die sie durch die kombinierte Schwerkraft und Zentrifugalkraft Ramas gewannen, waren weder nützlich noch hinderlich; sie mußten sich voll und ganz auf ihre Jets verlassen. Sobald wie möglich, beschloß Norton, würde er Leitseile kreuz und quer zwischen dem Schiff und den Bunkern spannen lassen, damit man sich bewegen konnte, ohne Treibstoff zu vergeuden. Die nächste bunkerähnliche Erhebung war nur zehn Meter von der Luftschleuse entfernt. Nortons erste Sorge galt der Überprüfung, ob das Schiff beim Aufsetzen keinen Schaden gelitten hatte. Der Rumpf der Endeavour preßte sich mit einem Gewicht von mehreren Tonnen gegen die gekrümmte Wand, doch war der Druck gleichmäßig verteilt. Beruhigt begann er um die kreisförmige Struktur herumzugleiten, um ihren Zweck zu erkennen. Norton war erst ein paar Meter vorangekommen, als er auf eine Unebenheit in der glatten, allem Anschein nach metallischen Wand stieß. Zunächst dachte er, es handle sich um irgendeine seltsame Verzierung, sie schien keine praktische Funktion zu erfüllen. Sechs Rinnen oder Schlitze waren in radialer Anordnung tief in das Metall eingegraben. In ihnen lagen sechs Quersprossen wie die Speichen eines randlosen Rades mit einer kleinen Nabe im Mittelpunkt. Doch dieses Rad ließ sich nicht drehen, da es in die Wand eingebettet war. Dann bemerkte er mit wachsender Erregung, daß an den Speichenenden tiefere Nischen lagen, deren Form es einer zupackenden Hand (einer Klaue, einem Tentakel?) leichtmachten zuzupacken. Wenn man sich so hinstellte, sich gegen die Wand preßte und so an der Speiche zog… Leicht und ohne Widerstand glitt das Rad aus der Wand hervor. Zu seinem größten Erstaunen — denn er war praktisch sicher gewesen, daß sämtliche beweglichen Teile vor ewigen Zeiten bereits vakuumversiegelt worden sein mußten — hielt Norton das Speichenrad fest. Er hätte der Kapitän eines alten Windjammers am Ruder seines Schiffes sein können. Er war froh darüber, daß die Sonnenblende seines Helms seinen Gesichtsausdruck vor Mercer verbarg. Norton war überrascht, aber auch wütend über sich selbst; vielleicht hatte er hier bereits den ersten Fehler begangen. Schrillten schon die Alarmsirenen im Inneren Ramas, hatte sein unbedachtes Tun bereits einen unerbittlichen Mechanismus ausgelöst? Doch die Endeavour meldete keine Veränderungen: ihre Detektoren fingen noch immer nichts außer einem schwachen thermischen Knistern und den eigenen Bewegungen auf. „Nun, Skipper, werden Sie dran drehen?“ Norton dachte an seine Instruktionen. „Handeln Sie nach Gutdünken, aber seien Sie vorsichtig.“ Wenn er jeden einzelnen Schritt mit der Kontrollstation absprechen müßte, würde er nie etwas erreichen. „Wie lautet Ihre Diagnose, Karl?“ fragte er Mercer. „Handelt sich offenbar um die manuelle Kontrolle einer Luftschleuse — vielleicht um ein Nothilfssystem für den Fall von Energieausfall. Ich kann mir keine Technologie vorstellen, wie fortschrittlich sie auch ist, die nicht derartige Vorsichtsmaßregeln treffen würde.“ Und es müßte gefahrlos funktionieren, dachte Norton. Es könnte nur bedient werden, wenn keinerlei Gefahr für das System bestand… Er packte zwei gegenüberliegende Speichen des Spills, stemmte die Füße gegen den Grund und probierte das Rad aus. Es bewegte sich nicht. „Helfen Sie mir“, bat er Mercer. Jeder ergriff eine Speiche. Aber auch unter Einsatz aller ihrer Kräfte brachten sie nicht die kleinste Bewegung zustande. Es gab natürlich nicht den geringsten Grund, warum sich auf Rama die Uhren und Korkenzieher in der gleichen Richtung wie auf der Erde bewegen sollten… „Versuchen wir’s andersrum“, schlug Mercer vor. Diesmal stießen sie auf keinen Widerstand. Das Rad drehte sich nahezu mühelos einmal ganz herum. Dann nahm es sehr geschmeidig das Gewicht auf. Einen halben Meter entfernt begann die gekrümmte Bunkerwand sich zu bewegen wie eine sich langsam öffnende Muschelschale. Ein paar Staubpartikel strömten mit der hervortretenden Luft wie glitzernde Diamanten nach außen in das helle Sonnenlicht. Der Zugang zu Rama lag offen vor ihnen. 6. KAPITEL DAS KOMITEE Dr. Bose dachte oftmals, daß es ein schwerer Fehler gewesen war, die United Planets Headquarters auf den Mond zu verlegen. Es war ganz unvermeidlich, daß die Erde dazu neigte, sich in den Verhandlungen eine Vorherrschaft zu sichern, genau wie sie die Landschaft draußen vor der Kuppel beherrschte. Wenn man schon hier bauen mußte, dann hätte man vielleicht besser auf die erdabgewandte Seite gehen sollen, wohin diese hypnotisierende Scheibe niemals ihre Strahlen schickte… Aber nun war es dafür natürlich viel zu spät, und überhaupt gab es ja auch keine wirkliche Alternative. Ob den Kolonien das nun paßte oder nicht, die Erde würde für die nächsten paar Jahrhunderte die kulturelle und wirtschaftliche Vorherrschaft im Sonnensystem ausüben. Dr. Bose war auf der Erde geboren und erst mit dreißig Jahren auf den Mars ausgewandert, deshalb glaubte er, die politische Situation ziemlich unparteiisch beurteilen zu können. Er wußte mittlerweile, daß er nie wieder auf seinen Heimatplaneten zurückkehren würde, auch wenn dieser per Pendelverkehr nur fünf Stunden entfernt lag. Er war zwar mit seinen hundertfünfzehn Jahren vollkommen gesund, doch konnte er das Rekonditionstraining zur Anpassung an eine dreimal so hohe Schwerkraft, als er sie den größten Teil seines Lebens gewohnt war, nicht mehr auf sich nehmen. Er war für immer aus der Welt, in der er geboren war, verbannt; aber da er nicht gerade zu Sentimentalitäten neigte, hatte ihn diese Vorstellung nie sonderlich deprimiert. Was ihn allerdings manchmal betroffen machte, war die Gewißheit, Jahr um Jahr dieselben vertrauten Gesichter um sich zu haben. Die wunderbaren Errungenschaften der Medizin waren ja schön und gut, und er wünschte sicherlich nicht, die Uhr zurückzudrehen — aber hier um diesen Konferenztisch saßen Männer, Männer, mit denen er seit mehr als einem halben Jahrhundert zusammenarbeitete. Er wußte stets ganz genau, was sie sagen und wie sie in jedem Einzelfall abstimmen würden. Er wünschte sich, daß einmal einer etwas vollkommen Unerwartetes, vielleicht sogar etwas ganz Verrücktes tun würde. Aber wahrscheinlich dachten sie genauso über ihn… Das Rama-Komitee war noch immer klein genug, um gut zu funktionieren, obwohl da sicher bald mit Problemen zu rechnen war. Seine sechs Kollegen — die Repräsentanten des Merkur, der Erde, des Mondes, Ganymeds, Titans und Tritons im UP — waren alle leibhaftig anwesend. Diplomatie per Elektronik war bei den enormen Entfernungen im Sonnensystem nicht möglich. Manche altgediente Staatsmänner, an die sofortigen Kommunikationsmöglichkeiten gewöhnt, die man auf der Erde seit langem für selbstverständlich hielt, hatten sich nie mit der Tatsache abfinden können, daß Radiowellen Minuten und sogar Stunden brauchten, die Abgründe zwischen den Planeten zu überwinden. „Könnt ihr Wissenschaftler denn da nicht was unternehmen?“ hatten sie sich bitterlich beschwert, wenn man ihnen erklärte, daß Video-Simultan-Gespräche zwischen der Erde und ihren ferneren Kindern unmöglich seien. Nur der Mond hatte diese (kaum akzeptable) Verzögerung von nur anderthalb Sekunden — mit allen jenen politischen und psychologischen Konsequenzen, die das mit sich brachte. Wegen dieser astronomischen Lebenstatsache würde der Mond — und nur er — immer ein Vorort der Erde bleiben. Persönlich anwesend waren gleichfalls drei von den Spezialisten, die zusätzlich in das Komitee gewählt worden waren. Professor Davidson, der Astronom, war ein alter Bekannter von Bose; er schien heute nicht ganz so leicht erzürnbar wie gewöhnlich. Dr. Bose wußte nichts von den internen Kämpfen, die dem Abschuß der ersten Rama-Sonde vorangegangen waren, aber den Professor hatten seine Kollegen dies nicht vergessen lassen. Dr. Thelma Price war ihm vertraut durch ihre zahlreichen Auftritte im Fernsehen, obgleich ihr Ruf bereits vor fünfzig Jahren erstmalig glanzvoll erstrahlt war, in jener Zeit der archäologischen Explosion, die nach der Austrocknung des großen Meeresmuseums — des Mittelmeers — aufgetreten war. Dr. Bose erinnerte sich noch gut an diese aufregende Periode, in der die verlorengegangenen Schätze der Griechen und Römer und eines Dutzends anderer Zivilisationen wieder ans Tageslicht gebracht wurden. Bei dieser Gelegenheit, einer der ganz wenigen, hatte er wirklich bedauert, daß er auf dem Mars lebte. Außerdem gehört der Exobiologe Carlisle Perera logischerweise dazu, ebenso wie Dennis Solomons, der Wissenschaftshistoriker. Etwas weniger glücklich war Dr. Bose über die Anwesenheit Conrad Taylors, des gefeierten Anthropologen, der seinen Ruf einzig und allein der geschickten Kombination von Wissenschaftlichkeit und Erotik in seiner Untersuchung über die Pubertätsriten in Beverly Hills im späten zwanzigsten Jahrhundert verdankte. Niemand jedoch hätte Sir Lewis Sands das Recht bestreiten wollen, im Komitee zu sitzen. Sir Lewis, dessen Wissen bestenfalls von seiner Höflichkeit übertroffen wurde, stand in dem Ruf, nur dann die Haltung zu verlieren, wenn man ihn den Arnold Toynbee seiner Zeit nannte. Der große Historiker war nicht persönlich anwesend. Er weigerte sich hartnäckig, die Erde zu verlassen, sogar angesichts einer derart entscheidenden Sitzung wie der bevorstehenden. Sein Stereo-Abbild war allerdings von der wirklichen Person nicht zu unterscheiden. So saß also Sir Lewis scheinbar rechts von Dr. Bose, und, wie um die Illusion vollkommen zu machen, hatte jemand ein Glas Wasser vor ihn gestellt. Dr. Bose war der Ansicht, daß ein derartiger technologischer Aufwand ein unnötiger Trick sei, doch war es erstaunlich, wie viele unbestreitbar große Männer ein beinahe kindliches Vergnügen daran hatten, an zwei Orten zugleich sein zu können. Zuweilen führten diese elektronischen Wunder zu komischen Katastrophen: Bose hatte einmal an einem diplomatischen Empfang teilgenommen, bei dem jemand versucht hatte, durch ein Stereogramm hindurchzugehen — und dabei zu spät entdeckt, daß es die wirkliche Person war. Noch komischer war es, wenn jemand einer Projektion die Hand schütteln wollte… Seine Exzellenz der Botschafter des Mars bei den United Planets rief Boses schweifende Gedanken zur Ordnung. Der Botschafter räusperte sich und begann: „Gentlemen, ich erkläre die Sitzung des Komitees für eröffnet. Ich glaube, ich darf wohl zu Recht behaupten, daß es sich um eine Versammlung von einzigartigen Köpfen handelt, einberufen, eine einzigartige Situation zu diskutieren. Die Anweisung des Generalsekretärs an uns geht dahin, die Lage abzuwägen und Commander Norton gegebenenfalls zu beraten.“ Dies war geradezu ein Meisterstück an Vereinfachung, und alle wußten es. Denn außer im Fall einer echten Notlage würde sich wahrscheinlich nie ein direkter Kontakt zwischen dem Komitee und Commander Norton ergeben — sofern dieser überhaupt jemals von seiner Existenz gehört hatte. Denn das Komitee war eine Interimseinrichtung der United Planets Science Organisation und berichtete durch seinen Direktor dem Generalsekretär. Sicher, die Raumüberwachung war eine Abteilung der UP — aber auf dem operationalen, nicht auf dem wissenschaftlichen Sektor. Theoretisch sollte dies eigentlich kaum einen Unterschied machen: es gab keinen Grund dafür, daß das Rama-Komitee — oder überhaupt jemand — Commander Norton nicht anrufen und ihm hilfreiche Ratschläge geben sollte. Aber Kommunikation im Weltraum ist teuer. Die Endeavour war nur durch PLANETCOM zu erreichen, eine unabhängige Organisation, die berühmt war für die peinliche Genauigkeit und Effizienz ihrer Abrechnung. Es dauerte lange, bis man mit PLANETCOM auf Kreditbasis arbeiten konnte. Irgendwie bemühte sich jemand darum, aber bislang hatten die unerbittlichen Computer von PLANETCOM die Existenz eines Rama-Komitees noch nicht zur Kenntnis genommen. „Dieser Commander Norton“, sagte Sir Robert Mackay, der Botschafter der Erde, „hat eine enorme Verantwortung. Was für ein Mensch ist er?“ „Darauf kann ich Ihnen Antwort geben“, erwiderte Professor Davidson, während seine Finger über die Tastatur seines Gedächtnisblocks flogen. Er runzelte angesichts der Unmenge an Info die Stirn und begann eine extempore Zusammenfassung zu geben. „William Tsien Norton, geboren 2077 in Brisbane, Ozeana. Erziehung Sydney, Bombay, Houston. Dann fünf Jahre in Astrograd mit Spezialausbildung in Antriebstechnik. Offizierspatent 2102. Aufstieg durch die normalen Ränge: Leutnant bei der Dritten Persephone-Expedition, zeichnete sich beim fünfzehnten Versuch, eine Station auf Venus zu errichten, aus… hm… hm…außergewöhnliche Leistungen… Doppelstaatsbürgerschaft, Erde und Mars… Frau und ein Kind in Brisbane, Frau und zwei in Port Lowell, Option auf Nr. drei…“ „Frau?“ fragte Taylor mit Unschuldsmiene. „Nein, Kind natürlich“, schoß der Professor zurück, bevor er das Grinsen auf dem Gesicht des anderen bemerkte. Ein leichtes Kichern lief um den Tisch, wenn auch die Delegierten der überbevölkerten Erde eher neidvoll als amüsiert lächelten. Nach hundertjähriger harter Anstrengung war es der Erde noch immer nicht gelungen, ihre Bevölkerung unter die Zielmarge von einer Milliarde zu verringern… „… zum Kommandierenden Offizier des Solar- Survey-Research-Schiffs Endeavour ernannt. Erster Flug zu den rückläufigen Jupitersatelliten… hm, das war riskant… auf Asteroidenmission, als Auftrag erging, sich auf dieses Unternehmen vorzubereiten… schaffte es, den Termin einzuhalten…“ Der Professor löschte das Monitorblatt und blickte seine Kollegen ringsum an. „Ich glaube, wir hatten enormes Glück, wenn man bedenkt, daß er der einzige war, der so kurzfristig zur Verfügung stand. Wir hätten ja auch einen typischen Durchschnittskommandanten kriegen können.“ Es klang, als meinte er die typische strammbeinige Plage der Raumfahrt: Pistole in der einen, den Dienstdolch in der anderen Hand. „Der Bericht beweist nur, daß er kompetent ist“, warf der Botschafter vom Merkur ein (Bevölkerungsziffer: 112500, aber steigende Tendenz). „Wie wird er sich in einer vollkommen neuen Situation wie dieser verhalten?“ Sir Lewis Sands (auf der Erde) räusperte sich. Anderthalb Sekunden später räusperte er sich auch auf dem Mond. „Nicht eine total neue Situation“, korrigierte er den Hermes-Merkurier. „Auch wenn es vor dreihundert Jahren zum letztenmal so war. Wenn Rama tot oder unbesetzt ist — und bisher deuten alle Fakten darauf hin —, dann befindet sich Norton in der Lage eines Archäologen, der die Ruinen einer erloschenen Kultur entdeckt.“ Er verneigte sich leicht vor Dr. Price, die zustimmend nickte. „Schliemann in Troja oder Mouhot in Angkor Wat sind die naheliegenden Beispiele. Die Gefahr ist minimal. Allerdings kann man Unfälle niemals vollkommen ausschließen.“ „Aber was ist es mit den Fallen und Fußangeln, von denen die Pandora-Leute geredet haben?“ fragte Dr. Price. „Pandora?“ fragte der Merkurbotschafter rasch. „Worum handelt es sich dabei?“ „Eine Bewegung von Verrückten und Narren “, erklärte Sir Robert, so peinlich berührt, wie ein Diplomat dies jemals zugeben würde. „Sie sind davon überzeugt, daß Rama eine mögliche ernste Gefahr darstellt. Eine Schachtel oder Büchse, die man besser nicht öffnen sollte, wissen Sie.“ Er bezweifelte, daß der Hermianer es wirklich wußte: auf Merkur wurde das Studium der Klassik nicht gerade gefördert. „Pandora — Paranoia“, knurrte Conrad Taylor. „Aber ja, natürlich, dergleichen ist durchaus denkbar. Aber warum sollte irgendeine intelligente Rasse kindische Tricks anzuwenden versuchen?“ „Nun, auch wenn wir solche unangenehmen Vorstellungen ausklammern“, fuhr Sir Robert fort, „bleibt noch immer die bei weitem bedrohlichere Möglichkeit, daß Rama aktiv und bewohnt ist. Dann handelt es sich um ein Aufeinandertreffen zweier Kulturen — von sehr unterschiedlichem technologischen Niveau. Wie Pizarro und die Inkas. Peary und die Japaner. Europa und Afrika. Und nahezu ausnahmslos waren die Folgen katastrophal — für einen oder beide Teile. Ich gebe hier keine Empfehlungen, ich weise nur auf Präzedenzfälle hin.“ „Danke, Sir Robert“, antwortete Dr. Bose. Es war ein bißchen unangenehm, dachte er, daß in solch einem kleinen Komitee gleich zwei ›Sirs‹ saßen; letzthin war das Adelsprädikat eine Ehrung, der nur wenige Engländer sich entziehen konnten. „Ich bin überzeugt, daß wir alle uns dieser alarmierenden Möglichkeiten bewußt sind. Aber wenn die Geschöpfe in Rama wirklich — hm — bösartig sein sollten, ist es dann nicht völlig egal, was wir unternehmen?“ „Sie könnten uns nicht zur Kenntnis nehmen, wenn wir uns entfernten.“ „Was? — Nachdem sie Milliarden Meilen und Tausende von Jahren unterwegs waren?“ Die Diskussion war in Schwung gekommen und brauchte nun keine Anregung mehr, sie setzte sich von allein fort. Dr. Bose lehnte sich in seinem Sessel zurück, äußerte recht wenig und wartete auf die sich herauskristallisierende Übereinstimmung. Es kam genauso, wie er vorausgesehen hatte. Alle hielten es schließlich für ganz undenkbar, daß Commander Norton, nachdem er einmal die erste Tür aufgestoßen hatte, nicht auch die zweite öffnen sollte. 7. KAPITEL DIE ZWEI FRAUEN Wenn meine zwei Frauen jemals meine Videogramme austauschen, dachte Commander Norton mehr amüsiert als besorgt, dann bekomme ich eine ganze Menge mehr zu tun. So, wie es jetzt war, konnte er ein langes Video entwerfen und einfach kopieren und nur kurze persönliche Nachrichten und Nettigkeiten hinzufügen, ehe er die nahezu identischen Fassungen zur Erde und zum Mars abfeuerte. Es war natürlich höchst unwahrscheinlich, daß seine zwei Gattinnen jemals etwas Derartiges tun würden; selbst bei den Ermäßigungen für die Familien von Raumfahrern würde dies teuer zu stehen kommen. Und es wäre im Grunde sinnlos, denn seine beiden Familien verstanden sich ausgezeichnet, man schickte einander die üblichen Geburtstags- und Festgrüße. Doch aufs Ganze gesehen war es vielleicht schon gut, daß die beiden Mädchen einander nie getroffen hatten und dies auch künftig nicht tun würden. Myrna war auf dem Mars geboren und konnte also die hohe Schwerkraft der Erde nicht vertragen. Und Caroline verabscheute sogar schon die nur fünfundzwanzig Minuten dauernde ›längste‹ Reise auf der Erde. „Tut mir leid, daß ich mich um einen Tag verspätet habe mit der Sendung“, sagte Norton, nachdem er mit den allgemeinen Vorreden zu Ende war, „aber ich war während der letzten dreißig Stunden nicht im Schiff, glaub es oder nicht… Mach dir keine Sorgen — alles ist unter Kontrolle, alles klappt ausgezeichnet. Wir haben zwei Tage gebraucht, aber jetzt haben wir uns fast ganz durch den Komplex der Luftschleuse durchgearbeitet. Wir hätten das in ein paar Stunden erledigen können, wenn wir gewußt hätten, was wir jetzt wissen. Aber wir sind kein Risiko eingegangen, haben ferngesteuerte Kameras vorangeschickt und alle Schleusen ein dutzendmal durchprobiert, um sicherzugehen, daß sie sich nicht schließen, nachdem wir durch waren… Jede Schleuse ist ein einfacher Drehzylinder mit Öffnungen an beiden Seiten. Man geht durch die eine, dreht den Zylinder um hundertachtzig Grad — die Öffnung paßt genau über eine weitere Tür, und man kann hinausgehen. Oder hinausfliegen, in diesem Fall. Die Rama-Leute haben wirklich nichts dem Zufall überlassen. Es gibt drei von diesen Zylinderschleusen, eine hinter der anderen innerhalb der Außenwand und genau unter dem Eingangsbunker. Ich kann mir nicht vorstellen, daß auch nur eine davon versagen könnte, es sei denn, man jagt sie mit Sprengstoff in die Luft, aber auch dann würde es eine zweite und eine dritte Sicherung geben… Und das ist erst der Anfang. Die letzte Schleuse führt in einen geraden Korridor von fast fünfhundert Metern Länge. Er wirkt sauber und ordentlich, wie übrigens alles, was wir bisher gesehen haben. Alle paar Meter gibt es kleine Luken, die vermutlich Lampen enthielten, aber jetzt ist alles vollkommen schwarz und ich scheue mich nicht, dir zu gestehen, etwas beängstigend. Außerdem ziehen sich zwei parallele Schlitze von etwa einem Zentimeter in den Wänden über die ganze Länge des Tunnels hin. Wir vermuten, daß in ihnen eine Art Pendelseilzug läuft und Material oder Personen hinund zurückbefördert. Es würde uns ganz schön viele Mühe ersparen, wenn wir es zum Funktionieren bringen könnten… Ich erwähnte, daß der Tunnel einen halben Kilometer lang ist. Aus unseren seismischen Tests wissen wir, daß das etwa die Stärke der Außenhülle ist, also sind wir anscheinend fast durch. Und wir waren keineswegs erstaunt, als wir am anderen Ende des Tunnels wieder so eine Luftschleuse vorfanden. Richtig, und eine zweite und dritte. Diese Leute haben anscheinend alles dreifach gemacht. Jetzt sind wir in der letzten Schleusenkammer und warten auf das Okay von der Erde, bevor wir weitergehen. Das Innere Ramas liegt nur ein paar kurze Meter von uns entfernt. Ich werde mich viel besser fühlen, wenn die Spannung vorbei ist. Du kennst doch Jerry Kirchoff, meinen Nachlaßverwalter, der so viele richtige Bücher besitzt, daß er nicht von der Erde emigrieren kann? Jerry also hat mir von einer Situation erzählt, die genau wie die unsere war, damals Anfang des einundzwanzigsten — nein, falsch, des zwanzigsten Jahrhunderts. Ein Archäologe entdeckte das Grab eines ägyptischen Königs, es war das einzige bisher, das nicht von Grabräubern geplündert worden war. Seine Arbeiter brauchten Monate, sich hinunterzugraben, Kammer um Kammer, bis sie endlich an die letzte Mauer stießen. Dann durchbrachen sie das Mauerwerk, und der Mann steckte eine Laterne und seinen Kopf hindurch. Und er sah ein ganzes Zimmer voller Schätze — unglaubliches Zeug, Gold und Juwelen… Vielleicht ist unser Ding auch ein Grab. Das kommt mir immer wahrscheinlicher vor. Wir haben bisher noch nicht das geringste Geräusch gehört, kein Anzeichen für irgendeine Bewegung. Nun, morgen dürften wir es genauer wissen.“ Commander Norton schaltet das Aufnahmegerät auf HALT. Was könnte ich denn noch über die Arbeiten sagen, fragte er sich, bevor ich die einzelnen persönlichen Sachen an meine Familien diktiere? Gewöhnlich berichtete er nicht so detailliert, aber diesmal waren die Umstände wohl kaum als normal zu bezeichnen. Es war möglicherweise das letzte Videogramm, das er seinen Lieben schicken würde; er war ihnen einige Erklärungen schuldig, was er vorhatte. Wenn sie diese Bilder sehen und seine Worte hören würden, würde er im Innern von Rama sein — so oder so. 8. KAPITEL DURCHGANG DURCH DIE NABE Niemals zuvor war sich Norton so sehr bewußt gewesen, wie verwandt er sich jenem lange verstorbenen Ägyptologen fühlte. Seit Howard Carpenter den ersten Blick in das Grab des Tutanch- amon warf, hatte wohl kaum ein Mensch etwas Gleichartiges erlebt. Und doch, der Vergleich war beinahe lächerlich. Tut-anch-amon war erst gestern begraben worden — noch nicht einmal viertausend Jahre früher; Rama dagegen konnte sehr wohl älter als die Menschheit sein. Dieses kleine Grab im Tal der Könige hätte in den Korridoren, die sie bereits durchschritten hatten, völlig übersehen werden können, und die Räume, die jenseits des letzten Verschlusses lagen, waren mindestens millionenfach größer. Und was die möglichen Schätze anging — das lag jenseits aller Vorstellungen. Über die Radioverbindung war schon seit mindestens fünf Minuten kein Wort mehr gekommen; das guttrainierte Team hatte noch nicht einmal mündlich berichtet, als alle Überprüfungen erledigt waren. Mercer hatte ihm nur einfach das Okay-Zeichen gegeben und ihn zu dem geöffneten Tunnel hingewinkt. Es war, als seien sich alle darüber im klaren, daß dies ein historischer Augenblick sei, den man nicht durch unnötiges Gerede banalisieren sollte. Das paßte Commander Norton ganz gut, denn in diesem Moment hatte auch er nichts, was er hätte sagen wollen. Er knipste seine Stablampe an, drehte an den Knöpfen seiner Jets und trieb langsam, gehalten von einer Sicherheitsschnur, den kurzen Korridor hinunter. Wenige Sekunden danach war er im Inneren Ramas. Im Inneren wovon? Vor ihm lag schwärzeste Finsternis, nicht der geringste Lichtschimmer kam als Reflex seiner Lampe zurück. Er hatte damit gerechnet, aber er hatte es eigentlich doch nicht geglaubt. Alle Berechnungen hatten ergeben, daß die gegenüberliegende Wand viele Kilometer entfernt sein müsse; jetzt sah er es mit eigenen Augen. Während er langsam in die Finsternis hineinschwebte, verspürte er plötzlich ein starkes Bedürfnis, sich der Verläßlichkeit seiner Sicherheitsleine zu vergewissern; er hatte diesen Wunsch noch nie so stark empfunden wie jetzt, selbst bei seiner allerersten EVA nicht. Und das war natürlich lächerlich: er hatte ohne Schwindelgefühl über Lichtjahre und Megaparsecs hinausgeschaut — warum sollte er sich von ein paar Kubikkilometern Leere beunruhigen lassen? Während er noch über sein Unbehagen nachgrübelte, bremste ihn der Anstriebsdämpfer am anderen Ende des Seils sacht ab und stoppte ihn mit einem kaum spürbaren Ruck. Er streifte mit seinem Lampenstrahl von dem Nichts vor ihm zurück auf seinen Ausgangspunkt. Er hätte über dem Mittelpunkt eines kleinen Kraters schweben können, der seinerseits ein Grübchen innerhalb eines weit größeren war. Zu beiden Seiten stieg ein Komplex von Terrassen und Rampen auf, die alle geometrisch äußerst präzise und also offenbar künstlich angelegt waren: sie erstreckten sich weiter, als sein Lichtstrahl reichte. Etwa hundert Meter entfernt sah er die Eingänge der beiden anderen Luftschleusensysteme, die haargenau dem seinen entsprachen. Und das war es. Die Szenerie war weder besonders exotisch noch irgendwie fremdartig: tatsächlich ähnelte sie in beträchtlichem Maße einem verlassenen Bergwerk. Norton empfand unbewußt eine gewisse Enttäuschung: nach allen seinen Bemühungen hätte eigentlich eine dramatische, ja transzendentale Offenbarung erfolgen müssen. Dann erinnerte er sich, daß er nur ein paar hundert Meter weit sehen konnte. Die Dunkelheit jenseits seines Sichtbereichs konnte ja immer noch Wunderbares bereithalten, mehr als ihm lieb sein mochte. Er stattete seinen besorgt und begierig wartenden Begleitern Bericht ab. Dann sagte er: „Ich schicke die Leuchtboje raus — zwei Minuten Verzögerung. Jetzt.“ Mit aller Kraft schleuderte er den kleinen Zylinder nach oben — oder nach außen — und zählte die Sekunden, während die Boje im Lichtstrahl kleiner wurde. Ehe er bei einer Viertelminute angelangt war, war sie außer Sicht; bei hundert zog er den Schutzschirm über die Augen und zielte mit der Kamera. Er war schon immer recht gut im Abschätzen von Zeiteinheiten gewesen; diesmal war er nur um zwei Sekunden zu schnell gewesen, als alles von plötzlicher Helligkeit erfüllt war. Und diesmal hatte er keinen Grund, enttäuscht zu sein. Selbst die Millionen Lichteinheiten der Leuchtkugel vermochten nicht die ganze riesige Höhlung zu erhellen, aber er konnte jetzt immerhin genug sehen, um eine Ahnung von der Struktur zu bekommen, die gigantischen Ausmaße zu bewundern. Er befand sich am Ende eines mindestens zehn Kilometer weiten und unbestimmt langen Zylinders. Von seinem Standort auf der Mittelachse konnte er auf den gekrümmten Wänden um ihn herum eine solche Fülle von Einzelheiten erkennen, daß sein Gehirn nur einen winzigen Bruchteil von ihnen aufzunehmen vermochte. Er sah im Licht eines einzigen Blitzes die Landschaft einer ganzen Welt vor sich und bemühte sich in bewußter Willensanspannung, dieses Bild in seinem Gehirn festzuhalten. Rings um ihn erhoben sich die terrassenförmigen Hänge des ›Kraters‹ und verschmolzen schließlich mit der festen Wand, die den ›Himmel‹ begrenzte. Nein — dieser Eindruck war unrichtig: er mußte sowohl seine irdischen als auch seine Raumvorstellungen fallenlassen und sich anhand eines völlig neuen Koordinatensystems umorientieren. Er stand nicht am niedrigsten Punkt dieser fremdartigen verkehrten Welt, sondern an ihrem höchsten. Von hier aus ging alles nach unten, nicht nach oben. Wenn er sich von der Mittelachse auf die gekrümmte Wand zubewegte (die er nicht länger als ›Wand‹ ansehen durfte), würde die Schwerkraft gleichmäßig anwachsen. Und wenn er die innere Seite der Zylinderhülle erreicht haben würde, könnte er auf ihr an jedem beliebigen Punkt aufrecht stehen: die Füße den Sternen zugewandt, den Kopf ins Innere der rotierenden Trommel. Es war ein nur zu bekanntes Prinzip: seit den Uranfängen der Raumfahrt hatte man die Fliehkraft dazu benutzt, künstlich eine Schwerkraft herzustellen. Es war allein das Ausmaß, in dem das Prinzip hier angewendet wurde, was so überwältigend war, so bestürzend. Die größte Raumstation, Syncsat Fünf, maß weniger als zweihundert Meter im Durchmesser. Es würde eine ganze Weile dauern, bis man sich an die hundertfache Vergrößerung gewöhnt haben würde. Der Landschaftstubus um ihn herum bestand aus Flecken von Licht und Schatten, die Wälder sein konnten, Felder, zugefrorene Seen oder Städte; die Entfernung und das schwindende Licht der Leuchtkugel machten eine eindeutige Bestimmung unmöglich. Schmale Linien konnten Autobahnen, Kanäle oder genau begradigte Flüsse sein, sie bildeten einen schwach erkennbaren geometrischen Raster. Und weit hinten, am Ende seines Sichtbereichs, zeigte sich im Mittelpunkt des Zylinders ein Band von noch größerer Schwärze. Es bildete einen exakten Kreis, einen Ring um das Innere dieser Welt. Norton fühlte sich plötzlich an den mythischen Okeanos erinnert, das Meer, das nach den Vorstellungen der Antike die Erde umgab. Hier handelte es sich möglicherweise um eine noch seltsamere See — nicht eine kreisförmige, sondern eine zylindrische. Gab es in ihr, ehe sie in der interstellaren Nacht gefror, Wellen, Gezeiten, Strömungen — und Fische? Die Leuchtkugel zuckte und erlosch, der Augenblick der Offenbarung war vorüber. Aber Norton wußte, daß diese Bilder bis an sein Lebensende in sein Gehirn eingebrannt sein würden. Welche Entdeckungen die Zukunft auch bringen mochte, diesen ersten Eindruck würden sie niemals löschen können. Und das historische Privileg, als erster Mensch einen Blick auf das Werk einer fremden Zivilisation geworfen zu haben, würde ihm niemand streitig machen können. 9. KAPITEL ERKUNDUNG „Wir haben jetzt fünf Leuchtkugeln mit Langzeitzündung die Zylinderachse entlanggeschickt und haben daher gutes Fotomaterial über die gesamte Länge. Alle wichtigen Merkmale sind kartographiert. Allerdings können wir nur recht wenige Details identifizieren, also haben wir ihnen vorläufige Namen zugeteilt. Die innere Höhlung ist fünfzig Kilometer lang und sechzehn Kilometer weit. Beide Enden laufen schüsselförmig aus und haben ziemlich komplizierte geometrische Werte. Unsere Seite haben wir Nördliche Hemisphäre getauft. Wir errichten unsere erste Basis hier, genau auf der Achse. Radial gehen von der zentralen Nabe im Winkel von hundertzwanzig Grad drei fast einen Kilometer lange Leitern aus. Sie enden jede an einer Terrasse oder einem ringförmigen Plateau, das um die ›Schüssel‹ herumläuft. Und von dort ausgehend führen drei riesige Treppenstrukturen in der gleichen Richtung wie die Leitern bis ganz in die Ebene hinunter. Wenn man sich einen Regenschirm mit nur drei Rippen vorstellt, bekommt man ein gutes Bild von diesem Ende von Rama. Jede dieser drei Rippen ist eine Treppe. An der Mittelachse ziemlich steil, dann flachen sie allmählich ab, je näher es auf die darunterliegende Ebene zugeht. Die Treppen — wir haben sie Alpha, Beta und Gamma genannt — sind nicht durchgängig, sondern von fünf weiteren kreisförmigen Terrassen unterbrochen. Wir schätzen, daß es zwischen zwanzig- und dreißigtausend Stufen sind… wir nehmen an, daß sie nur im Katastrophenfall benutzt wurden, denn es ist undenkbar, daß die Ramaner — oder wie immer wir sie bezeichnen werden — über keine bessere Methode verfügt haben sollten, die Achse ihrer Welt zu erreichen. Die Südliche Hemisphäre sieht ganz anders aus. Einmal hat sie keine Treppen und keine zentrale Nabe. Statt dessen gibt es dort einen gigantischen Stachel — kilometerhoch — genau auf der Achse und sechs kleinere Stachel im Umkreis. Die ganze Struktur sieht ziemlich merkwürdig aus, und wir wissen nicht, was sie bedeuten soll. Die fünfzig Kilometer lange Strecke zwischen den zwei Schüsseln haben wir Zentralebene genannt. Es mag ja verrückt erscheinen, wenn man das Wort Ebene auf etwas so eindeutig Nichtflaches anwendet, aber wir glauben, daß dies hier gerechtfertigt ist. Uns wird das nämlich flach erscheinen, wenn wir hinuntersteigen — genau wie das Innere einer Flasche einer Ameise als flach erscheinen muß, die in ihr herumkriecht. Das aufregendste Charakteristikum der Zentralebene ist das zehn Kilometer breite dunkle Band, das genau auf halbem Weg rundum läuft. Es sieht wie Eis aus, darum haben wir es ›Zylindrisches Meer‹ getauft. Direkt geradeaus in der Mitte liegt eine große ovale Insel, etwa zehn Kilometer lang, drei breit, auf der hohe Gebäude emporragen. Da sie uns an das alte Manhattan erinnert, haben wir sie ›New York‹ getauft. Ich glaube aber nicht, daß es sich um eine Stadt handelt, es wirkt eher wie eine riesige Fabrik oder chemische Produktionsanlagen. Aber es gibt ein paar Städte — oder doch wenigstens Kleinstädte. Wenigstens sechs. Wenn sie für menschliche Wesen errichtet worden wären, könnte jede davon mindestens fünfzigtausend Personen aufnehmen. Wir haben sie Rom, Peking, Paris, Moskau, London und Tokio genannt… Sie sind durch Fernstraßen und durch schienenähnliche Linien miteinander verbunden. In diesem erstarrten Weltleichnam liegt wohl Material für ein paar Jahrhunderte Forschungsarbeit. Wir müssen viertausend Quadratkilometer untersuchen und haben nur ein paar Wochen Zeit dafür. Ich frage mich, ob wir jemals die Antwort auf die zwei Rätsel erhalten werden, die mich beunruhigen, seit wir ins Innere vorgestoßen sind: wer waren diese Wesen — und was ist schiefgelaufen!“ Hier endete der Bericht. Auf der Erde und dem Mond lehnten sich die Mitglieder des Rama-Komitees entspannt in ihren Sesseln zurück. Dann begannen sie die vor ihnen ausgebreiteten Karten und Fotos zu untersuchen. Obwohl sie dies bereits seit ein paar Stunden taten, bot ihnen doch die Stimme von Commander Norton einen zusätzlichen Eindruck, den keift Foto zu geben vermochte. Er war wirklich dort gewesen, er hatte mit eigenen Augen über diese außerordentliche verkehrte Welt geschaut in jenen kurzen Augenblicken, da ihre äonenalte Nacht von den Leuchtsonden erhellt worden war. Und er war der Mann, der alle Expeditionen zur Erforschung dieser Welt leiten würde. „Dr. Perera, ich denke, Sie haben dazu ein paar kommentierende Anmerkungen zu machen?“ Botschafter Bose fragte sich einen Moment lang, ob er nicht zunächst Professor Davidson als dem Nestor unter den Wissenschaftlern und dem einzigen Astronomen das Wort hätte erteilen sollen. Doch dieser alte Kosmologe schien noch immer unter einem leichten Schock zu stehen und hatte sich offensichtlich noch nicht wieder gefangen. Während seiner ganzen wissenschaftlichen Laufbahn hatte Professor Davidson das Universum lediglich als Arena für die gigantischen unpersönlichen Kräfte der Schwerkraft, des Magnetismus, der Strahlung betrachtet. Niemals hatte er geglaubt, daß das Leben in der Anordnung der Dinge eine wesentliche Rolle spielte, und er hatte das Auftreten von Leben auf der Erde, dem Mars und dem Jupiter als eine nur zufällige Verirrung angesehen. Doch nun gab es den Beweis, daß Leben nicht nur außerhalb des Sonnensystems existiert, sondern sogar ein Niveau erreicht hatte, das weit über allem lag, was die Menschheit bislang erreicht hatte — oder in künftigen Jahrhunderten zu erreichen hoffen durfte. Mehr noch, die Entdeckung Ramas brachte ein weiteres Dogma Professor Olafs ins Wanken, eines, das er seit Jahren verfocht. Wenn man ihn bedrängte, pflegte er wohl widerstrebend einzugestehen, daß es möglicherweise auch in anderen Stellarsystemen Leben geben könne — doch sei es absurd anzunehmen, hatte er stets behauptet, daß dieses Leben jemals die interstellaren Abgründe zu überbrücken imstande sei… Vielleicht war ja genau dies den Ramanern mißlungen, wenn Commander Norton mit seiner Vermutung recht hatte, daß ihre Welt jetzt ein riesiges Grab sei. Aber sie hatten doch zumindest die Heldentat gewagt, und das mit einem Aufwand, der auf eine große Erfolgserwartung schließen ließ. Und wenn etwas Derartiges einmal geschehen war, dann mußte es ohne Zweifel in dieser Galaxie von hunderttausend Millionen von Sonnen öfter geschehen sein… und irgend jemand würde irgendwo einmal erfolgreich sein. Diese These hatte Dr. Carlisle Perera seit Jahren, ohne Beweismaterial zwar, aber mit einem beträchtlichen Aufwand an Gestikulation gepredigt. Jetzt war er sehr glücklich, wenn auch zugleich ziemlich frustriert. Rama hatte auf spektakuläre Weise seine Ansichten bestätigt — aber er selbst würde diese Welt niemals betreten oder sie auch nur mit eigenen Augen sehen können. Wenn plötzlich der Teufel aufgetaucht wäre und ihm die Fähigkeit der sofortigen Teleportation angeboten hätte, Perera hätte den Vertrag unterschrieben, ohne sich um das Kleingedruckte zu kümmern. „Jawohl, Exzellenz, ich glaube, daß ich einige interessante Informationen vorlegen könnte. Wir haben es hier zweifellos mit einer ›Raumarche‹ zu tun. In der astronautischen Literatur ist dies eine uralte Vorstellung. Es ist mir gelungen, sie bis auf den britischen Physiker J. D. Bernal zurückzuverfolgen, der bereits 1929 in einem Buch diese Methode interstellarer Kolonisierung vorschlug. Ja, vor über zweihundert Jahren. Und der große russische Pionier Tsiolkovski machte sogar noch früher fast die gleichen Vorschläge. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, von einem Sternsystem zu einem anderen zu kommen. Angenommen, die Lichtgeschwindigkeit ist ein absolutes Limit, und diese Frage ist immer noch nicht definitiv geklärt, was immer Sie auch an Gegenteiligem gehört haben mögen “ — von Professor Davidson kam ein entrüstetes Schnauben, aber kein artikulierter Einwand —, „dann kann man eine schnelle Reise in einem kleinen Fahrzeug oder eine langsame in einem riesigen Schiff machen. Es gibt keinen technischen Grund, warum Raumschiffe nicht bis zu neunzig Prozent oder sogar noch höher sich der Lichtgeschwindigkeit annähern könnten. Das würde eine Reisedauer von fünf bis zehn Jahren zwischen Nachbarsternen bedeuten, was vielleicht lästig, aber nicht undurchführbar ist, besonders für Lebewesen mit einer Lebensdauer von Jahrhunderten. Man kann sich Flüge von solcher Dauer in Schiffen vorstellen, die nicht viel größer als die unseren sein müßten. Doch möglicherweise werden solche Geschwindigkeiten durch vernünftige Nutzlast unmöglich; bedenken Sie, daß man Treibstoff für die Abbremsung am Ende der Reise mitführen muß, selbst wenn man nicht zurückkehren will. Also dürfte es vernünftiger sein, sich Zeit zu lassen: zehntausend, hunderttausend Jahre… Bernal und andere glaubten, dies werde durch mobile kleine Welten von einigen Kilometern Durchmesser ermöglicht, die Tausende von Passagieren auf einer Fahrt über einen Zeitraum von einigen Generationen befördern würden. Natürlich müßte es sich dabei um ein strikt geschlossenes System handeln, in dem alle Nahrung, Luft und andere Verbrauchsmaterie in den Kreislauf zurückgeführt würden. Aber auf genau die gleiche Weise funktioniert natürlich auch die Erde — in etwas größerer Dimension. Manche Schriftsteller schlugen vor, die Raumarchen in Form von konzentrischen Kugeln zu bauen; andere regten rotierende Hohlzylinder an, so daß die Fliehkraft als künstliche Schwerkraft wirken könne — genau, was wir in Rama gefunden haben…“ Professor Davidson konnte eine derartige Ungenauigkeit nicht durchgehen lassen. „Es gibt keine Fliehkraft. Das ist ein Technikerpopanz. Es gibt nur Trägheit der Masse.“ „Sie haben natürlich vollkommen recht“, gab Perera zu, „obwohl es ziemlich schwierig sein dürfte, jemanden davon zu überzeugen, der gerade von einem Karussell geschleudert worden ist. Aber mathematische Strenge scheint hier unnötig…“ „Hört, hört!“ warf Dr. Bose etwas verärgert ein. „Wir alle wissen, was Sie meinen, oder wir glauben, es zu wissen. Bitte zerstören Sie uns nicht unsere Illusionen.“ „Nun, ich wollte ja auch nur darauf hinweisen, daß theoretisch nichts an Rama neu ist. Die Ausmaße allerdings sind bestürzend. Aber die Menschheit hat sich dergleichen seit zweihundert Jahren ausgemalt. Nun jedoch möchte ich mich einer anderen Frage zuwenden, nämlich, wie lange genau Rama schon durch den Weltraum wandert? Wir besitzen jetzt eine sehr genaue Bestimmung seiner Umlaufbahn und seiner Geschwindigkeit. Angenommen, daß keine Navigationskorrekturen stattfanden, dann können wir seine Positionen Millionen Jahre zurückverfolgen. Wir rechneten damit, daß Rama aus der Richtung eines Sterns in unserer Nähe kommen müsse — doch ist das keineswegs der Fall. Es ist über zweihunderttausend Jahre her, seit Rama in der Nähe irgendeines Sterns vorbeikam, und der einzige, bei dem dies zutraf, entpuppte sich als irregulärer Variabler — so ziemlich die am wenigsten geeignete Sonne, die man sich für ein bewohntes Sonnensystem vorstellen könnte. Er hat eine Helligkeitsschwankung von mehr als fünfzig zu eins; Planeten würden in diesem System abwechselnd alle paar Jahre gekocht und eingefroren werden.“ „Ein Vorschlag“, warf Dr. Price ein. „Vielleicht erklärt das alles. Vielleicht war das einst eine normale Sonne und wurde dann instabil. Und darum mußten die Ramaner sich eine neue Sonne suchen.“ Dr. Perera hegte große Bewunderung für die Archäologin, deshalb behandelte er sie glimpflich. Aber er fragte sich, was sie sagen würde, wenn er sich aufmachte und ihr absolut Selbstverständliches auf ihrem Spezialgebiet zu erläutern versuchte… „Wir haben das erwogen“, sagte er freundlich. „Doch wenn unsere derzeitigen Theorien über die Stellarrevolution richtig sind, dann konnte dieser Stern niemals stabil gewesen sein — konnte niemals lebentragende Planeten gehabt haben. Also ist Rama seit mindestens zweihunderttausend Jahren unterwegs im All, vielleicht sogar länger als eine Million Jahre. Jetzt ist Rama kalt und dunkel und anscheinend tot, und ich glaube, ich weiß, warum. Es ist möglich, daß den Ramanern keine Wahl blieb — vielleicht flohen sie wirklich vor irgendeiner Katastrophe —, aber sie haben sich verkalkuliert. Kein geschlossenes ökologisches System kann hundertprozentig effizient sein; es gibt stets Verschwendung, Verluste — eine gewisse Verschlechterung der Umwelt und das Entstehen von Schadstoffen. Es kann Milliarden Jahre dauern, bis ein Planet vergiftet und abgenutzt ist — doch irgendwann wird es geschehen. Die Ozeane vertrocknen, die Atmosphäre sickert davon… Für unsere Begriffe ist Rama enorm groß — aber dennoch ist er nur ein sehr kleiner Planet. Nach meinen Berechnungen, die auf den Leckverlusten durch die Hülle und einigen vernünftigen Hypothesen über die Geschwindigkeit des biologischen Zyklus beruhen, ergibt sich, daß die Ökologie Ramas nur etwa einige tausend Jahre lang überdauern konnte. Äußerstenfalls gestehe ich zehntausend zu… Das würde angesichts der Fluggeschwindigkeit von Rama ausreichen, um zwischen den dicht beieinanderliegenden Sonnensystemen im Herzen der Galaxie herumzufliegen. Doch nicht hier außen zwischen den dünngestreuten Sternenpopulationen der Spiralarme. Rama ist ein Schiff, das seine Vorräte erschöpfte, ehe es sein Ziel erreicht hatte. Es ist ein Wrack, das zwischen den Sternen dahintreibt. Es gibt nur einen einzigen ernstzunehmenden Einwand gegen diese Theorie, und ich werfe ihn selbst in die Debatte, ehe es jemand anders tut. Ramas Flugbahn zielt so genau auf das Sonnensystem ab, daß ein Zufall ausgeschlossen erscheint. In der Tat möchte ich sagen, daß Rama jetzt viel genauer auf die Sonne zustürzt, als uns lieb sein kann; die Endeavour wird sich lange vor dem Perihelion abkoppeln müssen, um eine Überhitzung zu vermeiden. Ich behaupte nicht, daß ich verstehe, was dahintersteckt. Vielleicht funktioniert noch irgendeine Zielrichtungsautomatik und lenkt Rama zu dem nächsten brauchbaren Stern, Äonen nachdem seine Erbauer tot sind. Und sie sind tot; ich wette meinen Ruf darauf. Alle Proben, die wir aus dem Inneren genommen haben, sind absolut steril — wir haben nicht einen einzigen Mikroorganismus gefunden. Und was das Gerede vom künstlichen Scheintod betrifft, von dem Sie vielleicht gehört haben, so können Sie das getrost ignorieren. Es gibt fundamentale Gründe dafür, daß eine Hibernation nur über ein paar knappe Jahrhunderte funktioniert — und wir haben es hier mit tausendmal längeren Zeiträumen zu tun. Deshalb brauchen sich die Pandorianer und ihre Sympathisanten keinerlei Sorgen zu machen. Ich, für mein Teil, bedauere dies. Es wäre wundervoll gewesen, einer anderen intelligenten Spezies zu begegnen. Doch wenigstens konnten wir eine uralte Frage beantworten: wir sind nicht allein. Die Sterne werden für uns nie mehr dieselben sein.“ 10. KAPITEL ABSTIEG IN DIE FINSTERNIS Commander Norton fühlte eine große Versuchung in sich — doch als Kapitän hatte er zuallererst für sein Schiff zu sorgen. Wenn bei dieser ersten Sondierung irgend etwas Wichtiges schiefgehen sollte, würde er davonlaufen müssen. So blieb also sein Zweiter Offizier, Kommandeurleutnant Mercer, als Alternative übrig. Norton gab bereitwillig zu, daß Karl für die Mission auch geeigneter sei. Mercer war die Kapazität auf dem Gebiet der Lebenserhaltungssysteme und hatte darüber einige Standardwerke verfaßt. Er hatte persönlich unzählige Ausrüstungstypen — oft unter gefährlichsten Bedingungen — erprobt, und seine Bio-Rückkoppelungskontrolle war berühmt. Sekundenschnell konnte er seine Pulsfrequenz um fünfzig Prozent verringern und seine Atmung nahezu zehn Minuten lang auf fast Null reduzieren. Diese nützlichen kleinen Tricks hatten ihm mehr als einmal das Leben gerettet. Doch bei all seinen Fähigkeiten und seiner Intelligenz fehlte es ihm doch beinahe vollkommen an Fantasie. Für ihn waren die gefährlichsten Experimente oder Missionen einfach nur Jobs, die erledigt werden mußten. Er ging nie ein unnötiges Risiko ein, und von dem, was man gemeinhin als Tollkühnheit bezeichnet, hielt er überhaupt nichts. Zwei Motti auf seinem Schreibtisch demonstrierten die Quintessenz seiner Lebensphilosophie. Eine Notiz besagte: WAS HAST DU VERGESSEN? Die andere: TRAGE ZUR AUSROTTUNG DER TOLLKÜHNHEIT BEI! Die Tatsache, daß man ihn vielfach als den tapfersten Mann der ganzen Raumflotte betrachtete, war das einzige, was ihn je in Zorn versetzt hatte. Mit der Entscheidung für Mercer stand automatisch auch der nächste Mann fest: sein von ihm unzertrennlicher Gefährte Leutnant Joe Calvert. Man konnte nicht leicht begreifen, was die beiden verband: der zierliche, ziemlich empfindliche und reizbare Navigationsoffizier war zehn Jahre jünger als sein schwerfälliger, durch nichts aus der Ruhe zu bringender Freund, der Joes leidenschaftliches Interesse an der Kunst des primitiven Films durchaus nicht teilte. Aber keiner weiß, wo der Blitz einschlägt, und so hatten Mercer und Calvert vor Jahren eine allem Anschein nach dauerhafte Freundschaftsbindung aufgebaut. Dies war keineswegs außergewöhnlich; bei weitem ungewöhnlicher war jedoch, daß beide auch zu Hause auf der Erde eine gemeinsame Frau hatten, die jedem von ihnen ein Kind geboren hatte. Commander Norton hoffte, sie eines Tages kennenzulernen. Sie mußte eine sehr bemerkenswerte Frau sein. Das Dreiecksverhältnis dauerte nun schon mindestens fünf Jahre und schien immer noch störungsfrei zu funktionieren. Aber zwei Mann waren für einen Erkundungstrupp zuwenig; vor langer Zeit hatte man herausgefunden, daß drei Mann die optimale Besetzung waren — denn wenn einer verlorenging, dann konnten zwei Mann möglicherweise immer noch durchkommen, während ein einzelner Überlebender zum Tode verurteilt wäre. Nach sorgfältiger Überlegung wählte Norton den Technical Sergeant Willard Myron aus. Myron war ein mechanisches Genie. Er konnte alles zum Funktionieren bringen — oder auch etwas Besseres entwerfen, wenn das eine nicht funktionierte. Er war der ideale Mann, fremde Ausrüstungsgegenstände zu erkennen. Myron war für einen langen Forschungsurlaub von seiner normalen Aufgabe als außerordentlicher Professor am Astrotechnikum freigestellt worden, aber er hatte sich geweigert, ein Offizierspatent anzunehmen, weil er nicht die Beförderung verdienstvoller Berufsoffiziere blokkieren wollte. Niemand nahm diese Erklärung sonderlich ernst; man war vielmehr allgemein der Ansicht, daß Will nicht den mindesten Ehrgeiz besitze. Er würde es bis zum Raumsergeanten bringen, aber er würde niemals ordentlicher Professor werden. Myron, wie zahllose Offiziere ohne Patent vor ihm, hatte den idealen Kompromiß zwischen Macht und Verantwortung gefunden. Während sie durch die letzte Luftschleuse und längs der gewichtslosen Achse von Rama schwebten, fühlte Leutnant Calvert sich wie so oft mitten in einer filmischen Rückblende. Er fragte sich zuweilen, ob er nicht versuchen sollte, sich das abzugewöhnen, aber andererseits sah er keine Nachteile an dieser Sache. Damit konnte man sogar die langweiligsten Situationen interessant machen, und — wer konnte es wissen — vielleicht würde ihm diese Angewohnheit eines Tages das Leben retten. Er würde sich erinnern, was Fairbanks oder Connery oder Hiroshi in ähnlicher Lage getan hatten… Diesmal war er dabei, in einem der Kriege im frühen zwanzigsten Jahrhundert zum Sturm aus dem Schützengraben zu springen; Mercer war der Feldwebel, der eine Patrouille von drei Mann auf einem Nachtangriff ins Niemandsland anführte. Es fiel ihm nicht allzu schwer, sich vorzustellen, daß sie auf dem Boden eines gigantischen Bombentrichters stünden, allerdings eines Trichters, der irgendwie säuberlich zu einer Reihe ansteigender Terrassen zurechtgestutzt worden war. Der Krater war vom Licht der drei weit auseinanderliegenden Plasmabögen erhellt, wodurch sich das ganze Innere nahezu schattenlos ausleuchten ließ. Doch dahinter — jenseits der fernsten Terrasse — lagen Dunkelheit und Geheimnis. In seiner Fantasie wußte Calvert ganz genau, was dort lag. Zuerst kam die flache kreisförmige Ebene von über einem Kilometer Ausdehnung. Dann, wie breite Schienenstränge, die drei breiten Leitern, die die Ebene in drei gleich große Teile schnitten. Ihre Sprossen lagen vertieft, so daß sie kein Hindernis bildeten für hinuntergleitende Gegenstände. Da die Anordnung vollkommen symmetrisch war, bestand kein Grund, eine der Leitern zu bevorzugen; man hatte die der Luftschleuse Alpha am nächsten liegende nur der Bequemlichkeit halber gewählt. Die Leitersprossen lagen zwar unangenehm weit auseinander, aber ein Problem war es nicht. Selbst hier am Rand der Nabe, einen halben Kilometer von der Achse entfernt, betrug die Schwerkraft kaum ein Dreißigstel von der der Erde. Und obgleich sie beinahe hundert Kilogramm an Ausrüstung und lebenswichtigen Geräten mit sich trugen, würden sie sich trotzdem mühelos weiterhanteln können. Commander Norton und der Hilfstrupp begleiteten sie längs der Seilführungen, die man von der Luftschleuse Alpha bis zum Kraterrand gespannt hatte. Dann lag jenseits der Reichweite der Flutlichtstrahler die Dunkelheit Ramas vor ihnen. Alles, was sie in den tanzenden Strahlen der Helmlampen sehen konnten, waren die ersten paar hundert Meter der Leiter, die über die flache und sonst gestaltlose Ebene hin immer winziger wurde. Und jetzt, sagte Mercer zu sich, jetzt muß ich meine erste Entscheidung treffen. Steige ich die Leiter rauf oder runter? Dies war durchaus ein schwerwiegendes Problem. Sie befanden sich praktisch noch unter Null-Schwerkraft, und so konnte sich das Gehirn jedes beliebige Bezugssystem aussuchen. Durch einfache Willensanspannung konnte Mercer sich zu der Überzeugung bringen, daß er auf eine horizontale Fläche oder eine vertikale Wand hinauf oder über den Kamm einer steilen Klippe blicke. Nicht wenige Astronauten machten ernste psychische Störungen durch, wenn sie vor einer schwierigen Aufgabe das falsche Koordinatensystem wählten. Mercer war entschlossen, mit dem Kopf voran loszugehen, da jede andere Fortbewegungsweise umständlicher gewesen wäre; überdies konnte er so leichter sehen, was vor ihm lag. Auf den ersten paar hundert Metern würde er sich also vorstellen, daß er nach oben klettere; erst wenn der zunehmende Sog der Schwerkraft diese Illusion zerstörte, würde er seine geistige Orientierung um hundertachzig Grad verschieben. Er packte die erste Sprosse und zog sich sacht die Leiter entlang. Die Bewegung war so mühelos wie das Schwimmen im Meer — noch leichter sogar, weil es hier nicht den Rücksog des Wassers gab. Es war so leicht, daß man in Versuchung geraten konnte, zu schnell voranzugehen, doch Mercer hatte zuviel Erfahrung, als daß er in einer derartig neuen Situation etwas überstürzt hätte. Die Sprossen lagen gleichmäßig einen halben Meter auseinander, und während der ersten Phase seiner Kletteraktion übersprang Mercer jede zweite. Doch er zählte sie sorgfältig, und als er bei zweihundert angelangt war, begann er deutlich sein Gewicht zu spüren. Die Rotation von Rama begann sich bemerkbar zu machen. Bei Sprosse vierhundert schätzte er sein scheinbares Gewicht auf etwa fünf Kilo. Das war kein Problem, doch würde es jetzt ein bißchen schwieriger, sich einzureden, daß er aufwärts klettere, da er doch kräftig nach oben gezerrt wurde. Sprosse fünfhundert erschien ihm als ein geeigneter Platz für eine Ruhepause. Er spürte, daß seine Armmuskeln auf die ungewohnte Anstrengung reagierten, auch wenn jetzt Rama die ganze Arbeit tat und er sich nur zu lenken brauchte. „Alles okay, Skipper“, berichtete er. „Haben gerade die Hälfte hinter uns. Joe, Will? Irgendwelche Probleme?“ „Mir geht’s gut — warum hältst du an?“ antwortete Joe Calbert. „Hier gleichfalls alles okay“, setzte Sergeant Myron hinzu. „Aber paßt auf die Corioliskraft auf. Sie wird bald stärker werden.“ Das hatte Mercer auch schon bemerkt. Wenn er die Sprossen losließ, trieb er deutlich nach rechts ab. Er wußte selbstverständlich ganz genau, daß dies nur eine Folge der Umdrehung Ramas war, doch es wirkte, als schubste ihn eine geheimnisvolle Kraft sanft von der Leiter fort. Möglicherweise war nun der Zeitpunkt gekommen, mit den Füßen voran weiterzugehen, jetzt, da ›unten‹ allmählich wieder eine physische Bedeutung gewann. Er würde das Risiko einer kurzfristigen Desorientierung eingehen. „Achtung — ich dreh mich jetzt rum.“ Er klammerte sich an der Sprosse fest und drehte sich mit Hilfe seiner Arme um hundertachzig Grad herum. Die Lampen seiner Gefährten blendeten ihn einen Moment. Weit über ihnen — und nun war das wirklich über ihnen — konnte er ein schwaches Glimmen längs des steilen Klippenkamms erkennen. Als Silhouetten hoben sich davor die Gestalten Commander Nortons und des Rettungstrupps ab, die ihm angespannt zusahen. Sie wirkten winzig und sehr weit entfernt. Er winkte ihnen zuversichtlich zu. Er löste seinen Griff und ließ die noch immer schwache Pseudoschwerkraft Ramas wirken. Der Fall von einer Sprosse zur nächsten dauerte über zwei Sekunden; auf der Erde würde ein Mensch in der gleichen Zeit dreißig Meter gefallen sein. Die Fallgeschwindigkeit war so ärgerlich gering, daß er die Geschichte ein wenig beschleunigte, indem er mit den Händen nachschob und über ein Dutzend Sprossen auf einmal hinwegglitt. Er bremste sich jeweils mit den Füßen ab, wenn er das Gefühl bekam, zu schnell abwärts zu gleiten. Bei Sprosse siebenhundert machte er erneut halt und richtete den Strahl seiner Helmlampe nach unten. Wie er vorausberechnet hatte, befand sich der Fuß der Leiter nur noch fünfzig Meter unter ihm. Einige Minuten später waren sie bei der ersten Sprosse angelangt. Es war ein seltsames Gefühl, nach monatelangem Aufenthalt im Weltraum nun wieder aufrecht auf festem Grund zu stehen und den Boden gegen die Füße drücken zu fühlen. Ihr Gewicht betrug noch immer weniger als zehn Kilo, doch dies reichte aus, ihnen ein Gefühl der Stabilität zu vermitteln. Wenn Mercer die Augen schloß, konnte er glauben, daß unter ihm wieder einmal eine wirkliche Welt lag. Der Sims oder die Plattform, von der aus die Treppe hinabführte, war etwa zehn Meter breit und auf beiden Seiten gekrümmt, bis sie schließlich im Dunkel verschwand. Mercer wußte, daß sie einen vollkommenen Kreis bildete und daß er, wenn er fünf Kilometer auf ihr entlanggehen würde, wieder genau an seinem Ausgangspunkt anlangen würde, nachdem er Rama umkreist hatte. Angesichts der minimalen Schwerkraft an diesem Punkt war jedoch richtiges Gehen unmöglich; man konnte nur in riesigen Sätzen vorwärtskommen. Und dies barg Gefahren. Die Treppe, die sich in die Finsternis weit jenseits der Reichweite ihrer Lampen hinabschwang, würde trügerisch leicht hinunterzugehen sein. Aber es war lebenswichtig, daß man sich an den hohen Geländern zu beiden Seiten festhielt; ein zu kühner Schritt konnte einen unvorsichtigen Benutzer in weitem Bogen in den Raum hinausbefördern. Er würde einige hundert Meter weiter unten auf festen Grund gelangen; der Aufprall würde zwar harmlos sein, aber seine Folgen vielleicht nicht: denn die Rotation Ramas müßte die Treppe nach links abgedreht haben. Und darum würde ein fallender Körper auf der sanften Krümmung auftreffen, die in einer ungebrochenen Kurve zu der fast sieben Kilometer weiter unten liegenden Ebene hinabführte. Das würde eine verdammt heiße Schlittenfahrt sein, dachte Mercer; die Endgeschwindigkeit konnte selbst bei diesen Schwerkraftverhältnissen gut mehrere hundert Stundenkilometer betragen. Vielleicht war es ja möglich, durch genügend Reibung einen derartigen Absturz abzubremsen; wenn das möglich war, dann könnte dies sogar der bequemste Weg sein, die innere Oberfläche Ramas zu erreichen. Doch zunächst würde man zwangsläufig ein paar sehr vorsichtige Experimente anstellen müssen. „Skipper“, meldete sich Mercer, „keine Probleme beim Abstieg auf der Leiter. Wenn Sie zustimmen, würde ich gern zur nächsten Plattform weitergehen. Ich möchte unsere Abstiegszeit auf der Treppe messen.“ Norton antwortete sofort. „Machen Sie weiter.“ Aber es war nicht nötig, daß er hinzufügte: „Seid vorsichtig.“ Es dauerte nicht lange, da machte Mercer eine fundamentale Entdeckung. Es war unmöglich — zumindest bei dieser Schwerkraft von nur einem Zwanzigstel —, die Treppe auf normale Weise hinabzusteigen. Jeder diesbezügliche Versuch führte zu einer traumhaften slowmotion- Bewegung, die unerträglich ermüdend war; das einzige praktikable Verfahren bestand darin, die Stufen zu ignorieren und sich an den Handgeländern nach unten zu ziehen. Calvert war zu dem gleichen Resultat gekommen. „Diese Treppe ist gebaut, um nach oben, nicht nach unten zu kommen!“ rief er aus. „Man kann die Stufen benutzen, wenn man sich gegen die Schwerkraft bewegt, aber in unserer Richtung sind sie einfach eine Plage. Es sieht ja vielleicht nicht sehr würdevoll aus, aber ich glaube, das einfachste ist, auf dem Geländer runterzurutschen.“ „Das ist lächerlich“, protestierte Sergeant Myron. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Ramaner es so gemacht haben.“ „Ich bezweifle, daß sie diese Treppen jemals benutzt haben. Es sind offensichtlich Notausstiege. Sie müssen über irgendein mechanisches Transportmittel verfügt haben, hier heraufzukommen. Vielleicht eine Seilbahn. Das wäre eine Erklärung für die langen Schlitze, die von der Nabe herunterführen.“ „Ich habe immer gedacht, es handelt sich um Abflußgräben. Aber sie könnten ja beides sein. Ich möchte wissen, ob es hier je Regen gab?“ „Wahrscheinlich“, sagte Mercer. „Aber ich denke, Joe hat recht. Zum Teufel mit der Würde. Auf geht’s.“ Das Handgeländer — angenommen, es war für so etwas wie Hände geformt worden — war eine glatte flache Metallschiene auf weit auseinanderliegenden meterhohen Pfeilern. Commander Mercer setzte sich rittlings darauf, überprüfte vorsichtig, wieviel Bremskraft er mit den Händen ausüben konnte, und begann hinabzurutschen. Sehr gleichmäßig mit langsam wachsender Geschwindigkeit glitt er in das Dunkel hinunter, nur sein Helmscheinwerfer verbreitete einen Lichthof um ihn. Er war etwa fünfzig Meter vorangekommen, als er die beiden anderen aufforderte nachzukommen. Keiner gab es zu, aber sie fühlten sich alle drei wieder wie Lausejungs, die ein Treppengeländer hinunterrutschen. In weniger als zwei Minuten waren sie sicher und bequem einen ganzen Kilometer tief ›hinuntergestiegen‹. Wenn immer sie das Gefühl hatten, daß es zu schnell wurde, genügte ein fester Griff um das Geländer, und sie hatten genug Bremskraft. „Ich hoffe, es hat euch Spaß gemacht“, rief Commander Norton, als sie die zweite Plattform betraten. „Die Kletterei zurück wird nicht ganz so leicht sein.“ „Das möchte ich gern überprüfen“, antwortete Mercer, der gerade probehalber auf- und abging, um die erhöhte Schwerkraft zu testen. „Es ist hier bereits ein Zehntel G — man merkt wirklich den Unterschied.“ Er ging — oder, genauer, er glitt — an den Rand der Plattform und richtete seine Helmstrahler auf die nächstniedere Sektion der Treppe. Soweit sein Lichtstrahl reichte, schien es sich um die genaue Wiederholung der bereits über ihnen liegenden Treppe zu handeln — obgleich die sorgfältige Auswertung der Fotos gezeigt hatte, daß die Stufenhöhe mit wachsender Schwerkraft stetig abnahm. Die Treppe war offenbar so konstruiert, daß die zu ihrer Benutzung nötige Anstrengung an jedem Punkt ihrer langen geschwungenen Kurve in etwa konstant blieb. Mercer blinzelte zu der Nabe von Rama hinauf. Sie lag nun fast zwei Kilometer über ihm. Der schwache Lichtschimmer und die winzigen Schattengestalten davor wirkten erschrekkend weit entfernt. Zum erstenmal war er froh darüber, daß er diese gigantische Treppenkonstruktion nicht in ihrer gesamten Länge sehen konnte. Trotz seiner guten Nerven und seiner Fantasielosigkeit war er sich doch nicht sicher, wie er reagieren würde, wenn er sich wie ein Insekt vorkommen müßte, das auf der Oberfläche eines vertikalen Tellers von über sechzehn Kilometern Höhe herumkroch — wobei die obere Tellerhälfte über ihn herüberhing. Bisher hatte er sich über die Dunkelheit geärgert; in diesem Augenblick jedoch begrüßte er sie fast. „Keine Temperaturveränderung“, berichtete er Commander Norton. „Immer noch knapp unter Gefrierpunkt. Aber der Luftdruck ist gestiegen, wie wir erwartet haben: ungefähr dreihundert Millibar. Selbst bei diesem geringen Sauerstoffgehalt kann man fast darin atmen. Weiter unten wird es überhaupt keine Schwierigkeiten machen. Das wird uns die Exploration enorm erleichtern. Was für eine Entdeckung: die erste Welt, auf der wir uns ohne Sauerstoffgeräte bewegen können! Übrigens, ich werde da jetzt mal reinschnuppern.“ Auf der Nabe machte Commander Norton eine leicht beunruhigte Bewegung. Aber wenn überhaupt einer seiner Männer, dann wußte Mercer ganz genau, was er tat. Er hatte bestimmt genügend Tests vorgenommen, um sicherzugehen. Mercer nahm den Druckausgleich vor, legte den Sicherheitshebel an seinem Helm herum und öffnete diesen einen Spalt weit. Er atmete vorsichtig ein, dann nahm er einen tieferen Atemzug. Die Luft in Rama wirkte tot und muffig, als käme sie aus einem so uralten Grab, daß die letzten Spuren des körperlichen Zerfalls bereits vor Äonen verschwunden waren. Selbst die überempfindliche Nase Mercers, die in jahrelanger Erprobung von Lebenserhaltungssystemen bis zum Katastrophenpunkt und darüber hinaus geeicht war, konnte keinerlei feststellbare Gerüche entdecken. Es gab einen schwachen metallischen Beigeschmack, und Mercer erinnerte sich plötzlich daran, daß die ersten Menschen auf dem Mond von einem Hauch von verbranntem Schießpulver gesprochen hatten, als sie das Mondmodul wieder unter Druck gesetzt hatten. Mercer stellte sich vor, daß die von Mondstaub geschwängerte Raumkapsel der Eagle in etwa so wie Rama gerochen haben müsse. Er schloß seinen Helm wieder und entließ die fremde Luft aus seinen Lungen. Sie hatte ihm keine lebenswichtige Hilfe bringen können: selbst ein Bergsteiger, der dem Gipfel des Mount Everest akklimatisiert gewesen wäre, hätte hier sehr schnell sterben müssen. Doch ein paar Kilometer weiter unten würde die Sache völlig anders aussehen. Was gab es hier sonst noch zu tun? Ihm fiel nichts ein. Er genoß einfach die leichte ungewohnte Schwerkraft. Aber es hatte keinen Sinn, sich an sie zu gewöhnen, denn sie würden gleich in die Gewichtslosigkeit an der Nabe zurückkehren. „Wir kommen zurück, Skipper“, meldete er. „Kein Grund, noch weiter abzusteigen — bevor wir ganz runtergehen können.“ „Einverstanden. Wir werden eure Zeit stoppen, aber macht langsam.“ Während er die Stufen hinaufhüpfte, wobei er drei oder vier mit einem Satz nahm, mußte Mercer Calvert recht geben: diese Treppe war gebaut worden, um hinauf-, nicht hinabzusteigen. Solange man sich nicht umschaute und die schwindelerregende Steilheit der Krümmung ignorierte, war der Anstieg eine erfrischende Erfahrung. Nach etwa zweihundert Stufen begann er allerdings ein leichtes Zukken in seinen Wadenmuskeln zu verspüren und beschloß, langsamer weiterzumachen. Die anderen beiden taten es ihm nach. Als er einen raschen Blick über die Schulter zurückwarf, sah er, daß sie ein gutes Stück weiter unten am Hang waren. Der Aufstieg verlief gänzlich ereignislos — es war nur eine scheinbar endlose Abfolge von Stufen. Als sie erneut auf der obersten Plattform standen, direkt unter der Leiter, waren sie kaum außer Atem, und sie hatten knapp zehn Minuten gebraucht. Sie machten noch einmal zehn Minuten Pause, dann nahmen sie den letzten senkrechten Kilometer des Aufstiegs in Angriff. Springen, eine Sprosse packen — Springen- Packen-Springen-Packen… es war leicht, aber auch so anödend gleichförmig, daß die Gefahr bestand, leichtsinnig zu werden. Auf halbem Weg machten sie fünf Minuten Pause: inzwischen hatten außer den Beinen auch die Arme zu schmerzen begonnen. Wieder war Mercer froh darüber, daß sie so wenig von dieser senkrechten Oberfläche erkennen konnten, an der sie sich hocharbeiteten; so konnte man sich leicht einreden, daß die Leiter nur ein paar Meter über den erleuchteten Bereich hinausragte und bald zu Ende sein werde. Springen-Packen, Festhalten an der Sprosse, Springen — und dann war die Leiter ganz plötzlich wirklich zu Ende. Die ganze Exkursion hatte etwas weniger als eine Stunde gedauert, und jetzt waren sie wieder zurück in jener gewichtslosen Welt an der Rama-Achse und inmitten ihrer besorgten Freunde. Sie verspürten durchaus einen gewissen Stolz. Doch war es bei weitem noch zu früh für eine bequeme Selbstzufriedenheit. Trotz all ihrer Anstrengungen hatten sie erst weniger als ein Achtel des gesamten gigantischen Treppensystems hinter sich gebracht. 11. KAPITEL MÄNNER, FRAUEN UND MENSCHENAFFEN Schon vor langer Zeit war Commander Norton zu der Überzeugung gelangt, daß bestimmte Frauen nicht an Bord eines Raumschiffs geduldet werden dürften: die Schwerelosigkeit stellte mit ihren Brüsten Sachen an, die eine zu verteufelt starke Ablenkung bedeuteten. Es war schon schlimm genug, wenn sie sich nicht bewegten, aber wenn sie sich bewegten und die sympathischen Vibrationen begannen, dann war das mehr, als einem warmblütigen männlichen Wesen zuzumuten war. Für Norton stand außer Frage, daß zumindest ein schwerer Unfall im Raum durch akute Ablenkung der Besatzung verursacht worden war, nachdem ein wohlgepolsterter weiblicher Offizier durch die Kontrollkanzel gegangen war. Er hatte diese These einmal gegenüber der Stabsärztin-Commander Laura Ernst vertreten, ohne hinzuzufügen, wer ihn zu diesen besonderen Gedankengängen angeregt hatte. Das erübrigte sich auch: sie kannten einander viel zu gut. Vor Jahren hatten sie einmal in einem Moment beiderseitiger Einsamkeit und Depression miteinander geschlafen. Wahrscheinlich würden sie diese Erfahrung nie wiederholen (doch konnte man in diesem Punkt je völlig sicher sein?), da sich für beide inzwischen sehr viel verändert hatte. Doch wann immer die wohlgeformte Doktorin sich in die Kabine des Commanders schlängelte, verspürte er einen flüchtigen Nachhall vergangener Leidenschaft, und da sie das ganz genau wußte, war jedermann zufrieden. „Bill“, begann sie, „ich habe unsere Kletterer untersucht. Hier ist meine Beurteilung. Karl und John sind in guter Verfassung — alle Reaktionen normal, angesichts der Leistung, die sie hinter sich haben. Aber Will weist Anzeichen von Erschöpfung und Gewichtsstörung auf — ich gehe nicht ins Detail. Ich glaube, er hat nicht ausreichend trainiert, und er ist nicht der einzige, bei dem ich das vermute. In der Zentrifuge hat es Drückeberger gegeben; und wenn das so weitergeht, dann werden bald ein paar Köpfe rollen. Bitte veranlassen Sie das Nötige.“ „Jawohl, M’am. Aber es gibt eine Entschuldigung. Die Männer haben äußerst hart gearbeitet.“ „Sicher, mit dem Gehirn und den Fingern. Aber nicht mit dem Körper — sie haben keine echte Arbeitsleistung in Kilopond erbracht. Und damit werden wir es zu tun bekommen, wenn wir Rama erforschen.“ „Gut, können wir das?“ „Ja, wenn wir behutsam vorgehen. Karl und ich haben zusammen eine sehr vorsichtige Prognose erarbeitet — die auf der Annahme basiert, daß wir unterhalb von Absatz Zwei keine Atemgeräte mehr benötigen werden. Das ist natürlich ein unglaublicher Glücksfall und verändert das ganze logistische Bild. Ich kann mich noch immer nicht ganz an die Vorstellung gewöhnen, daß wir es hier mit einer Welt mit Sauerstoff zu tun haben… Also brauchen wir bei der Versorgung nur an Nahrung, Wasser und Thermoanzüge zu denken und können losziehen. Der Abstieg wird einfach sein; es sieht so aus, als könnten wir auf diesem sehr praktischen Geländer fast bis ganz hinunter schlittern.“ „Ich habe Chips beauftragt, einen Schlitten mit Fallschirmbremsung zu konstruieren. Selbst wenn wir ihn nicht mit der Mannschaft riskieren können, läßt er sich doch für Vorräte und Ausrüstung einsetzen.“ „Prima; damit müßten wir den Trip in zehn Minuten schaffen, während es sonst etwa eine Stunde dauern würde. Die Aufstiegszeit ist schwieriger abzuschätzen: ich würde gern sechs Stunden dafür ansetzen, einschließlich zwei Rastpausen von je einer Stunde. Später, wenn wir mehr Erfahrung haben — und ein paar Muskeln entwickelt haben —, können wir die Zeit möglicherweise beträchtlich verkürzen.“ „Wie steht’s mit den psychologischen Faktoren?“ „Schwer zu bestimmen bei einer so völlig neuen Umgebung. Die Dunkelheit ist vielleicht das größte Problem.“ „Ich werde auf der Nabe Suchscheinwerfer anbringen lassen. Dann hat jeder Trupp dort unten neben den eigenen Lampen auch beständig einen Strahl auf sich gerichtet.“ „Gut. Das dürfte eine große Hilfe sein.“ „Noch etwas: Sollten wir auf Nummer Sicher gehen und einen Trupp nur die Hälfte der Treppe hinunterschicken und dann zurückkehren lassen — oder sollten wir gleich beim ersten Versuch ganz runtergehen?“ „Wenn wir massig Zeit hätten, würde ich zur Vorsicht raten. Aber wir sind knapp mit Zeit, und ich kann eigentlich nichts Gefährliches darin sehen, daß wir ganz runtergehen — und uns umsehen, wenn wir dort sind.“ „Danke, Laura. Mehr brauche ich nicht zu wissen. Ich werde den Leitenden Offizier bitten, die Details auszuarbeiten. Und ich werde anordnen, daß alle Mann in die Zentrifuge trainieren gehen: täglich zwanzig Minuten bei einem halben G. Sind Sie damit zufrieden?“ „Nein. Unten in Rama herrschen 0,6 G, und ich möchte einen Sicherheitsspielraum haben. Setzen Sie dreiviertel an…“ „Aua!“ „… zehn Minuten lang…“ „Einverstanden…“ „… zweimal täglich.“ „Laura, Sie sind eine hartherzige, grausame Person. Aber in Ordnung. Ich werde die Neuigkeit direkt vor dem Abendessen verkünden. Das dürfte einigen den Appetit verderben.“ Es war das erstemal, daß Commander Norton bei Karl Mercer eine leichte Verlegenheit erlebte. Er hatte eine Viertelstunde in seiner gewohnten kompetenten Art die Versorgungsprobleme diskutiert. Irgend etwas schien ihn offensichtlich zu beunruhigen. Sein Kapitän hatte eine nicht unbegründete Vermutung, was dies sein könne, und wartete geduldig, bis Mercer mit der Sprache herausrückte. „Skipper“, begann Karl schließlich, „sind Sie sicher, daß es richtig ist, wenn Sie diesen Trupp anführen? Wenn irgendwas schiefgeht, dann bin ich doch bei weitem weniger wichtig. Und ich bin weiter nach Rama vorgedrungen als sonstwer — wenn’s auch nur fünfzig Meter waren.“ „Richtig. Aber es ist an der Zeit, daß der Kommandant seine Truppen anführt, und wir haben die Überzeugung gewonnen, daß das Risiko bei diesem Trip nicht größer sein wird als beim ersten. Beim ersten Anzeichen von Problemen werde ich die Treppen so schnell wieder oben sein, daß ich mich für die Mondolympiade qualifizieren könnte.“ Norton wartete auf weitere Einwände, doch es kamen keine, obwohl Karl noch immer unglücklich dreinschaute. Also erbarmte er sich und fügte freundlich hinzu: „Und ich wette, daß Joe mich bis oben abgehängt haben wird.“ Der schwere Mann entspannte sich, ein leichtes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Trotzdem, Bill, ich wünschte, Sie hätten sich jemand anderen ausgesucht.“ „Ich brauchte einen Mann, der schon mal unten war, und wir zwei können nicht beide gehen. Und was den Herrn Professor Doktor Sergeant Myron angeht, so sagt Laura, daß er noch immer zwei Kilo Übergewicht hat. Es hat nicht einmal was genützt, daß er sich seinen Schnurrbart abrasiert hat.“ „Wer ist Nummer drei?“ „Darüber habe ich noch nicht entschieden. Es hängt ganz von Laura ab.“ „Sie will selbst mitkommen.“ „Wer will das nicht? Aber wenn ihr Name auf ihrer Fitneßliste an erster Stelle stehen sollte, werde ich sehr argwöhnisch werden.“ Als Kapitänleutnant Mercer seine Papiere zusammenraffte und sich aus der Kabine katapultierte, verspürte Norton einen kurzen neidvollen Stich. Beinahe seine ganze Besatzung — ungefähr fünfundachtzig Prozent, nach seiner niedrigsten Schätzung — hatte sich emotional irgendwie arrangiert. Er kannte Raumschiffe, auf denen der Kapitän das gleiche getan hatte, aber bei ihm war das anders. Obgleich die Disziplin an Bord der Endeavour weitgehend von gegenseitigem Respekt hochqualifizierter und intelligenter Männer und Frauen getragen wurde, brauchte der Kommandeur doch ein bißchen mehr, um seine Position zu unterstreichen. Er trug eine einzigartige Verantwortung, die eine gewisse Distanz, selbst von seinen engsten Freunden, erforderte. Jede Liaison konnte schädlich für die Moral an Bord sein, denn es war nahezu unmöglich, den Verdacht der Begünstigung zu vermeiden. Aus diesem Grund auch waren Affären zwischen Raumfahrern mit mehr als zwei Rangstufen Unterschied äußerst unerwünscht; aber abgesehen davon galt als einzige Regel über das Sexualverhalten an Bord: „Solange sie es nicht in den Korridoren treiben und die ›Simps‹ erschrecken…“ An Bord der Endeavour befanden sich vier Superchimps, obgleich, wenn man es genau nahm, die Bezeichnung nicht ganz korrekt war, denn die nichtmenschliche Mannschaft des Schiffes entstammte nicht der Spezies der Schimpansen. Bei völliger Schwerelosigkeit hatte ein Greifschwanz enorme Vorteile, und alle genetischen Versuche, Menschen mit einem solchen zu versehen, hatten sich als peinliche Reinfälle erwiesen. Und nach gleichermaßen unbefriedigenden Ergebnissen bei den großen Menschenaffen hatte sich die Superchimpanzee Corporation dem Reich der geschwänzten Affen zugewendet. Blackie, Blondie, Goldie und Brownie verfügten über einen Stammbaum, dessen verschiedene Zweige die intelligentesten Affenspezies der Alten und der Neuen Welt umfaßten, nebst diversen synthetischen Genen, die in der Natur niemals aufgetreten waren. Ihre Aufzucht und Erziehung hatte wahrscheinlich ebensoviel gekostet wie die eines normalen Raumfahrers, aber sie waren es wert. Sie wogen alle nur dreißig Kilo, verbrauchten nur halb soviel Nahrung und Sauerstoff wie ein Mensch, aber jeder von ihnen konnte 2,75 Menschen ersetzen, wenn es um Hausarbeiten, simple Kochkünste, Werkzeugbeförderung und Dutzende anderer Routineaufgaben ging. Diese Angabe von 2,75 war eine Behauptung der Firma und stützte sich auf zahllose Zeit-Bewegung-Tests. Die Ziffer, wenn sie auch merkwürdig klang und häufig bestritten wurde, schien exakt zu sein, denn die Simps arbeiteten sehr bereitwillig täglich ihre fünfzehn Stunden und langweilten sich nicht einmal bei den niedrigsten und monotonsten Aufgaben. Also schafften sie den Menschen Freiraum für Arbeiten, die nur Menschen ausführen konnten; und in einem Raumschiff war dies für das Überleben von fundamentaler Wichtigkeit. Im Gegensatz zu den geschwänzten Affen, ihren nächsten Verwandten, waren die Simps auf der Endeavour gelehrig, gehorsam, anspruchslos und erfreulich wenig neugierig. Da sie aus einem Klon gezüchtet waren, waren sie auch geschlechtslos, wodurch peinliche Verhaltensprobleme vermieden wurden. Sie waren mit Sorgfalt zur Stubenreinheit erzogen worden, waren Vegetarier, äußerst sauber und ohne Körpergeruch: die vollkommenen Haustiere, falls sie erschwinglich gewesen wären. Trotz dieser Vorteile ergaben sich gewisse Probleme, wenn man Simps an Bord hatte. Sie benötigten ihr eigenes Quartier, das — unvermeidlich — ›der Affenstall‹ genannt wurde. Ihre kleine Messe war stets peinlich sauber; es gab dort einen guten Fernsehapparat, Spielgeräte und programmierte Lernmaschinen. Um Unfällen vorzubeugen, war es ihnen strikt verboten, die technischen Bereiche des Schiffs zu betreten; zu diesen Teilen des Schiffs waren alle Zugänge mit roten Farbkodes gekennzeichnet, und die Simps waren so konditioniert worden, daß es ihnen psychologisch unmöglich war, diese Sichtsperren zu überschreiten. Es gab außerdem ein Kommunikationsproblem. Obwohl die Simps in etwa einen Intelligenzquotienten von 60 besaßen und ein paar hundert englische Wörter verstehen konnten, waren sie sprechunfähig. Es hatte sich als unmöglich erwiesen, den anthropoiden wie den geschwänzten Affen funktionstüchtige Stimmbänder zu geben, weshalb sich die Simps durch eine Zeichensprache verständlich machen mußten. Die wichtigsten Zeichen waren offensichtlich und konnten leicht gelernt werden, so daß jedermann an Bord Routinenachrichten verstehen konnte. Doch der einzige Mensch, der geläufig Simpisch sprach, war ihr Pfleger, Chefsteward McAndrews. Es war ein alter Kalauer, daß Sergeant Ravi McAndrews auch so ziemlich wie ein Simp aussah — und das war kaum eine Beleidigung, denn mit ihrem kurzen farbigen Pelz und ihren graziösen Bewegungen waren die Simps wirklich sehr hübsche Tiere. Außerdem waren sie auch sehr zärtlichkeitsbedürftig, an Bord hatten alle ihren Liebling. Der von Commander Norton war der mit Recht ›Goldie‹ genannte Simp. Aber die freundschaftlich-warmen Beziehungen zu den Simps, die sich so leicht ergaben, schufen ein weiteres Problem, und dieses wurde häufig als Argument mit Nachdruck gegen ihren Einsatz im Weltraum verwendet. Da die Simps nur für Routineaufgaben trainiert werden konnten, waren sie im Notfall weniger als nutzlos; dann stellten sie sogar eine mögliche Gefahrenquelle für sich selbst und für ihre menschlichen Gefährten dar. Insbesondere hatte es sich als unmöglich herausgestellt, sie an Raumanzüge zu gewöhnen, die dabei mitspielenden Konzeptionen überstiegen bei weitem ihr Begriffsvermögen. Keiner redete gern darüber, aber alle wußten, was getan werden mußte, wenn die Bordwand ein Leck bekommen sollte oder wenn die Evakuierung des Schiffes angeordnet würde. Bisher war das nur einmal vorgekommen: damals hatte der Pfleger der Simps seine Order mehr als korrekt ausgeführt. Man fand ihn bei seinen Schützlingen, er hatte sich und sie mit dem gleichen Gift getötet. Daraufhin übertrug man dem Stabsarzt die Pflicht, die Euthanasie durchzuführen — der — wie man überzeugt war — weniger Gefühlsbindungen haben dürfte. Norton war wirklich dankbar, daß wenigstens diese Verantwortung nicht auf den Schultern des Kapitäns lastete. Er hatte in seinem Leben Menschen kennenlernen müssen, die zu töten ihm weit weniger Gewissensbisse bereitet hätte, als Goldie umbringen zu lassen. 12. KAPITEL DIE TREPPE DER GÖTTER In der klaren kalten Atmosphäre Ramas war der Strahl des Suchscheinwerfers vollkommen unsichtbar. Drei Kilometer unterhalb der Mittelnabe legte sich ein hundert Meter weites Lichtoval über einen Teil des kolossalen Treppenbaus. Eine leuchtende Oase in der Finsternis ringsum, glitt der Lichtschein langsam auf die gekrümmte Ebene fünf Kilometer tiefer hinab: in seinem Mittelpunkt krabbelten drei ameisenähnliche Wesen, die lange Schatten vor sich her warfen. Es war, genau wie sie gehofft und erwartet hatten, ein vollkommen ereignisloser Abstieg gewesen. Sie hatten kurz an der ersten Plattform haltgemacht, und Norton war den schmalen gekrümmten Sims ein paar hundert Meter weit entlanggegangen, ehe sie mit der Rutschpartie zur zweiten Plattform begannen. Hier hatten sie ihre Atemgeräte abgelegt und sich dem ungewohnten Luxus hingegeben, ohne mechanisches Hilfsgerät zu atmen. Jetzt konnten sie ganz bequem ihre Erkundungen vornehmen, da sie nicht länger der größten Gefahr ausgesetzt waren, der ein Mensch im Weltraum sich gegenübersehen konnte. Unbekümmert und ohne Sorge um die Unversehrtheit ihrer Raumanzüge und die Sauerstoffreserven konnten sie vorgehen. Als sie die fünfte Plattform erreicht hatten und nur noch ein Treppenabschnitt vor ihnen lag, hatte die Schwerkraft fast die Hälfte der Erdschwerkraft erreicht. Endlich übte die Rotation Ramas ihre wirkliche Kraft aus. Nun waren sie preisgegeben den unerbittlichen Kräften, die alle Planeten beherrschen und die für das kleinste Mißgeschick einen erbarmungslosen Tribut fordern können. Noch immer war es sehr leicht abzusteigen, aber die erschreckende Vorstellung der Rückkehr über diese Tausende von Stufen hinauf begann allmählich in den Köpfen der drei Männer zu lauern. Die Treppenkonstruktion war schon lange nicht mehr steil und abschüssig, sondern wurde immer flacher und verlief jetzt beinahe horizontal. Das Gefälle betrug nun nur noch etwa eins zu fünf, während es anfangs fünf zu eins betragen hatte. Eine normale Gangart war jetzt sowohl physisch als auch psychisch vertretbar, und nur die geringere Schwerkraft erinnerte die Männer daran, daß sie nicht irgendeine Riesentreppe auf der Erde hinabstiegen. Norton hatte einst die Ruinen eines Aztekentempels besucht, und die Eindrücke, die er damals gewonnen hatte, kehrten nun in seine Erinnerung zurück — nur waren die Dimensionen ins Riesenhafte vergrößert. Er hatte das gleiche ehrfürchtige Gefühl, vor einem Geheimnis zu stehen, vermischt mit der Trauer über eine unwiderruflich entschwundene Vergangenheit. Doch hier waren die Maßstäbe so viel größer, im Zeitlichen wie im Räumlichen, daß das Gehirn ihnen nicht gerecht werden konnte; nach einer Weile hörte es auf zu reagieren. Norton fragte sich, ob er irgendwann selbst Rama für selbstverständlich halten würde. In einem Punkt allerdings stimmte die Parallele zu den irdischen Ruinen überhaupt nicht. Rama war hundertmal älter als irgendein Bauwerk, das auf der Erde erhalten geblieben war — älter selbst als die Große Pyramide. Aber hier wirkte alles vollkommen neu; nichts deutete auf Abnutzung und Verfall hin. Norton hatte an dieser Tatsache ziemlich lange herumgerätselt und war schließlich auf eine halbwegs plausible Erklärung gestoßen. Alles, was sie bisher untersucht hatten, war Teil eines Katastrophen-Hilfssystems gewesen, und derartige Systeme werden nur sehr selten wirklich eingesetzt. Er konnte sich nicht vorstellen, daß die Ramaner — es sei denn, sie wären fanatische Verfechter der Körperertüchtigung gewesen, wie man sie auch auf der Erde nicht selten antraf — jemals diese unglaubliche Treppe oder die beiden anderen identischen hinauf- und hinabgestiegen waren, die das unsichtbare Y über ihm bildeten. Vielleicht wurden die Treppen nur während der Konstruktion Ramas benötigt und hatten seit jenem fernen Tag keinen Zweck mehr erfüllt. Diese Theorie mußte für den Augenblick genügen. Dennoch schien sie Norton irgendwie nicht richtig zu sein. Irgend etwas stimmte da offensichtlich nicht… Die letzten tausend Meter rutschten sie nicht mehr auf dem Geländer, sondern nahmen je zwei Stufen in langen gleitenden Sätzen; auf diese Weise wurden ihre Muskeln besser durchgearbeitet, so hatte Norton entschieden, und die Muskeln würden sie bald brauchen. Sie kamen fast überraschend am Ende der Treppe an; plötzlich waren da keine Stufen mehr — nur noch eine flache Ebene, die im jetzt schwächeren Licht des Suchscheinwerfers von der Nabe trübgrau wirkte, einem Licht, das ein paar hundert Meter vor ihnen von der Finsternis verschluckt wurde. Norton blickte den Lichtstrahl entlang zu seinem Ausgangspunkt an der Achse oben. Über acht Kilometer weit weg war das. Er wußte, daß Mercer sie durch ein Teleskop beobachtete, darum winkte er ihm freundlich zu. „Hier der Käptn“, meldete er sich über Funk. „Fühlen uns alle prima — keine Probleme. Gehen vor wie geplant.“ „Okay“, antwortete Mercer. „Wir werden euch zuschauen.“ Es folgte ein kurzes Schweigen, dann meldete sich eine Stimme: „Hier der Diensthabende an Bord. Also wirklich, Skipper, das langt nicht. Sie wissen doch, wie uns die Nachrichtendienste die ganze vergangene Woche belagert haben. Ich erwarte ja keine unsterbliche Prosa, aber können Sie nicht ein bißchen was Besseres liefern?“ „Ich will’s versuchen“, sagte Norton kichernd. „Aber vergeßt nicht, es gibt einfach noch nichts zu sehen. Es ist — also, wie wenn man auf einer riesigen dunklen Bühne mit nur einem Scheinwerfer steht. Die ersten paar hundert Stufen steigen aus dem Licht auf, bis sie oben im Dunkeln verschwinden. Was wir von der Ebene sehen können, wirkt vollkommen flach — die Krümmung ist zu gering, als daß man sie in diesem begrenzten Bereich erkennen könnte. Und das ist auch schon alles.“ „Könnten Sie uns ein paar Eindrücke geben?“ „Also, es ist immer noch ziemlich kalt — unter Null —, und wir sind dankbar für unsere Thermoanzüge. Und still ist es, natürlich. Stiller als alles, was mir jemals auf der Erde oder im Raum vorgekommen ist, denn da gibt es ja immer irgendwelche Hintergrundgeräusche. Hier wird jedes Geräusch aufgesogen, und der Raum um uns ist so riesig, daß es kein Echo gibt. Es ist unheimlich, aber ich hoffe, wir werden uns daran gewöhnen.“ „Danke, Skipper. Möchte sonst wer was sagen — Joe, Boris?“ Leutnant Joe Calvert war nie um Worte verlegen, und er war glücklich, sich nützlich zu machen. „Ich muß immer daran denken, daß dies das erstemal überhaupt ist, daß wir auf einer anderen Welt herumwandern und ihre natürliche Atmosphäre atmen können — allerdings glaube ich, daß ›natürlich‹ kaum der richtige Ausdruck für diesen Ort hier ist. Aber Rama muß der Welt seiner Konstrukteure ähnlich sein, das ist sicher; alle unsere Raumschiffe sind ja auch Erden en miniature. Zwei Beispiele sind statistisch zwar äußerst armselig, aber läßt dies unter Umständen darauf schließen, daß alle intelligenten Lebensformen Sauerstoffarmer sind? Was wir bisher von der Arbeit der Ramaner gesehen haben, weist darauf hin, daß sie humanoid waren, wenn auch möglicherweise um die Hälfte größer als wir. Wie ist’s, Boris, einverstanden?“ Nimmt Joe Boris auf den Arm? fragte Norton sich. Ich bin neugierig, wie der darauf reagiert… Boris Rodrigo war für alle seine Kameraden im Schiff ein kleines Rätsel. Der ruhige, würdevolle Kommunikationsoffizier war zwar bei der übrigen Besatzung beliebt, doch beteiligte er sich nie voll an ihrem Tun und wirkte immer ein wenig abgesondert — als folgte er seinem eigenen, andersartigen Rhythmus. Was er auch wirklich tat, da er ein gläubiges Mitglied der Fünften Kirche Christi Des Kosmonauten war. Norton hatte nie herausgefunden, was mit den früheren Vier Kirchen passiert war, und er tappte gleichfalls im dunkeln, was das Ritual und die Zeremonien dieser Kirche anging. Der fundamentale Lehrsatz ihres Glaubens allerdings war wohlbekannt: danach war Jesus Christus ein Besucher aus dem Weltraum, und auf dieser Annahme hatte man eine ganze Theologie aufgebaut. Es war deshalb auch kaum verwunderlich, daß ein ungewöhnlich hoher Prozentsatz der Anhänger dieser Denomination Funktionen in der Raumfahrt erfüllt. Die Gläubigen waren ausnahmslos kompetent, gewissenhaft und absolut zuverlässig. Sie genossen allgemein großen Respekt und waren sogar beliebt, besonders da sie nicht versuchten, andere zu bekehren. Aber sie hatten auch irgendwas leicht Gespenstisches an sich: Norton hatte nie verstanden, wie Menschen mit einer fortschrittlichen wissenschaftlichen und technischen Ausbildung tatsächlich an verschiedene der Dogmen glauben konnten, die die Fünften Christen als unumstößliche Tatsachen in seiner Gegenwart behauptet hatten. Während Norton auf die Antwort Leutnant Rodrigos auf die möglicherweise konfliktgeladene Frage Joes wartete, wurden ihm plötzlich seine eigenen verborgenen Motivationen klar. Er hatte Boris ausgewählt, weil er körperlich fit war, technisch qualifiziert und vollkommen zuverlässig. Gleichzeitig aber fragte er sich, ob nicht irgendein Bereich in seinem Verstand den Leutnant aufgrund einer bösartigen Neugierde für diesen Job ausgewählt haben könnte. Wie würde ein Mann mit derartigen religiösen Überzeugungen auf die furchtbare Wirklichkeit Ramas reagieren? Angenommen, er stieß auf etwas, das sein theologisches Gebäude über den Haufen warf… oder, natürlich auch, es untermauerte? Doch Boris Rodrigo wahrte seine übliche Zurückhaltung und ließ sich nicht provozieren. „Sie waren zweifellos Sauerstoffatmer, und sie sind möglicherweise humanoid gewesen. Aber warten wir doch ab und sehen wir’s uns an. Wenn wir ein bißchen Glück haben, müßten wir eigentlich rausfinden, wie sie waren. Vielleicht gibt es Bilder, Statuen — vielleicht sogar Körper in diesen Städten da drüben. Wenn es Städte sind.“ „Und die nächste ist bloß acht Kilometer weit weg“, sagte Joe Calvert hoffnungsvoll. Ja, dachte Norton, aber es sind auch acht Kilometer zurück — und dann kommt diese elende Treppe, die wir wieder hinaufklettern müssen. Können wir dieses Risiko eingehen? Ein kurzer Ausfall zu jener ›Stadt‹, die sie Paris getauft hatten, gehörte zu seinen ersten Berührungsplänen, und nun mußte er die Entscheidung treffen. Sie hatten überreichlich Nahrung und Wasser für einen vierundzwanzigstündigen Aufenthalt; sie würden außerdem von dem Rettungstrupp an der Nabe ständig überwacht werden, und auf dieser glatten, leicht gekrümmten Metallfläche schien jede Art von Unfall praktisch ausgeschlossen. Die einzige zu erwartende Gefahr war Erschöpfung; wenn sie in Paris angelangt waren, und das schien ja keine Schwierigkeit, würden sie dann mehr unternehmen können, als nur ein paar Fotos zu schießen und ein paar kleine Artefakte zu sammeln, bevor sie zurückkehren mußten? Doch selbst ein solch kurzer Beutezug würde sich lohnen. Die Zeit war so knapp, und Rama stürzte sonnenwärts auf ein Perihelion zu, das für die Endeavour viel zu gefährlich war. Wie auch immer, teilweise lag die Entscheidung gar nicht bei ihm allein. Droben im Schiff würde Dr. Ernst die Aufzeichnungen der biotelemetrischen Sensoren beobachten, die an seinem Körper angebracht waren. Und wenn sie negativ entschied, dann war die Sache eben gestorben. „Laura, was halten Sie davon?“ „Machen Sie dreißig Minuten Pause, und jeder nimmt eine Fünfhundert-Kalorien-Energiekapsel. Dann können Sie losgehen.“ „Danke, Frau Doktor“, warf Joe Calvert ein. „Jetzt kann ich befriedigt sterben. Ich habe schon immer mal Paris sehen wollen. Achtung, Montmartre, wir kommen!“ 13. KAPITEL DIE EBENE RAMAS Nach den endlosen Stufen war es ein merkwürdiges Vergnügen, wieder auf einer horizontalen Fläche zu gehen. Der Boden direkt vor ihnen war tatsächlich vollkommen flach; rechts und links konnte man die ansteigende Kurve im Flutlichtbereich gerade noch erkennen. Als ob sie auf dem Grund eines sehr breiten flachen Tales dahingingen; es war wirklich nahezu unmöglich zu glauben, daß sie an der Innenwand eines riesigen Zylinders entlangkrochen und daß jenseits dieser kleinen Lichtoase die Landschaft sich hob und an den Himmel stieß — nein, der Himmel wurde. Obgleich die drei Männer Zuversicht und eine Art verhaltener Erregung verspürten, begann die fast greifbare Stille Ramas nach einer Weile schwer auf ihnen zu lasten. Jeder Schritt, jedes Wort verschluckte die echolose Leere sofort. Sie waren kaum mehr als einen halben Kilometer marschiert, als Leutnant Calvert es nicht länger ertragen konnte. Eine seiner wenigen hervorstechenden Fähigkeiten war es, daß er pfeifen konnte, eine inzwischen selten gewordene Fähigkeit (obwohl manche Leute sie für noch nicht selten genug hielten). Gebeten oder ungebeten, war er in der Lage, die musikalischen Leitmotive der meisten Filme der letzten zweihundert Jahre wiederzugeben. Sinnigerweise begann er mit ›Heigh-ho, heigh-ho, ‘tis off to work we go‹, merkte jedoch bald, daß es ihm zu schwer fiel, die Baßnoten der Sieben Zwerge aus Disneys ›Schneewittchen‹ durchzuhalten, und wechselte rasch zum ›River-Kwai-Marsch‹. Dann ging er ein halbes Dutzend Filmepen mehr oder weniger chronologisch durch und setzte dem Ganzen schließlich mit dem Leitmotiv aus Sid Krassmans berühmtem Filmwerk aus dem späten zwanzigsten Jahrhundert mit dem Titel ›Napoleon‹ die Krone auf. Der Versuch war ehrenwert, blieb allerdings total erfolglos, sogar in dem Bemühen, die Moral zu heben. Was Rama verlangte, war die Großartigkeit Bachs oder Beethovens oder sogar eines Jean Sibelius oder Tuan Sun und nicht die Trivialität populärer Unterhaltungsmusik. Norton wollte Joe gerade vorschlagen, seine Lungen doch besser für die bevorstehenden Anstrengungen zu schonen, als der junge Offizier von selbst bemerkte, wie unangemessen seine Bemühungen waren. Danach marschierten sie — abgesehen von gelegentlichen Rückchecks mit dem Raumschiff — schweigend weiter. Rama war aus dieser Runde als Sieger hervorgegangen. Für diese erste Traverse hatte Norton einen Abstecher eingeplant. Paris lag direkt vor ihnen, halbwegs zwischen dem Fuß der Treppenkonstruktion und der Küste der Zylindrischen See, aber nur einen Kilometer zu ihrer Rechten lag eine ziemlich auffällige und rätselhafte Struktur, die sie das Gerade Tal getauft hatten. Es handelte sich um eine langgestreckte Rinne oder um einen Graben von vierzig Metern Tiefe und hundert Metern Breite mit sacht abfallenden Hängen; provisorisch hatte man es als Wassergraben oder Kanal definiert. Und wie die Treppenkonstruktion besaß auch dieser Kanal zwei identische Gegenstücke, die in gleichem Abstand die innere Krümmung von Rama entlangliefen. Die drei Täler waren jeweils fast zehn Kilometer lang und brachen kurz vor der Küste der Zylindrischen See abrupt ab. Und dies war merkwürdig, falls sie tatsächlich dazu bestimmt gewesen sein sollten, Wasser zu führen. Auf dem anderen Ufer der See wiederholte sich das gleiche Muster: drei weitere zehn Kilometer lange Gräben führten zu Ramas ›Südpol‹. Nach nur fünfzehn Minuten Marsch erreichten sie ohne Anstrengung das Gerade Tal, blieben eine Weile an seinem Rand stehen und blickten nachdenklich hinunter. Die vollkommen glatten Wände waren in einem Winkel von sechzig Grad geneigt; es gab weder Stufen noch Trittleitern. Der Grund des Kanals war von einem flachen Überzug eines weißen Stoffs bedeckt, der stark an Eis erinnerte. Eine Probe würde eine ganze Reihe von Streitfragen lösen, also entschloß Norton sich, eine zu bekommen. Calvert und Rodrigo übernahmen die Sicherung und reichten ihm das Sicherungsseil hinunter, und langsam stemmte sich Norton den steilen Hang hinab. Als er den Grund erreichte, rechnete er fest damit, das vertraute Gefühl von glattem Eis unter den Füßen zu verspüren, aber er hatte sich getäuscht. Die Reibung war groß, seine Füße fanden sicheren Halt. Dieses Material hier war eine Art Glas oder durchsichtiger Kristall. Wenn er es mit den Fingerspitzen berührte, wirkte es kalt und hart. Norton wendete dem Suchscheinwerfer den Rücken zu, schirmte seine Augen ab gegen die Reflexion und versuchte in die kristallischen Tiefen wie in die Eisschicht eines gefrorenen Sees zu schauen. Doch er konnte nichts erkennen: auch der gebündelte Strahl seiner Helmlampe brachte nicht mehr. Das Material war zwar lichtdurchlässig, aber nicht transparent. Wenn es sich um eine gefrorene Flüssigkeit handelte, dann mußte ihr Schmelzpunkt höher als der von Wasser sein. Er klopfte mit dem Hammer aus seinem Geologiepack sacht auf den Stoff: das Werkzeug prallte mit einem dumpfen klanglosen ›Klonk‹ zurück. Er klopfte stärker; ohne Ergebnis. Gerade wollte er mit aller Kraft zuschlagen, als ein undeutliches Gefühl ihn zurückhielt. Es schien äußerst unwahrscheinlich, daß er diesen Stoff zerbrechen konnte. Was aber, wenn es ihm gelang? Er würde ein Vandale sein, der ein riesiges Glasfenster zertrümmerte. Später würden sich bessere Gelegenheiten bieten, und immerhin hatte er ja schon einige wertvolle Informationen gesammelt. Es war nach seinen Erfahrungen jetzt noch unwahrscheinlicher als zuvor, daß es sich bei diesem Gebilde um einen Kanal handelte; es war einfach ein merkwürdiger Graben, der irgendwo abrupt anfing und aufhörte, der jedoch nirgendwohin führte. Und wenn er zu irgendeiner Zeit Flüssigkeit geführt hatte, wo waren dann die Spuren, die Verkrustungen der Austrocknungssedimente? Alles war hell und sauber, als hätten es die Konstrukteure gestern zurückgelassen… Wieder einmal sah er sich direkt dem entscheidenden Geheimnis Ramas gegenüber, und diesmal gelang es ihm nicht, dem auszuweichen. Commander Norton war ein verhältnismäßig fantasievoller Mensch, aber er wäre niemals auf seinem derzeitigen Posten gelandet, wenn er eine Neigung zu verrückten Einbildungen gehabt hätte. Doch jetzt machte er zum erstenmal in seinem Leben die Erfahrung — nicht eigentlich eines bedrohlichen Vorgefühls, sondern der Vorwegnahme. Die Dinge waren nicht wirklich, was sie zu sein schienen; an diesem Ort, der gleichzeitig völlig neu und Millionen Jahre alt wirkte, war irgend etwas sehr, sehr merkwürdig. Tief in Gedanken begann er das kleine Tal hinabzugehen, während seine Gefährten ihm oben auf der Böschung mit dem Seil, das um seinen Leib gelegt war, folgten. Er rechnete nicht mit weiteren Entdeckungen, doch er wollte seiner seltsamen Gefühlsaufwallung Zeit geben, sich von selbst zu legen. Denn da war noch etwas, das ihn beunruhigte, und das hatte nichts mit der unerklärlichen Neuheit Ramas zu tun. Er war kaum ein Dutzend Schritte gegangen, als es ihm blitzartig klarwurde. Er kannte diesen Ort. Er war früher schon einmal hier gewesen. Selbst auf der Erde oder auf einem vertrauten Planeten ist ein Déjà-vu- Erlebnis beunruhigend, wenn es auch nicht gerade selten auftritt. Die meisten Menschen sind ihm irgendwann einmal begegnet, und gewöhnlich tun sie es als die Erinnerung an ein vergessenes Foto ab, als einen reinen Zufall oder — wenn sie zur Mystik neigen — als eine Art telepathischer Botschaft von einem anderen Gehirn oder sogar als eine Rückblende aus der eigenen Zukunft. Aber einen Fleck wiederzuerkennen, den zweifellos kein anderes menschliches Wesen je zuvor gesehen haben konnte — das war schon ziemlich beunruhigend. Mehrere Sekunden lang stand Commander Norton unbeweglich auf der Kristallfläche und versuchte, den Wust seiner Gefühle zu ordnen. Sein wohlgefügtes Weltbild hatte sich verkehrt, und er erhaschte einen schwindelerregenden Blick auf jene Geheimnisse am Rande der Existenz, die er während eines Großteils seines Lebens so erfolgreich ignoriert hatte. Dann kam ihm zu seiner enormen Erleichterung der gesunde Menschenverstand zu Hilfe… Das beunruhigende Déjà-vu-Gefühl wurde schwächer und machte einer tatsächlichen und genau identifizierbaren Erinnerung aus seiner Jugend Platz. Ja, es stimmte: er hatte einstmals zwischen derartig steil herabfallenden Wänden gestanden und war ihnen mit den Blicken gefolgt, wie sie in einer fast unendlich weiten Ferne in einem Punkt verschmolzen. Aber damals waren sie mit sorgfältig geschnittenem Rasen bewachsen, und zu seinen Füßen war Schotter, nicht glatter Kristall gewesen. Das war vor dreißig Jahren passiert, als er die Sommerferien in England verbrachte. Hauptsächlich wegen einer Studienkollegin (er sah ihr Gesicht noch vor sich — doch ihren Namen hatte er vergessen) hatte er einen Kursus in Industrie- Archäologie belegt, wie sie damals bei den Studenten wissenschaftlicher und technologischer Fächer so beliebt waren. Sie hatten stillgelegte Kohlengruben und Baumwollspinnereien erforscht, waren über verrottete Hochöfen und Dampfkessel geklettert, hatten voller Unglauben die primitiven (und immer noch gefährlichen) Atomreaktoren begafft und unbezahlbare antike Turbovehikel über restaurierte Autobahnen gefahren. Nicht alles, was sie zu sehen bekamen, war echt: im Lauf der Jahrhunderte war vieles verlorengegangen, da die Menschheit sich höchst selten bemüht, die Gebrauchsgegenstände des Alltagslebens zu erhalten. Aber wo es nötig gewesen war, Kopien herzustellen, war die Rekonstruktion mit liebevoller Sorgfalt ausgeführt worden. Und so war damals der junge Bill Norton mit lächerlichen hundert Stundenkilometern dahingerollt und hatte wie wild teure Kohle in das Feuerloch einer Lokomotive geschaufelt, die aussah, als wäre sie zweihundert Jahre alt, aber in Wirklichkeit jünger war als er selbst. Die Strecke von dreißig Kilometern auf den Schienen der Great Western Railway dagegen war vollkommen echt, auch wenn ziemlich harte archäologische Arbeit nötig war, sie wieder funktionsfähig zu machen. Mit gellendem Pfeifsignal waren sie in ein Tal eingebogen und durch eine rauchige flammenerhellte Finsternis ›gerast‹. Eine erstaunlich lange Zeit später brachen sie aus dem Tunnel in einen tiefen, vollkommen geraden Taleinschnitt mit steilen grasbedeckten Flanken hinaus, und dieser langvergessene visuelle Eindruck war nahezu völlig mit dem gegenwärtigen identisch. „Was ist los, Skipper?“ fragte Leutnant Rodrigo. „Haben Sie was gefunden?“ Norton zwang sich in die Gegenwart und in die Wirklichkeit zurück, und die Bedrückung, die er empfunden hatte, wich teilweise von ihm. Sicher — es gab hier Rätsel, aber vielleicht war das Geheimnis für menschliches Begriffsvermögen doch nicht undurchdringlich. Er hatte wieder eine wichtige Erfahrung gemacht, aber leider war es eine, die er anderen nicht so leicht mitteilen konnte. Doch er mußte unter allen Umständen verhindern, daß Rama ihn unterkriegte. Denn auf diesem Weg lag das Risiko des Mißlingens — möglicherweise sogar des Wahnsinns. „Nein“, gab er zurück, „hier unten ist nichts. Zieht mich wieder rauf. Wir stoßen jetzt direkt nach Paris vor.“ 14. KAPITEL STURMWARNUNG „Ich habe diese Sitzung des Komitees einberufen “, sagte Seine Exzellenz der Marsbotschafter bei den Vereinigten Planeten, „weil Dr. Perera uns etwas Wichtiges mitzuteilen hat. Er hat darauf bestanden, daß wir uns sofort mit Commander Norton in Verbindung setzen, und zwar über den Prioritätskanal, den wir, ich darf wohl sagen, nach Überwindung einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten endlich erhalten konnten. Dr. Pereras Ausführungen sind weitgehend technischer Natur, darum glaube ich, daß eine Zusammenfassung der gegenwärtigen Lage angebracht sein dürfte, ehe wir uns ihnen zuwenden. Frau Dr. Price hat diese Zusammenfassung vorbereitet. Ach ja, einige Mitglieder lassen sich entschuldigen. Sir Lewis Sands kann nicht unter uns weilen, da er den Vorsitz einer anderen Konferenz übernommen hat, und Dr. Taylor bittet, ihn zu entschuldigen.“ Über das Fehlen des letzteren war er ziemlich froh. Der Anthropologe hatte rasch jedes Interesse an Rama verloren, als sich herausstellte, daß es dort für ihn wenig zu tun geben würde. Wie viele andere war er bitter enttäuscht, daß diese wandernde kleine Welt sich als tot herausgestellt hatte; es würde demnach also keine Gelegenheit für ihn geben, sensationelle Bücher und Fernsehsendungen über die Rituale und Verhaltensweisen der Ramaner zu verfassen. Andere mochten Skelette und klassische Artefakte ausbuddeln, für Conrad Taylor war das uninteressant. Das einzige, was ihn blitzartig an den Konferenztisch zurückführen könnte, war die mögliche Entdeckung irgendwelcher sensationeller Kunstwerke, vergleichbar jenen berüchtigten Fresken von Pompeji oder Thera. Die Archäologin Thelma Price vertrat genau den gegenteiligen Standpunkt. Sie bevorzugte Ausgrabungen und Ruinen, die sie ungestört von herumwimmelnden Einwohnern leidenschaftslos untersuchen konnte. Der Boden des Mittelmeeres war dafür ideal gewesen — zumindest ehe die Städteplaner und Landschaftsarchitekten ihr in die Quere kamen. Und Rama wäre gleichfalls ideal gewesen, abgesehen von der höchst ärgerlichen Kleinigkeit, daß Rama eben hundert Millionen Kilometer entfernt war und sie niemals in der Lage sein würde, dort einen persönlichen Besuch abzustatten. „Wie Sie alle wissen“, begann sie, „hat Commander Norton eine Traverse von fast dreißig Kilometern Strecke durchgeführt, ohne auf irgendwelche Probleme zu stoßen. Er untersuchte den bizarren Graben, der auf Ihren Karten als Gerades Tal eingetragen ist. Seine Funktion ist uns noch unbekannt, doch muß er zweifellos von Wichtigkeit gewesen sein, da das Tal sich über die gesamte Länge von Rama erstreckt — mit Ausnahme einer Unterbrechung an der Zylindrischen See — und weil es zwei weitere identische Strukturen im Winkel von hundertzwanzig Grad auf der Peripherie dieser Welt gibt. Dann wendete sich der Explorationstrupp nach links — oder nach Osten, wenn wir die Nordpolkonzeption übernehmen —, bis sie Paris erreichten. Wie Sie auf diesem Foto erkennen können — es wurde von einer Telekamera an der Nabe gemacht —, handelt es sich um eine Ansammlung von mehreren hundert Häusern mit breiten Straßen dazwischen. Aber diese Fotos hier wurden vom Trupp Commander Nortons geschossen, als sie dort ankamen. Wenn Paris eine Stadt ist, dann zumindest eine sehr sonderbare. Beachten Sie, daß keines der Gebäude Fenster hat, ja nicht einmal Türen! Alle sind schmucklose, rechtwinkelige Strukturen von einheitlich fünfunddreißig Metern Höhe. Und es hat den Anschein, als wären sie aus dem Boden getrieben — es gibt keine Naht — keine Verbindungsstellen… Sehen Sie sich diese Nahaufnahme der Basis einer Wand an: sie geht glatt in den Grund über. Mein Eindruck ist, daß es sich bei diesem Ort nicht um ein Wohngebiet, sondern um ein Lager- oder Vorratsdepot handelt. Sehen Sie sich zur Bekräftigung meiner Theorie dieses Foto hier an… Diese etwa fünf Zentimeter schmalen Schlitze oder Kerben finden sich längs aller Straßen, und zu jedem Haus führt eine davon — und verschwindet direkt in der Wand. Die Ähnlichkeit mit den Trambahnschienen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts ist verblüffend; offensichtlich gehören sie zu irgendeinem Transportsystem. Wir haben nie in Erwägung gezogen, öffentliche Transportwege direkt bis an jedes Haus zu führen. Das wäre eine wirtschaftliche Absurdität — denn Menschen können immer ein paar hundert Meter weit laufen. Aber wenn diese Gebäude zur Lagerung schwerer Stoffe verwendet wurden, wäre dies schon sinnvoll.“ „Darf ich eine Zwischenfrage stellen?“ fragte der Botschafter der Erde. „Gewiß doch, Sir Robert.“ „Commander Norton konnte in kein einziges Gebäude eindringen?“ „Nein. Und wenn Sie seinen Bericht hören, dann wissen Sie, wie frustriert er war. Zunächst war er überzeugt, daß die Bauten nur unterirdisch zu betreten waren; dann entdeckte er die Gleise des Transportsystems und änderte seine Meinung.“ „Versuchte er mit Gewalt einzudringen?“ „Ohne Sprengstoff und schweres Werkzeug gab es dafür keine Möglichkeit. Und er tut es nur ungern, solange nicht alle anderen Versuche fehlgeschlagen sind.“ „Ich hab’s!“ Der Einwurf von Dennis Solomons kam plötzlich. „Kokons!“ „Was bitte?“ „Das ist eine Technik, die vor ein paar hundert Jahren entwickelt wurde“, fuhr der Wissenschaftshistoriker fort. „Ein anderes Wort dafür ist ›einmotten‹. Wenn man etwas konservieren will, versiegelt man es in einem Überzug aus Plastik und pumpt es dann mit nichtexplosivem Gas voll. Ursprünglich wurde diese Methode angewendet, um militärische Ausrüstung von einem Krieg zum anderen zu schützen; einmal wurde es für ganze Schiffe benutzt. Man bedient sich dieser Methode noch häufig in Museen, die zuwenig Lagerraum haben; kein Mensch weiß, was in einigen der hundertjährigen Kokons im Keller des Smithsonian Museums steckt.“ Geduld gehört nicht eben zu den Tugenden von Carlisle Perera; es drängt ihn förmlich, seine Bombe zum Platzen zu bringen. Er konnte einfach nicht länger warten. „Bitte, Exzellenz! Das ist ja alles sehr interessant, doch ich glaube, daß meine Mitteilung von etwas größerer Dringlichkeit ist!“ „Wenn keine weiteren Argumente vorgebracht werden — also gut, Dr. Perera.“ Für den Exobiologen war Rama, ganz im Gegensatz zu Conrad Taylor, keineswegs eine Enttäuschung. Sicher, er rechnete nicht mehr damit, dort auf Leben zu stoßen — doch er war ganz sicher gewesen, daß man früher oder später irgendwelche Relikte der Wesen entdecken würde, die diese fantastische Welt erbaut hatten. Die Erforschung hatte ja gerade erst begonnen, wenn auch die zur Verfügung stehende Zeit entsetzlich knapp war, bis die Endeavour sich aus der momentanen Flugbahn, die die Sonne streifen würde, freimachen müßte. Doch wie die Dinge jetzt lagen, falls seine Berechnungen stimmten, würde das Rendezvous der Menschheit mit Rama sogar noch kürzer sein müssen, als er befürchtet hatte. Denn eine Kleinigkeit war übersehen worden — weil sie so groß war, daß sie bisher niemandem aufgefallen war. „Gemäß unseren jüngsten Informationen“, begann Perera, „befindet sich jetzt ein Erkundungstrupp auf dem Marsch zur Zylindrischen See, während Commander Norton durch einen weiteren Trupp am Fuß der Alpha-Treppe eine Versorgungsbasis errichten läßt. Sobald dies geschehen ist, beabsichtigt er, mindestens zwei Erkundungsteams rund um die Uhr gleichzeitig einzusetzen. Auf diese Weise erhofft er sich eine maximale Effizienz seiner zahlenmäßig knappen Einsatzkräfte. Es ist ein guter Plan, aber möglicherweise wird nicht Zeit genug bleiben, ihn auszuführen. Tatsächlich rate ich zu einem sofortigen Alarm und zur Vorbereitung auf einen totalen Rückzug binnen zwölf Stunden. Lassen Sie es mich erklären… Es ist erstaunlich, wie wenig Leute sich zu einer doch ziemlich deutlichen Anomalie Ramas geäußert haben. Rama befindet sich jetzt bereits recht weit innerhalb der Umlaufbahn der Venus — und doch ist sein Inneres immer noch gefroren. Dabei beträgt die Temperatur eines Objekts in direkter Sonneneinstrahlung an diesem Punkt etwa fünfhundert Grad! Die Begründung ist einfach die, daß Rama noch nicht Zeit genug zur Erwärmung gehabt hat. Wahrscheinlich hat er sich fast bis zum absoluten Nullpunkt, zweihundertsiebzig Grad minus, abgekühlt, während er sich im interstellaren Raum befand. Aber jetzt, da er sich der Sonne nähert, ist die Außenhülle beinahe so heiß wie geschmolzenes Blei. Doch das Innere wird weiter kalt bleiben, bis die Hitze sich durch die kilometerdicke Wand hindurchgearbeitet hat. Es gibt so eine luxuriöse fantasievolle Nachspeise mit einer heißen Hülle und einer Eiskremfüllung — ich komme gerade nicht auf den Namen.“ „Baked Alaska. Eine Meringue-Eisbombe, die bei Banketten der UP sehr beliebt ist. Unseligerweise!“ „Danke, Sir Robert. Die gleiche Situation haben wir momentan mit Rama, aber sie wird nicht so bleiben. Die ganzen letzten Wochen über hat sich die Hitze weiter nach innen gearbeitet, und wir rechnen damit, daß innerhalb weniger Stunden ein drastischer Temperaturanstieg einsetzt. Aber das ist gar nicht das Problem: zum Zeitpunkt, wo wir sowieso evakuieren müßten, wird das Klima höchstens angenehm tropisch sein.“ „Also wo liegen dann die Schwierigkeiten?“ „Das, Exzellenz, kann ich Ihnen mit einem Wort sagen: Orkane.“ 15. KAPITEL AM RANDE DER SEE Es waren nun über zwanzig Männer und Frauen im Inneren Ramas — sechs davon arbeiteten unten in der Ebene, die übrigen transportierten Ausrüstung und Nachschub durch das Luftschleusensystem die Treppe hinunter. Das Schiff selbst war fast unbemannt, nur eine Notbesatzung tat Dienst. Ein Witz machte die Runde, daß die Endeavour in Wirklichkeit von den vier Simps in Betrieb gehalten werde und Goldie in den Rang eines stellvertretenden Kommandeurs gehoben sei. Für diese ersten Explorationszüge hatte Norton eine Reihe von Grundregeln aufgestellt; die wichtigste davon stammte aus den frühesten Tagen der bemannten Raumfahrt: Jeder Trupp, so hatte er entschieden, mußte eine Person dabeihaben, die bereits über frühere Erfahrungen verfügte. Aber nicht mehr als einen Mann. Auf diese Weise bekamen alle die Chance, so rasch wie möglich zu lernen. So bekam der erste Trupp, der sich zur Zylindrischen See aufmachte, obwohl Stabsärztin Commander Laura Ernst die Führung hatte, den Leutnant Boris Rodrigo als ›Veteranen‹ einer Exkursion zugeteilt, die soeben aus Paris zurückgekehrt war. Das dritte Mitglied, Sergeant Pieter Rousseau, war oben an der Nabe bei den Hilfstrupps eingesetzt gewesen; er war ein Experte für den Einsatz von Instrumenten in der Weltraumexploration, doch bei diesem Trip würde er sich auf seine Augen und ein kleines tragbares Teleskop verlassen müssen. Die Strecke vom Fuß der Alpha-Treppe bis zum Rand der See betrug knapp fünfzehn Kilometer — beziehungsweise angesichts der niedrigen Schwerkraft Ramas vergleichbare acht Kilometer auf der Erde. Laura Ernst wollte beweisen, daß sie sich selbst an das Leistungsniveau hielt, das sie verlangte, und schlug eine forsche Gangart an. Auf halbem Weg machten sie dreißig Minuten Rast. Sie schafften die ganze Strecke in drei Stunden, in denen sich nicht das geringste ereignete. Außerdem war es ziemlich langweilig, im Strahl des Suchscheinwerfers durch die echolose Finsternis Ramas voranzumarschieren. Als die Lichtpfütze mit ihnen weiterrückte, streckte sie sich langsam mehr und mehr zu einer langen schmalen Ellipse; diese Verengung des Strahls war das einzige sichtbare Anzeichen dafür, daß sie vorankamen. Ohne die ständigen Entfernungsangaben des Beobachters an der Nabe hätten die drei keine Möglichkeit gehabt abzuschätzen, ob sie einen Kilometer oder fünf oder zehn weitergekommen waren. Sie stolperten einfach schwerfällig durch diese Millionen Jahre alte Nacht über eine scheinbar nahtlose Metallfläche dahin. Aber endlich zeichnete sich weit hinter der Begrenzung des schwächer werdenden Strahls etwas Neues ab. In einer normalen Welt wäre es ein Horizont gewesen; hier konnten sie beim Vorrücken feststellen, daß die flache Ebene, auf der sie marschierten, ein abruptes Ende nahm. Sie näherten sich dem Rand der See. „Nur noch hundert Meter“, verkündete die Kontrollstation an der Nabe. „Macht besser langsam.“ Die Mahnung war kaum nötig, sie hatten das Tempo bereits gedrosselt. Von dem Niveau der Ebene zur See hin fiel eine glatte, steile Wand von fünfzig Metern Tiefe ab. Falls es sich überhaupt um ein Meer handelt und nicht wieder um einen Überzug aus jenem rätselhaften Kristallstoff. Norton hatte zwar alle nachdrücklich davor gewarnt, wie gefährlich es sein könne, irgend etwas auf Rama für selbstverständlich zu halten, doch nur wenige zweifelten daran, daß die ›See‹ wirklich aus Eis bestand. Aber gab es einen vernünftigen Grund dafür, daß die Steilküste am Südufer fünfhundert Meter hoch war, die hier am Nordufer jedoch nur fünfzig? Es war, als näherten sie sich dem Rand der Welt: ihr Lichtoval wurde immer kürzer und brach vor ihnen plötzlich ab. Aber weit draußen auf der Kimmung der See waren ihre riesigen verkürzten Schatten aufgetaucht, und jede Bewegung wirkte gigantisch vergrößert und verzerrt. Diese Schatten hatten sie auf jedem Schritt ihres Weges begleitet, während sie im Strahl des Scheinwerfers vordrangen; jetzt, da sie vom Kamm der Klippe abgeschnitten wurden, schienen diese Schatten nicht mehr zu ihnen zu gehören. Es hätten Geschöpfe der Zylindrischen See sein können, die darauf lauerten, mit den Eindringlingen in ihr Reich abzurechnen. Da sie nun am Rand einer fünfzig Meter hohen Klippe standen, ergab sich erstmalig die Chance, die Krümmung Ramas abzuschätzen und zu bewundern. Aber kein Mensch hatte jemals zuvor einen zugefrorenen See gesehen, der sich nach oben zu einer zylindrischen Fläche aufwölbt. Der Eindruck war einfach beunruhigend, und die Augennerven und das Sehzentrum im Gehirn taten ihr Bestes, eine andere Erklärung zu finden. Dr. Ernst, die früher einmal eine Arbeit über optische Illusionen geschrieben hatte, gewann den Eindruck, daß sie in Wirklichkeit mehr als die Hälfte der Zeit auf eine sich horizontal erstreckende Bucht blickte und nicht auf eine Fläche, die sich steil in den Himmel emporreckte. Es war eine bewußte Willensanstrengung nötig, die unglaubliche Wahrheit zu akzeptieren. Nur direkt vor ihnen, auf der Linie, die mit der Achse Ramas parallel verlief, blieb die Normalität bestehen. Einzig in dieser Richtung stimmten optischer Eindruck und Logik miteinander überein. Hier wirkte Rama — zumindest über die nächsten paar Kilometer hin — flach und war auch flach… Und weit draußen, jenseits ihrer verzerrten Schatten und der äußersten Grenze des Scheinwerferstrahls, lag die Insel, die die Zylindrische See beherrschte. „Kontrollpunkt Nabe“, meldete sich Dr. Ernst über Funk. „Bitte richten Sie den Scheinwerfer auf New York.“ Plötzlich fiel die Rama-Nacht wieder über sie, als das Lichtoval auf die See hinausglitt. Und plötzlich wurde den drei Raumfahrern wieder bewußt, daß sie auf dem Kamm einer — jetzt unsichtbaren — Klippe standen, und sie wichen alle ein paar Schritte zurück. Dann tauchten wie bei einer zauberhaften Verwandlung auf einer Bühne die Turmbauten New Yorks aus der Dunkelheit. Die Ähnlichkeit mit dem Manhattan der alten Zeit war natürlich recht oberflächlich; dieses in den Sternen geborene Echo der Erdvergangenheit besaß eine durchaus einzigartige und eigenständige Erscheinungsweise. Und je länger Dr. Ernst das Gebilde anstarrte, desto größer wurde ihre Gewißheit, daß es sich überhaupt nicht um eine Stadt handelte. Das echte New York war wie alle menschlichen Niederlassungen niemals vollendet worden; noch weniger war es planvoll gewesen. Dieser Ort dagegen besaß ein symmetrisches Gesamtmuster, wenn auch ein dermaßen kompliziertes, daß man es mit dem Verstand gar nicht erfassen konnte. Dies hier war von einer wachen und übernatürlichen Intelligenz entworfen und geplant worden — und vollendet worden — wie eine Maschine, die für einen bestimmten Zweck konstruiert ist. Wachstum oder nachträgliche Veränderungen waren ausgeschlossen. Der Kegel des Suchscheinwerfers glitt langsam über diese fernen Türme und Kuppeln, miteinander verbundenen Kugeln und einander überschneidenden Rohre. Zuweilen wurde das Licht grell von einer flachen Struktur zu ihnen zurückgeworfen. Das erstemal waren alle drei verblüfft, es wirkte ganz so, als ob dort drüben auf jener seltsamen Insel jemand ihnen Signale sendete… Aber es gab hier nichts zu sehen, was nicht bereits viel detaillierter auf den Fotos festgehalten war, die von der Nabe aus gemacht worden waren. Nach ein paar Minuten baten sie, den Scheinwerfer wieder auf ihren Trupp zu richten, und begannen den Klippenrand in östlicher Richtung entlangzugehen. Jemand hatte die einleuchtende Theorie aufgestellt, daß es irgendwo eine Treppe oder eine Rampe geben müsse, die zur See hinabführte. Und ein Mitglied der Besatzung, ein begeisterter Segler, hatte eine interessante Vermutung angestellt. „Wo ein Meer ist“, hatte Sergeant Ruby Barnes prophezeit, „da muß es auch Docks und Häfen geben — und Schiffe. Über eine Kultur kann man alles lernen, wenn man ihre Schiffsbaukunst studiert.“ Die Kollegen hielten dies zwar für einen ziemlich bornierten Standpunkt, aber er wirkte zumindest anregend. Dr. Ernst wollte bereits die Suche aufgeben und den Abstieg per Seil anordnen, als Leutnant Rodrigo die schmale Treppe entdeckte. Man hätte sie in der Schattendunkelheit unterhalb der Klippe leicht übersehen können, denn es gab kein Leitgeländer oder sonst etwas, das auf ihr Vorhandensein hingedeutet hätte. Und sie schien kein bestimmtes Ziel zu haben: sie führte die fünfzig Meter hohe senkrechte Wand hinab und verschwand in steilem Winkel unter der Oberfläche der See. Sie ließen ihre Helmlampen über die Treppe streichen, und da sie nichts entdeckten, was möglicherweise Gefahr bedeutet hätte, erbat Dr. Ernst von Commander Norton die Erlaubnis zum Abstieg. Eine Minute später tastete sie behutsam die Oberfläche der See ab. Ihr Fuß glitt nahezu reibungslos vor und zurück. Der Stoff fühlte sich genau an wie Eis. Und es war Eis. Als sie mit ihrem Hammer darauf einschlug, ergab sich das vertraute Muster von Sprüngen, die radial von der Aufprallstelle ausgingen, und Dr. Ernst konnte so viele Bruchstücke sammeln, wie sie wünschte. Einige waren bereits zerschmolzen, als sie den Probenbehälter dem Licht entgegenhielt; die Flüssigkeit wirkte wie leicht getrübtes Wasser; vorsichtig roch sie daran. „Ist das ungefährlich?“ rief Rodrigo mit einer Spur von Besorgnis in der Stimme zu ihr hinab. „Glauben Sie mir, Boris“, antwortete Dr. Ernst, „wenn es hier irgendwelche Pathogene gibt, die meinen Detektoren entgangen sind, dann sind unsere Versicherungspolicen bereits seit einer Woche wertlos.“ Doch Boris’ Warnung hatte etwas für sich. Trotz all der beruhigenden Teilergebnisse bestand noch immer ein minimales Risiko, daß dieser Stoff giftig sein oder irgendeine unbekannte Krankheit übertragen konnte. Normalerweise wäre Dr. Ernst noch nicht einmal dieses minimale Risiko eingegangen, aber jetzt drängte die Zeit, und Einsätze und Gewinne waren enorm hoch. Falls es nötig sein sollte, die Endeavour unter Quarantäne zu setzen, dann würde dies ein ziemlich geringer Preis sein für die Fülle an neuen Erkenntnissen. „Es ist Wasser, aber ich habe keine Lust, es zu trinken — schmeckt wie eine schiefgelaufene Algenkultur. Ich kann es kaum erwarten, bis ich es im Labor habe.“ „Ist das Eis fest genug. Kann man darauf gehen?“ „Ja, es ist steinhart.“ „Dann können wir also nach New York gehen.“ „Können wir das wirklich, Pieter? Haben Sie jemals versucht, vier Kilometer weit übers Eis zu laufen?“ „Oh — ich verstehe, was Sie meinen. Stellen Sie sich bloß mal vor, was das Magazin dazu sagen würde, wenn wir Schlittschuhe anforderten! Ganz abgesehen davon, daß kaum einer von uns in der Lage sein dürfte, sich damit zu bewegen, auch wenn wir welche an Bord hätten.“ „Und wir haben ein weiteres Problem“, warf Boris Rodrigo ein. „Habt ihr bemerkt, daß die Temperatur bereits über den Gefrierpunkt angestiegen ist? Es wird nicht lange dauern, und dieses Eis beginnt zu schmelzen. Wie viele Raumfahrer können vier Kilometer weit schwimmen? Ich jedenfalls bestimmt nicht…“ Dr. Ernst war wieder oben auf dem Klippenkamm zu ihnen gestoßen und hielt nun triumphierend die kleine Probenflasche in die Höhe. „Es ist ein langer Marsch für ein paar Kubikzentimeter schmutziges Wasser, aber wir erfahren dadurch möglicherweise mehr über Rama als aus allem, was wir bisher gefunden haben. Kehren wir also in den Stall zurück.“ Sie wendeten sich den fernen Lichtern der Nabe zu und zogen in den sanften weiten Sprüngen los, bei dieser verminderten Schwerkraft die bequemste Fortbewegungsart. Aber sie schauten oft zurück, fasziniert von der verborgenen Rätselhaftigkeit dieser Insel inmitten der gefrorenen See. Und einmal, ganz kurz, hatte Dr. Ernst das Gefühl, als habe eine ganz leichte Brise wie ein Hauch ihre Wange gestreift. Der Lufthauch wiederholte sich nicht, und so vergaß sie es vollkommen. 16. KAPITEL KEALAKEKUA „Sie sind sich selbstverständlich vollkommen darüber bewußt, Dr. Perera“, sagte Botschafter Bose im Ton geduldiger Resignation, „daß nur wenige unter uns sich mit Ihnen in Ihrem Spezialgebiet der mathematischen Meteorologie verständigen können. Haben Sie also bitte Mitleid mit unserem Unverstand.“ „Aber mit Vergnügen“, antwortete der Exobiologe ganz ohne Verlegenheit. „Ich kann es Ihnen am besten erklären, wenn ich Ihnen sage, was in Rama geschehen wird — und zwar sehr bald. Die Temperatur steigt jetzt allmählich an, da die solaren Hitzewellen ins Innere vordringen. Nach der letzten mir zugegangenen Information ist sie bereits über den Gefrierpunkt gestiegen. Bald wird die Zylindrische See zu tauen beginnen, und im Gegensatz zu Gewässern auf der Erde wird sie von unten nach oben schmelzen. Das könnte einige unangenehme Folgen haben. Aber ich mache mir viel größere Sorgen wegen der Atmosphäre. Bei ihrer Erwärmung wird sich die Luft in Rama ausdehnen — und sie wird versuchen, zur Zentralachse aufzusteigen. Hier liegt das Problem. Auf dem Boden folgt die Luft bereits der Rotation Ramas, obwohl sie scheinbar stationär zu sein scheint: also mehr als achthundert Stundenkilometer. Wenn sie zur Achse aufsteigt, wird sie versuchen, diese Geschwindigkeit beizubehalten — und es wird ihr natürlich nicht gelingen. Das Ergebnis werden heftige Stürme und Turbulenzen sein; ich schätze, mit zwei-, dreihundert Stundenkilometern. Übrigens passiert ja auf der Erde so ziemlich das gleiche. Die erhitzte Luft am Äquator — die die Erdrotation von sechzehnhundert Stundenkilometern mitmacht — stößt auf die gleichen Probleme, wenn sie aufsteigt und nach Norden oder Süden abfließt.“ „Aha, die Passatwinde! Ich erinnere mich daran aus dem Geographieunterricht.“ „Richtig, Sir Robert. Rama wird Passatwinde erleben, und zwar ganz gewaltige. Ich bin überzeugt, daß sie nur ein paar Stunden anhalten und sich dann wieder eine Art Gleichgewicht einstellen wird. In der Zwischenzeit jedoch möchte ich Commander Norton zur Evakuation raten. So rasch wie möglich. Hier die Nachricht, die zu senden ich vorschlage.“ Mit ein bißchen Fantasie, sagte sich Commander Norton, könnte man dies für ein improvisiertes Nachtlager halten am Fuß eines Berges in einer verlassenen Gegend Asiens oder Amerikas. Das Durcheinander der Schlafsäcke, Faltstühle und Klapptische, der transportablen Elektrobatterie, der Beleuchtungseinrichtung, Elektrosan-Toiletten und der verschiedensten wissenschaftlichen Geräte hätte auf der Erde keineswegs fehl am Platze gewirkt — besonders da die Männer und Frauen hier ohne Sauerstoffgeräte arbeiteten. Der Aufbau von Camp Alpha war eine sehr mühselige Angelegenheit gewesen, weil alles per Hand durch die Luftschleusen geschafft, den Hang von der Nabe hinunter per Schlitten transportiert und dann zusammengesucht und ausgepackt werden mußte. Manchmal hatten die Bremsschirme versagt, und die Lieferung war gut einen Kilometer tief in der Ebene gelandet. Trotzdem hatten mehrere Besatzungsmitglieder um die Erlaubnis gebeten, solch eine Schlittenfahrt unternehmen zu dürfen. Norton hatte dies strikt verboten. Im Notfall mußte er das wohl noch einmal überdenken. Nahezu die ganze Ausrüstung würde hier zurückbleiben, denn der anstrengende Rücktransport war einfach undenkbar — ja effektiv unmöglich. Manchmal überfiel den Commander fast etwas wie Schamgefühl, daß sie soviel menschlichen Müll an diesem seltsam fleckenlosen Ort zurücklassen würden. Und wenn sie endlich ganz weggehen würden, dann wollte er einen Teil ihrer kostbaren Zeit dafür opfern, daß alles ordentlich zurückgelassen würde. So unwahrscheinlich es sein mochte, aber vielleicht würde Rama Millionen Jahre später durch ein anderes Sonnensystem rasen und wieder Besucher bekommen. Dann sollten sie einen guten Eindruck von der Erde gewinnen. Jetzt allerdings sah er sich einem viel dringlicheren Problem gegenüber. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatten ihn nahezu gleichlautende Botschaften von der Erde und vom Mars erreicht. Das schien ein merkwürdiger Zufall zu sein; möglicherweise hatten sich ja seine zwei Anvermählten beieinander ausgeweint, wie Frauen, die in sicherer Entfernung voneinander auf verschiedenen Planeten leben, mit ihrem Kummer gern tun. Ziemlich nachdrücklich hatten sie ihn daran erinnert, daß er — wenn er jetzt auch ein großer Held sei — immer noch Verantwortung seinen Familien gegenüber habe. Der Commander schnappte sich einen Faltstuhl und wanderte über die Lichtpfütze in das Dunkel hinaus, das das Camp umgab. Dies war die einzige Möglichkeit, einmal ungestört zu sein, außerdem konnte er abseits von dem Trubel besser nachdenken. Er kehrte dem organisierten Durcheinander bewußt den Rücken zu und begann in den Recorder zu sprechen, der ihm um den Hals hing. „Original für persönliche Akte, Duplex an Mars und Erde. Hallo, Liebste — ja, ich weiß, ich war stinkfaul mit meinen Nachrichten, aber ich bin eine ganze Woche lang nicht im Schiff gewesen. Abgesehen von einer Notbesatzung kampieren wir alle innerhalb Ramas, am Fuß der Treppe, die wir Alpha getauft haben. Zur Zeit habe ich drei Explorationstrupps draußen, die die Ebene absuchen, aber wir sind enttäuschend langsam vorangekommen, weil wir alles zu Fuß erledigen müssen. Wenn wir bloß irgendein Transportmittel hätten! Ich wäre schon selig über ein paar elektrische Fahrräder… die wären fantastisch für die Arbeit hier. Du hast meinen Stabsoffizier, Commander Ernst, kennengelernt…“ Er brach unsicher ab; Laura war einer seiner Frauen begegnet, aber welcher? Es war besser, das wegzulassen… Er löschte den Satz und begann erneut: „Mein Stabsarzt, Commander Ernst, hatte die Führung der ersten Gruppe zum Ufer der Zylindrischen See, fünfzehn Kilometer von hier entfernt. Sie entdeckte, daß es sich um gefrorenes Wasser handelt, wie wir erwartet hatten — aber trinken würde man es wohl kaum. Dr. Ernst sagt, es sei eine wäßrige organische Suppe, die Spuren von nahezu allen Kohlenstoffverbindungen enthält, die man sich nur vorstellen kann, ebenso Phosphate, Nitrate und Dutzende von Metallsalzen. Es gibt nicht das geringste Anzeichen von Leben — nicht mal irgendwelche abgestorbenen Mikroorganismen. Also wissen wir noch immer nichts über die Biochemie der Ramaner… obwohl die vielleicht von der unseren gar nicht so grundlegend verschieden war.“ Irgend etwas strich sacht über sein Haar (er war vor lauter Arbeit nicht dazu gekommen, es schneiden zu lassen, und würde etwas unternehmen müssen, bevor er wieder einen Raumhelm aufsetzte…). „Du hast die Teles von Paris und den anderen Städten gesehen, die wir auf diesem Ufer des Meeres untersucht haben: London, Rom, Moskau. Man kann unmöglich glauben, daß sie gebaut worden sind, damit irgendwas in ihnen leben könnte. Paris wirkt wie ein Vorratslager für Riesen. London ist eine Ansammlung von Zylindern, die durch Rohre miteinander verbunden sind, die wiederum offenbar einer Art Pumpstation angeschlossen sind. Alles ist fest verschlossen, so daß sich nicht herausfinden läßt, was im Innern ist, wenn man nicht Sprengstoff oder Laserstrahlen einsetzt. Wir wollen dies nach Möglichkeit nicht tun, es sei denn, es geht gar nicht anders. Und Moskau und Rom…“ „Verzeihung, Skipper. Blitzverbindung von der Erde.“ Was ist denn nun schon wieder? fragte Norton sich. Kann man denn nicht einmal ein paar Minuten in Ruhe mit seinen Familien sprechen? Er nahm dem Sergeant die Nachricht aus der Hand und überflog sie rasch, eigentlich nur, um sicherzugehen, daß sie nichts wirklich Dringliches enthielt. Dann las er sie nochmals, langsamer diesmal. Was, zum Teufel, war das: ›Rama-Komitee‹? Und warum hatte er nie etwas davon gehört? Er wußte, daß alle möglichen Vereinigungen, Gesellschaften und Berufsgruppen — manche davon mit ernstzunehmenden, andere mit komplett verrückten Zielen — beständig versucht hatten, Kontakt zu ihm aufzunehmen; die Kontrollstation, die ihn stets sehr gut abschirmte, hätte diese Nachricht zweifellos nicht weitergeleitet, wenn sie sie nicht für wichtig gehalten hätte. „WINDE ZWEIHUNDERT KM SCHNELL — WAHRSCHEINLICH PLÖTZLICHES AUFTRETEN“ — nun, das war sicher bedenkenswert. Aber es fiel schwer, die Warnung in dieser vollkommen ruhigen Nacht allzu ernst zu nehmen; außerdem wäre es lächerlich, wenn sie wie erschreckte Mäuse davonliefen, jetzt, wo ihre Forschungen gerade erst erfolgreich zu werden versprachen. Commander Norton strich sich das Haar aus der Stirn, das ihm schon wieder irgendwie über die Augen gefallen war. Dann hielt er wie erstarrt mitten in der Handbewegung inne. Er hatte während der letzten Stunde tatsächlich mehrmals einen Windhauch verspürt. Es war ein so leichter gewesen, daß er ihn vollkommen unbeachtet gelassen hatte; schließlich war er Kapitän eines Raumschiffs, nicht eines Segelschiffs. Bis zu diesem Augenblick hatte die Luftbewegung für ihn keinerlei berufliches Interesse gehabt. Was würde jener seit langem tote Kapitän jener früheren Endeavour in einer solchen Lage wohl unternommen haben? Diese Frage hatte sich Norton während der letzten paar Jahre in jedem kritischen Augenblick gestellt. Dies war sein ganz privates Geheimnis, er hatte es nie jemandem mitgeteilt. Und wie die meisten wirklich wichtigen Dinge im Leben hatte es sich ganz zufällig ergeben. Er war bereits mehrere Monate lang Kapitän der Endeavour gewesen, bevor ihm aufging, daß sein Schiff nach einem der berühmtesten Schiffe der Geschichte benannt war. Sicher, es hatte während der vergangenen vierhundert Jahre ein Dutzend Endeavours gegeben, zur See und zwei sogar im Weltraum, aber ihrer aller Urahn war der 370-Tonnen-Whitby-Collier, den Kapitän James Cook von der Royal Navy zwischen 1768 und 1771 um die Welt gesegelt hatte. Sein anfängliches Interesse hatte sich rasch in regelrechte Neugierde, ja beinahe Besessenheit verwandelt, und Norton hatte alles zu lesen begonnen, was er über Cook auftreiben konnte. Inzwischen war er wahrscheinlich die führende Autorität der ganzen Welt bezüglich dieses größten Forschungsreisenden aller Zeiten; er kannte ganze Kapitel seiner Tagebücher auswendig. Norton erschien es noch immer unglaublich, wie ein einzelner Mann mit einer derartig primitiven Ausrüstung so viel hatte erreichen können. Aber Cook war nicht bloß ein überragender Navigator gewesen, sondern auch ein Wissenschaftler und — in einem Zeitalter grausamer Härte — ein Verfechter der Menschlichkeit. Er behandelte seine eigenen Leute freundlich, das war schon außergewöhnlich genug; was jedoch völlig unerhört war, er verhielt sich ebenso den oftmals feindlichen Wilden gegenüber in den neuen Ländern, die er entdeckte. Es war Nortons stiller Traum, aber er wußte, daß er ihn wohl nie verwirklichen könnte, wenigstens eine der Reisen Cooks um die Welt nachzuvollziehen. Er hatte einen etwas unzureichenden, wenn auch spektakulären Anlauf dazu unternommen, der den großen Käptn sicherlich in Erstaunen versetzt hätte, als er einmal direkt über dem Großen-Barriere-Riff eine Polarbahn anflog. Es war frühmorgens an einem klaren Tag gewesen, und aus vierhundert Kilometern Höhe hatte er eine hervorragende Sicht auf diese tödliche Korallenwand, die sich durch die weiße Gischtlinie längs der Küste von Queensland abzeichnete. Er hatte nur knapp fünf Minuten gebraucht, um die ganzen zweitausend Kilometer Länge des Riffs zu überfliegen. Mit einem einzigen Blick vermochte er Wochen der gefahrvollen Fahrt jener ersten Endeavour zusammenzuraffen. Und durch das Teleskop erhaschte er einen Blick auf Cooktown und die Bucht, in der das Schiff nach dem fast katastrophalen Zusammenprall mit dem Riff zur Reparatur an Land geschleppt worden war. Ein Besuch in der Deep-Space-Tracking-Station auf Hawaii hatte ihm ein Jahr darauf ein noch eindrucksvolleres Erlebnis beschert. Er hatte den Wasserjet zur Kealakekua-Bucht genommen, und während sie rasch an den kahlen Vulkanklippen vorbeischossen, hatte ihn ein Gefühl überwältigt, dessen Tiefe ihn überrascht, ja beunruhigt hatte. Der Führer hatte die Gruppe von Wissenschaftlern, Ingenieuren und Astronauten an dem glitzernden Metallpylon vorübergeführt, den man an der Stelle des früheren Monuments errichtet hatte, welches von dem gewaltigen Tsunami im Jahre 68, einem der stärksten Orkane, zerstört worden war. Sie waren ein paar Meter weiter über die schwarze glatte Lava bis zu der kleinen Plakette am Rand des Wassers gegangen. Von kleinen Wellen überspült, war sie kaum zu sehen, aber als Norton sich niederbeugte, konnte er die Inschrift lesen: IN DER NÄHE DIESER STELLE WURDE KAPITÄN JAMES COOK AM 14. FEBRUAR 1779 ERMORDET DIE ORIGINALPLAKETTE WURDE AM 28. AUGUST 1928 VON DER KOMMISSION ZUM 150-JÄHRIGEN JUBILÄUM COOKS AUFGESTELLT. ERSETZT VON DER DREIHUNDERT-JAHRFEIER-KOMMISSION 14. FEBRUAR 2079 Das war vor vielen Jahren und hundert Millionen Kilometer weit weg geschehen. Doch in Augenblicken wie eben diesem hatte Norton oft das Gefühl, daß Käptn Cooks beruhigende Persönlichkeit sehr nahe bei ihm sei. Aus den geheimsten Tiefen seines Gehirns fragte er dann wohl: „Nun, Käptn — was denken Sie darüber?“ Es war so ein Spielchen, das er sich erlaubte, wenn gelegentlich die Fakten für eine vernünftige Beurteilung der Lage nicht ausreichten und man sich auf die Intuition verlassen mußte. Dies war ja eine Seite der Genialität Cooks gewesen: daß er immer die richtige Entscheidung getroffen hatte — bis ganz zum Schluß, in der Bucht von Kealakekua. Der Sergeant wartete geduldig, während sein Kommandant schweigend in die Rama-Nacht hinausstarrte. Diese Nacht war nicht mehr vollkommen schwarz, denn in etwa vier Kilometern Entfernung konnte man deutlich die schwachen Lichtflecken zweier Explorationstrupps erkennen. Im Notfall kann ich sie innerhalb einer Stunde zurückholen, sagte sich Norton. Und das müßte zeitlich hinhauen. Er wendete sich dem Sergeanten zu: „Nehmen Sie folgende Nachricht auf: ›Rama-Komitee, über Spacecom. Danken für Ihre Information und treffen Vorsichtsmaßregeln. Bitte um Spezifizierung Text plötzliches Auftreten. Ergebenst Norton, Kommandant Endeavour.‹“ Er wartete, bis der Sergeant in Richtung auf die blendenden Lichter des Lagers verschwunden war, dann knipste er seinen Recorder wieder an. Aber seine Gedankenkette war unterbrochen, und er konnte sich nicht mehr in die rechte Stimmung zurückversetzen. Der Brief an seine beiden Frauen würde auf einen besseren Zeitpunkt warten müssen. Es geschah nicht sehr oft, daß Käptn Cook zu Hilfe kam, wenn er seine Pflichten versäumte. Aber Norton erinnerte sich plötzlich daran, wie selten und wie kurz die arme Elizabeth ihren Cook in ihrer zehnjährigen Ehe nur zu Gesicht bekommen hatte. Und dennoch hatte sie ihm sechs Kinder geschenkt. Und hatte sie alle und ihren Mann überlebt. Seine Frauen, mit denen die Verbindung niemals mehr als zehn Minuten per Lichtgeschwindigkeit betrug, hatten wirklich keinen Grund zur Klage… 17. KAPITEL FRÜHLING In den ersten ›Nächten‹ auf Rama war es nicht leicht gewesen, in den Schlaf zu finden. Die Dunkelheit und die Geheimnisse, die er barg, waren bedrückend, aber noch weit beunruhigender war die anhaltende Stille. Völlige Geräuschlosigkeit ist kein natürlicher Zustand; alle Sinne des Menschen brauchen eine gewisse Menge an Reizen. Wenn man sie dessen beraubt, produziert das Gehirn sich selbst Ersatz dafür. Deshalb hatten sich viele der Schlafenden über merkwürdige Geräusche — ja sogar über Stimmen — beklagt, ganz offenkundig Einbildungen, denn die wachenden Personen hatten nichts dergleichen vernommen. Stabsärztin Commander Ernst hatte eine sehr einfache und wirksame Therapie verschrieben: während der Schlafperiode wurde das Lager jetzt von leiser, unaufdringlicher Hintergrundmusik eingelullt. In dieser Nacht jedoch fand Commander Norton auch diese Therapie noch unzureichend. Er lauschte angespannt in die Dunkelheit hinein, und er wußte genau, wonach er lauschte. Doch obwohl von Zeit zu Zeit eine sehr sanfte Brise sein Gesicht streifte, war kein Laut zu hören, den man für aufkommenden Wind in der Ferne hätte halten können. Auch die zwei Explorationstrupps hatten nichts Außergewöhnliches zu berichten. Schließlich schlief Commander Norton gegen Mitternacht nach Schiffszeit endlich ein. Am Kommunikationsschaltpult hatte beständig ein Mann Wache und Bereitschaftsdienst für dringliche Nachrichten. Weitere Vorsichtsmaßnahmen schienen nicht nötig zu sein. Kein Orkan hätte das Geräusch hervorbringen können, das ihn und das gesamte Lager plötzlich aufweckte. Es war, als stürzte der Himmel ein oder als berste Rama auseinander und zerbräche in Trümmer. Zuerst erfolgte ein ungeheures Krachen, dann ein langanhaltendes kristallisches Klirren, wie wenn Millionen Glashäuser zertrümmert würden — es dauerte nur minutenlang, obwohl es ihnen wie Stunden erschien; und es hielt weiter an, schien sich zu entfernen, als Norton die Nachrichtenzentrale erreichte. „Kontrolle Nabe! Was ist passiert?“ „Eine Sekunde, Skipper. Es ist drüben bei der See. Wir setzen das Licht drauf.“ Acht Kilometer über ihnen auf der Rama- Achse begann der Strahl des Suchscheinwerfers über die Ebene zu gleiten. Er erreichte das Ufer der See, wanderte dann dort entlang und bestrich den Äquator dieser Welt im Kreis. Bei etwa der Viertelmarke hielt der Strahl auf der zylindrischen Innenfläche plötzlich an. Dort oben im Himmel — beziehungsweise dessen, was das Gehirn noch immer hartnäkkig als Himmel betrachtete — geschah etwas ganz Außerordentliches. Nortons erster Eindruck war, daß die See zu kochen begonnen hatte. Sie wirkte nicht mehr statisch und gefroren, als halte ein ewiger Winter sie gefangen; ein riesiges Gebiet von mehreren Kilometern Erstreckung war in wildem Aufruhr. Und die See veränderte ihre Färbung: ein breites weißes Band zog sich über das Eis. Plötzlich begann eine Scholle von etwa einem Kilometer Länge sich nach oben zu schieben wie eine sich öffnende Falltür. Langsam und majestätisch stieg sie schimmernd und blitzend im Strahl des Scheinwerfers dem Himmel entgegen. Dann sackte sie zurück und verschwand unter der Oberfläche, und eine Flutwelle schäumenden Wassers schoß von der Stelle, an der sie versunken war, in alle Richtungen auseinander. Erst jetzt wurde es Commander Norton ganz bewußt, was da geschah. Das Eis brach auf. Während all dieser Tage und Wochen war das Eis unten in der Tiefe geschmolzen. — Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, denn das donnernde Getöse erfüllte noch immer den Raum und hallte vom Himmel in Kreisechos wider, doch er versuchte sich vorzustellen, was eine derartig dramatische Erschütterung hervorgerufen haben könnte. Wenn auf der Erde ein zugefrorener See oder Fluß auftaute, dann keineswegs so wie hier… Aber, natürlich! Jetzt, da es geschehen war, war es ganz einleuchtend. Die See taute von unten her auf, weil die Sonnenhitze durch die Hülle Ramas vordrang. Und wenn Eis zu Wasser schmilzt, verringert sich das Volumen… Also war die See unter die oberste Eisschicht abgesackt und hatte sie ohne Halt gelassen. Jeden Tag war die Spannung gewachsen, und jetzt brach das Eisband um den Äquator Ramas in sich zusammen wie eine Brücke, die ihren Mittelpfeiler verloren hatte. Das Eis zersplitterte zu Hunderten treibender Schollen, die zusammenprallten und sich ineinanderschoben, bis auch sie geschmolzen sein würden. Nortons Blut erstarrte plötzlich, als er sich an den Plan erinnerte, New York per Schlitten zu erreichen… Der Tumult legte sich rasch wieder; im Ringen zwischen Eis und Wasser war ein Stillstand eingetreten. Ein paar Stunden später würde bei stetig ansteigender Temperatur das Wasser den Sieg davontragen, und die letzten Eisspuren würden verschwinden. Doch auf lange Sicht würde sich doch wieder das Eis durchsetzen, wenn Rama die Sonne umrundete und sich erneut auf eine Bahn in die interstellare Nacht begab. Norton atmete plötzlich wieder bewußt; er rief per Funk den Trupp, der der See am nächsten war. Zu seiner Erleichterung antwortete Leutnant Rodrigo sofort. Nein, das Wasser habe sie nicht erreicht. Keine Flutwelle sei über den Klippenkamm herübergedrungen. „Jetzt wissen wir also“, fügte er ganz ruhig hinzu, „warum da ein Steilufer ist.“ Norton stimmte ihm wortlos zu; insgeheim aber sagte er sich: das erklärt aber wohl kaum, warum das Steilufer an der Südküste zehnmal so hoch ist… Der Suchscheinwerfer von der Nabe strich weiter im Kreis um diese Innenwelt. Das erwachende Meer wurde zunehmend ruhiger, und die kochende weiße Gischt raste nicht mehr von kenternden Eisschollen fort. Nach fünfzehn Minuten war das Schlimmste vorbei. Und Rama war nicht mehr stumm: er war aus dem Schlaf erwacht, immer wieder das Knirschen zu hören, wenn ein Eisberg mit einem anderen zusammenprallte. Der Frühling war ein bißchen spät gekommen, sagte Norton bei sich selbst, doch der Winter war zu Ende. Wieder strich diese Brise vorbei, doch stärker diesmal als je zuvor. Rama hatte ihn genügend gewarnt: es war Zeit, sich zu verabschieden. Als er in der Mitte der Treppe angelangt war, empfand Commander Norton wieder einmal tiefe Dankbarkeit, daß die Finsternis gnädig verbarg, was vor ihm lag — und unter ihm. Obwohl er wußte, daß noch über zehntausend Stufen vor ihm waren, und er sich im Geiste die steil ansteigende Kurve durchaus vorstellen konnte, wurde ihm diese Aussicht erträglicher, weil er nur einen beschränkten Bereich dieser Treppe überblicken konnte. Es war dies sein zweiter Aufstieg, und er hatte aus den Fehlern des ersten gelernt. Die Versuchung war groß, bei dieser geringen Schwerkraft zu rasch hinaufzuklettern: jeder Schritt fiel so leicht, daß man sich bewußt zu einem langsamen, gleichmäßigen Rhythmus zwingen mußte. Doch wenn man dies nicht tat, traten nach den ersten paar tausend Stufen ungewohnte Muskelschmerzen in Schenkeln und Waden auf. Muskelstränge, von deren Existenz man niemals etwas geahnt hatte, legten Protest ein, und man mußte immer längere Ruhepausen einschieben. Gegen Ende seines ersten Aufstiegs hatte er mehr Zeit mit Pausieren als mit dem Steigen verbracht, und selbst das war nicht ausreichend gewesen. Während der folgenden zwei Tage hatte er unter schmerzhaften Muskelkrämpfen gelitten und wäre wohl fast gelähmt gewesen, hätte er sich nicht in der Schwerelosigkeit des Raumschiffs befunden. Darum hatte er diesmal den Anstieg mit geradezu übertriebener Langsamkeit begonnen und sich wie ein alter Mann fortbewegt. Er hatte die Ebene als letzter verlassen, die anderen bildeten eine Kette von einem halben Kilometer vor ihm auf der Treppe; er konnte sehen, wie sich ihre Helmlampen den unsichtbaren Hang vor ihm hinaufbewegten. Norton war zutiefst enttäuscht, daß seine Mission fehlgeschlagen war, aber selbst jetzt hoffte er noch, daß es sich nur um einen vorläufigen Rückzug handeln werde. Wenn sie die Nabe erreicht hatten, dann konnten sie ja warten, bis die möglicherweise auftretenden atmosphärischen Störungen sich gelegt hätten. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde dort an der Nabe Totenstille herrschen wie im Zentrum eines Wirbelsturms, und sie würden den bevorstehenden Orkan in Ruhe und Sicherheit abwarten können. Einmal mehr zog er voreilige Schlußfolgerungen und gefährliche Vergleiche zu der Situation auf der Erde. Die meteorologischen Zusammenhänge einer ganzen Welt waren — selbst unter der Voraussetzung eines stabilen Gleichgewichts — eine unerhört komplizierte Sache. Selbst nach jahrhundertelanger Forschung war die Wetterprognose auf der Erde noch immer nicht absolut zuverlässig. Und bei Rama handelte es sich nicht nur um ein völlig neuartiges Ökosystem; Rama machte auch irrsinnig rasche Veränderungen durch, denn die Temperatur war innerhalb der letzten paar Stunden um mehrere Grade angestiegen. Doch noch immer deutete nichts auf den angekündigten Orkan hin. Allerdings waren ein paar schwache Windstöße aus anscheinend wechselnden Richtungen aufgetreten. Bisher waren sie fünf Kilometer hoch gestiegen, und das bedeutete bei dieser niedrigen und kontinuierlich abnehmenden Schwerkraft weniger als zwei Kilometer auf der Erde. Auf Plattform Drei, nur drei Kilometer von der Achse entfernt, machten sie eine Stunde lang Rast, nahmen leichte Erfrischungen zu sich und massierten ihre Beinmuskeln. Hier war der letzte Punkt ihres Aufstieges, an dem sie frei und bequem atmen konnten. Wie die Bergsteiger im Himalaja in der Vergangenheit hatten sie hier ihre Sauerstoffgeräte deponiert. Jetzt nahmen sie sie auf und rüsteten sich zum Endspurt. Eine Stunde später hatten sie das Ende der Treppe erreicht. — Jetzt kam die Leiter. Vor ihnen lag dieser letzte senkrechte Kilometer. Glücklicherweise konnten sie ihn in einem Schwerkraftfeld überwinden, das nur ein paar Prozent der Erdschwerkraft ausmachte. Wieder eine halbstündige Rastpause, sorgfältige Überprüfung der Sauerstoffgeräte, und sie waren bereit für die letzte Etappe. Wieder arrangierte Norton es so, daß alle seine Leute gesichert vor ihm waren und im Abstand von zwanzig Metern die Leiter angingen. Von jetzt an würde es ein langsames, stetiges und äußerst langwieriges Hinaufhangeln werden. Als beste Technik hatte sich bewährt, wenn man den Kopf von Gedanken möglichst freihielt und die Sprossen zählte, während man sie hinter sich brachte: einhundert, zweihundert, dreihundert, vierhundert… Norton hatte gerade Sprosse zwölfhundertfünfzig erreicht, als er merkte, daß etwas nicht in Ordnung war. Das Licht, das von der vertikalen Fläche direkt vor seinen Augen reflektiert wurde, hatte eine veränderte, eine unrichtige Farbe — und es war viel zu hell. Commander Norton blieb nicht einmal genug Zeit, in seinem Aufstieg innezuhalten und seinen Leuten eine Warnung durchzugeben. Es passierte alles in Bruchteilen von Sekunden. In einer lautlosen Lichtexplosion brach über Rama die Dämmerung herein. 18. KAPITEL DÄMMERUNG Das Licht war so grell, daß Norton eine ganze Minute lang die Augen zukneifen mußte. Dann wagte er sie vorsichtig zu öffnen und blinzelte durch die halb geschlossenen Lider auf die Wand, die nur ein paar Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war. Er blinzelte mehrmals, wartete, bis die unfreiwilligen Tränen fortrollten, wandte sich dann langsam um und betrachtete die anbrechende Dämmerung. Er konnte den Anblick nur ein paar Sekunden lang aushalten, dann mußte er die Augen wieder schließen. Es war nicht so sehr das grelle, blendende Licht, das so unerträglich war — daran hätte er sich gewöhnen können —, sondern das ehrfurchtgebietende und grandiose Schauspiel von Rama, dieser Welt, die nun zum erstenmal als Ganzes sichtbar wurde. Norton hatte natürlich genau gewußt, womit er rechnen mußte; trotzdem benahm ihm der Anblick die Sinne. Ein unkontrollierbares krampfartiges Zittern überfiel ihn, seine Finger krallten sich um die Sprossen der Leiter mit der verzweifelnden Brutalität eines Ertrinkenden, der einen Rettungsring umklammert. Die Muskeln seiner Unterarme verkrampften sich, gleichzeitig schien es, als wollten seine Beine — die durch das stundenlange Klettern bereits müde waren — den Halt verlieren. Ohne die geringe Schwerkraft wäre er wohl abgestürzt. Dann setzte blitzartig seine Erinnerung ein, was er in einem solchen Fall während seiner Ausbildung gelernt hatte, und er schaltete vorsichtshalber die erste Hilfsstufe gegen Panik ein. Er hielt die Augen weiter geschlossen und versuchte das überwältigende Schauspiel zu vergessen, das sich um ihn herum entfaltete. Er begann lang und tief zu atmen und seine Lungen mit Sauerstoff zu füllen, der die Ermüdungsgifte aus seinem Metabolismus vertreiben würde. Bald fühlte er sich besser. Allerdings öffnete er die Augen erst, als er eine zweite, bis zur rituellen Routine geübte Aktion durchgeführt hatte: er kostete ihn eine ziemlich heftige Willensanstrengung, seine rechte Hand zu entkrampfen (er mußte auf sie einreden wie auf ein störrisches Kind) — doch dann gelang es ihm, sie zu seinem Gürtel hinunterzudirigieren, den Sicherungsgurt von seinem Anzug abzuhaken und an der nächsten Sprosse einzuklinken. Was immer jetzt geschehen mochte, er konnte nicht fallen. Norton atmete noch ein paarmal sehr tief ein, dann schaltete er (immer noch mit geschlossenen Augen) sein Funkgerät ein. Er hoffte, seine Stimme würde ruhig und sicher klingen, als er begann: „Hier der Befehlshaber, Sind alle okay?“ Während er einen Namen nach dem andern nannte und in jedem Fall eine positive, wenn auch etwas zittrige Antwort erhielt, gewann er rasch wieder Zuversicht und Selbstkontrolle zurück. Alle seine Leute waren in Sicherheit und erwarteten von ihm, daß er ihnen sage, was zu tun sei. Er war wieder der Mann, der die Anordnungen gab und die Verantwortung zu tragen hatte. „Laßt die Augen zu, bis ihr völlig sicher seid, daß ihr es aushalten könnt“, rief er. „Dieser Anblick ist — überwältigend. Wer glaubt, daß er es nicht mehr aushalten kann, soll, ohne zurückzuschauen, weiterklettern. Denkt daran, ihr seid bald in Null-Schwerkraft, also könnt ihr wohl kaum runterfallen.“ Es war allerdings kaum nötig, perfekt ausgebildeten Raumfahrern etwas so Grundsätzliches klarzumachen, aber Norton selbst mußte sich alle paar Stunden daran erinnern. Der Gedanke an die Null-Schwerkraft war eine Art von Talisman und beschützte ihn vor Schaden. Was seine Augen auch immer sehen und ihm einreden mochten, Rama würde ihn nicht hinunterziehen und auf der acht Kilometer weiter unten liegenden Fläche zerschmettern können. Plötzlich fühlte er sich von seinem Stolz und seiner Selbstachtung dazu gedrängt, die Augen zu öffnen und diese Welt hier neu zu sehen. Aber vorher mußte er unbedingt erst wieder die Kontrolle über seinen Körper zurückgewinnen. Er nahm beide Hände von den Leitersprossen und hakte den linken Arm über eine der Sprossen. Abwechselnd ballte er die Fäuste und streckte die Hände wieder, bis der Muskelkrampf abflaute. Dann — als er sich ganz okay fühlte — öffnete er die Augen, wandte den Kopf und sah: Rama. Der erste Eindruck war der von einem ungeheuren Blau. Der Glanz, der den Himmel erfüllte, hätte niemals mit dem Licht der Sonne verwechselt werden können; er wirkte eher wie das Licht einer elektrischen Bogenlampe. Also muß die Sonne Ramas heißer sein als unsere, sagte sich Norton. Das dürfte die Astronomen interessieren… Und jetzt begriff er auch, was der Zweck dieser geheimnisvollen Gräben war, wozu das Gerade Tal und seine fünf Gegenstücke dienten: sie waren nichts anderes als gigantische Lichtstreifen. Rama besaß sechs lineare Sonnen, die symmetrisch in seinem Inneren angeordnet waren. Von jeder dieser Linearsonnen strömte ein breiter Lichtfächer über die Mittelachse und erleuchtete die andere Seite der Innenwelt. Norton fragte sich, ob diese Lichtbögen in bestimmtem Rhythmus ein- und ausgeschaltet werden konnten, um einen Tag-Nacht-Zyklus hervorzurufen, oder ob auf diesem Planeten beständig Tag herrschte. Er hatte diese blendenden Lichtstränge schon zu lange angestarrt, seine Augen schmerzten wieder; und er war froh darüber, sie für eine Weile schließen zu dürfen. Jetzt erst, als er den ersten optischen Schock nahezu überwunden hatte, konnte er sich dem sehr viel ernsteren Problem zuwenden. Wer — oder was — hatte in Rama das Licht ausgelöst? Den empfindlichsten Tests, die die Menschen durchführen konnten, nach zu urteilen, war dies eine absolut sterile Welt. Doch jetzt war etwas geschehen und geschah, das sich durch das Wirken von Naturkräften nicht erklären ließ. Hier in Rama gab es vielleicht kein Leben, aber es gab möglicherweise ein Bewußtsein, eine Wachsamkeit: vielleicht wachten Roboter nach einem äonenlangen Schlaf auf. Oder vielleicht war diese Lichtexplosion eine nicht programmierte zufällige Zuckung — ein letztes Todesröcheln von Maschinen, die hektisch auf die Wärme einer neuen Sonne reagierten und bald wieder in den Ruhezustand zurückfallen würden. Diesmal vielleicht für immer. Und doch, dachte sich Norton, scheint mir das eine zu einfache Erklärung zu sein. Wie bei einem Puzzle begannen die Einzelstücke sich zu einem Muster zusammenzufügen. Allerdings fehlten ihm noch zu viele Elemente. Daß zum Beispiel keinerlei Spuren von Abnutzung festzustellen waren — dieser Eindruck von Neuigkeit und Frische, als wäre Rama soeben erst geschaffen worden… Solche Gedanken hätten Furcht, hätten Entsetzen hervorrufen können. Aber merkwürdigerweise empfand Norton nichts dergleichen. Er fühlte sich im Gegenteil heiter, ja beinahe vergnügt. Denn hier gab es ja sehr viel mehr zu entdecken, als sie je zu hoffen gewagt hätten. Na, ich bin neugierig, was das Rama-Komitee sagt, wenn sie das hören! dachte Norton. Dann öffnete er ruhig und entschlossen die Augen und fing an, sorgfältig alles zu registrieren, was er sah. Zunächst mußte er eine Art Bezugssystem aufbauen. Er sah vor sich den größten umschlossenen Raum, den jemals ein Mensch erblickt hatte, und brauchte so etwas wie eine geistige Landkarte, um sich zurechtzufinden. Die geringe Schwerkraft half ihm dabei nicht, denn sein Bewußtsein konnte die Richtungen von oben und unten beliebig orientieren. Manche Richtungen allerdings waren psychologisch gefährlich, und wann immer sein Gehirn daran rührte, mußte er rasch sein Denken auf einem anderen Vektor davon fortlenken. Am sichersten war es, sich vorzustellen, daß er auf dem schüsselförmigen Grund eines riesigen Brunnens stehe, der sechzehn Kilometer weit und fünfzig Kilometer tief war. Diese Vorstellung hatte zumindest den Vorteil, daß die Gefahr, tiefer zu stürzen, ausschied; trotzdem war sie keineswegs ideal. Er konnte sich einreden, daß die verstreuten Siedlungen und Städte und die unterschiedlich gefärbten und strukturierten Bezirke alle sicher mit den aufragenden Wandungen verbunden waren. Die verschiedenen komplexen Gebilde, die man von der Wölbung oben herabhängen sah, waren wohl kaum beunruhigender als die herabhängenden Kronleuchter in einem Konzertsaal der Erde. Die Zylindrische See allerdings widersetzte sich jedem Versuch der Einordnung… Dort rotierte sie, in halber Höhe des Brunnenschachts: ein breites Band aus Wasser, das ohne sichtbaren Halt die innere Peripherie umkreiste. Es war ohne Zweifel Wasser; die Farbe war ein leuchtendes Blau mit ein paar blitzenden Flecken von den restlichen Eisschollen. Aber der Eindruck einer vertikalen See, die einen zwanzig Kilometer hohen, vollkommen geformten Kreis in den Himmel hinauf bildete, war ein Phänomen, das seinen Verstand derart irritierte, daß er nach einer Weile nach anderen Erklärungen suchte. Und hier veränderte sein Gehirn den Vektor und drehte ihn um neunzig Grad. Sofort wurde der tiefe Brunnen zu einem langen Tunnel, dessen beide Enden durch runde Kappen verschlossen waren. ›Unten‹ war demnach ganz klar die Richtung der Leiter und der Treppen, die er soeben heraufgestiegen war. Und jetzt, nachdem er sich diese Perspektive zu eigen gemacht hatte, war Norton endlich in der Lage, die wahre Absicht der Architekten, die diesen Ort geschaffen hatten, zu erkennen und zu schätzen. Er klammerte sich an die Oberfläche einer sechzehn Kilometer hohen Klippe, deren obere Hälfte weit überragte, bis sie schließlich mit dem Rundbogendach verschmolz, das sie jetzt als Himmel zu bezeichnen gewohnt waren. Unter ihm fiel die Leiter mehr als fünfhundert Meter ab und endete auf dem ersten Sims oder der ersten Terrasse. Dort begann die Treppenkonstruktion, die sich zunächst nahezu vertikal in diesem Environment von so niederer Schwerkraft erstreckte und dann nach und nach flacher wurde, bis sie nach fünf weiteren Plattformen die weit entfernte Ebene erreichte. Über die ersten zwei bis drei Kilometer hin konnte er die einzelnen Stufen ausmachen, aber darüber hinaus verschmolzen sie optisch zu einem fortlaufenden Band. Die abstürzende Flucht dieses gigantischen Treppengebildes war so gewaltig, daß man unmöglich die wahren Ausmaße abschätzen konnte. Norton war einmal um den Gipfel des Mount Everest geflogen und von der majestästischen Größe überwältigt gewesen. Er machte sich klar, daß diese Treppe so hoch war wie der Himalaja. Allerdings war ein Vergleich unsinnig. Und angesichts der beiden anderen Treppenkonstruktionen, Beta und Gamma, wurde ein Vergleich vollends unmöglich. Sie ragten in den Himmel hinauf und reichten in einer Kurve weit über Norton hinaus. Er hatte mittlerweile genügend Selbstvertrauen zurückgewonnen, also wagte er es, sich zurückzulehnen und — kurz nur — zu ihnen aufzublicken. Dann versuchte er zu vergessen, daß sie da oben hingen… Denn wenn man zu lange in dieser Richtung dachte, tauchte ein drittes Bild von Rama vor einem auf. Norton bemühte sich, diesen Eindruck mit allen Mitteln zu vermeiden. Die Gefahr lag darin, Rama erneut als vertikalen Zylinder oder Brunnenschacht zu begreifen. Nur würde er diesmal oben an der Spitze oder am ›Brunnenrand‹ stehen, nicht auf dem Grund, und er würde wie eine Fliege kopfunter auf der Innenseite einer Kuppel kleben mit einem Abgrund von fünfzig Kilometern unter ihm. Jedesmal wenn dieses Bild sich in seine Gedanken drängte, mußte Norton sich bewußt und gewaltsam zwingen, nicht in sinnloser Panik die Hände wieder um die Leitersprossen zu klammern. Er war sicher, daß mit der Zeit alle diese Ängste weichen würden. Die wunderbare Fremdheit Ramas würde ihre Schrecklichkeit verlieren, jedenfalls für Männer, die dazu ausgebildet waren, sich den Wirklichkeiten des Weltalls zu stellen. Wahrscheinlich würde ein Mensch, der niemals die Erde verlassen hatte und nie das Sternenall um sich herum gesehen hatte, diesen Anblick überhaupt nicht ertragen können. Aber wenn ein menschliches Wesen befähigt war, diese Prospekte zu ertragen, dann — beschloß Norton bei sich — würde er es sein, der Kapitän der Endeavour. Er blickte auf seinen Zeitmesser. Die Unterbrechung und Ruhepause hatte nur zwei Minuten gedauert, aber in gewisser Weise war sie ihm endlos wie ein ganzes Leben erschienen. Er setzte kaum genügend Kraft ein, um seine physikalische Massenträgheit und das weichende Schwerkraftfeld zu überwinden, als er sich die letzten paar hundert Meter die Leiter hinaufarbeitete. Kurz bevor er die Luftschleuse betrat, wendete er sich noch einmal dem Inneren Ramas zu und überflog prüfend die gesamte Szenerie dieses merkwürdigen Planeten. Selbst in den wenigen Minuten des Nachdenkens waren die Veränderungen innerhalb Ramas weitergegangen. Von der See stieg nun Dunst auf. Die ersten paar hundert Meter krümmten sich die geisterhaften weißen Wolken deutlich in der Umdrehungsrichtung von Rama, dann lösten sich die Kondensationen in turbulenten Wirbeln auf, wo die aufsteigende Luft ihre überschüssige Geschwindigkeit loszuwerden versuchte, und dann begannen die ›Passatwinde‹ in dieser zylindrischen Welt ihre Zeichen in den Himmel zu schreiben. Der erste tropische Orkan seit undenkbaren Zeiten war kurz vor seinem Ausbruch. 19. KAPITEL WARNUNG VOM MERKUR Seit Wochen war es das erstemal, daß alle Mitglieder des Rama-Komitees sich einfanden. Professor Solomons war aus den Tiefen des Pazifik aufgetaucht, wo er Operationen des Erzabbaus in den mittelozeanischen Gräben untersucht hatte. Und keiner war überrascht, daß Dr. Taylor wieder dazugestoßen war, nun da Rama vielleicht doch mit etwas aufzuwarten hatte, was einen größeren Neuigkeitswert für Presse und Fernsehen versprach als tote Artefakte. Der Präsident hatte fest damit gerechnet, daß Dr. Carlisle Perera nun noch dogmatischer und anmaßender sein werde, nachdem sich seine Prognose des Orkans in Rama bestätigt hatte. Doch zum Erstaunen Seiner Exzellenz war Perera merkwürdig zurückhaltend und nahm die Glückwünsche seiner Kollegen mit einer Verlegenheit entgegen, die man ihm gar nicht zugetraut hätte. Der Exobiologe schien zutiefst gedemütigt: denn der spektakuläre Eisbruch der Zylindrischen See war ein sehr viel gravierenderes Phänomen — und er hatte es völlig außer acht gelassen. Daß er sich zwar daran erinnert hatte, daß heiße Luft aufsteigt, jedoch vergessen hatte, daß sich erwärmendes Eis zusammenzieht, das war nicht gerade ein Ruhmesblatt für ihn. Aber sicher würde er den Schlag bald verwinden und zu seiner gewohnten olympischen Selbstsicherheit zurückfinden. Als der Vorsitzende ihm das Wort erteilte und ihn fragte, welche weiteren klimatischen Veränderungen er erwarte, hütete er sich vor allzu detaillierten Prognosen. „Sie müssen sich vorstellen“, sagte er, „daß die meteorologischen Zusammenhänge einer so fremdartigen Welt, wie es Rama ist, noch viele Überraschungen für uns bereithalten können. Doch wenn meine Berechnungen stimmen, wird es keine weiteren Stürme geben, und die Zustände werden bald stabil sein. Es wird einen leichten Temperaturanstieg geben, bis das Perihelion erreicht ist — und natürlich auch danach —, doch das soll uns nicht beschäftigen, da die Endeavour längst vorher abdocken muß.“ „Also wird man bald ohne Gefahr wieder ins Innere gehen können?“ „Hm — möglicherweise. In achtundvierzig Stunden werden wir es definitiv wissen.“ „Wir müssen unbedingt zurückkehren“, sagte der Gesandte des Merkur. „Wir müssen soviel wie möglich über Rama in Erfahrung bringen. Die Situation ist jetzt völlig verändert.“ „Ich glaube, wir alle wissen, was Sie damit meinen, doch könnten Sie vielleicht etwas deutlicher werden?“ „Aber sicher. Bisher haben wir angenommen, daß Rama ohne Leben sei — oder doch zumindest ein Körper ohne Kontrolle. Aber jetzt können wir nicht länger voraussetzen, daß es sich dabei um ein Wrack handelt. Selbst wenn es an Bord keine Formen von Leben gibt, wird doch das Schiff möglicherweise von Robotermechanismen gelenkt, die eigens dazu programmiert sind, eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen — vielleicht eine, die für uns äußerst nachträglich sein könnte. So bitter die Pille für uns auch sein mag, wir müssen die Frage unserer Verteidigung in Betracht ziehen.“ Es erhob sich ein Gewirr protestierender Stimmen, und der Vorsitzende mußte die Hand heben, um die Ruhe wiederherzustellen. „Lassen Sie Seine Exzellenz zu Ende sprechen!“ gebot er. „Ob uns die Vorstellung paßt oder nicht, wir sollten sie zumindest ernsthaft bedenken.“ „Bei allem gebührenden Respekt vor dem Botschafter“, warf Dr. Conrad Taylor in äußerst respektlosem Ton ein, „glaube ich doch, daß wir die Befürchtung einer bösartigen Intervention als reichlich naive Vorstellung abtun können. Geschöpfe, die so weit fortgeschritten sind wie die Ramaner, müssen gleichzeitig auch moralisch hochentwickelt sein. Sonst hätten sie sich selbst vernichtet — wie die Menschheit das im zwanzigsten Jahrhundert beinahe getan hätte. Ich habe diesen Zusammenhang in meinem neuesten Buch Ethos und Kosmos ganz eindeutig klargestellt. Ich hoffe, Sie alle haben Ihr Exemplar erhalten.“ „Doch, ja, vielen Dank. Allerdings muß ich leider sagen, daß die Last anderer Aufgaben mir nicht gestattete, mehr als die Einleitung zu lesen. Ich bin jedoch mit der Grundproblematik wohlvertraut. Wir haben ja kaum bösartige Absichten einem Ameisenhaufen gegenüber. Doch wenn wir an der gleichen Stelle ein Haus bauen wollen…“ „Das ist ja so übel wie die Pandora-Partei! Es ist nichts anderes als interstellare Xenophobie!“ „Meine Herren, ich bitte Sie! Exzellenz, Sie haben noch das Wort.“ Der Vorsitzende blitzte über einen räumlichen Abgrund von dreihundertachtzigtausend Kilometern Conrad Taylor zornig an, der widerwillig nachgab, wie ein Vulkan, der seine Zeit abwartet. „Danke“, sagte der Botschafter des Merkur. „Die Gefahr mag ja gering sein, doch wo es um die Zukunft der menschlichen Rasse geht, dürfen wir kein Risiko eingehen. Und dann sind wir Hermianer, wenn ich mich einmal so ausdrücken darf, ganz besonders betroffen. Wir haben vielleicht mehr Grund als alle anderen, alarmiert zu sein.“ Dr. Taylor schnaubte hörbar durch die Nase, wurde jedoch von einem weiteren Zornesblick vom Mond gebändigt. „Wieso der Merkur mehr als ein anderer Planet?“ fragte der Präsident. „Betrachten Sie doch einmal das Kräftespiel der Situation. Rama bewegt sich bereits innerhalb unserer Umlaufbahn. Und bisher ist es nur eine Vermutung, daß er die Sonne umkreisen und dann wieder in den Weltraum hinaussteuern wird. Nehmen wir doch an, daß er ein Bremsmanöver durchführt? Und wenn das eintritt, dann auf dem Perihelion, also in dreißig Tagen von heute an gerechnet. Meine Wissenschaftler sagen mir, für den Fall, daß die gesamte Geschwindigkeitsänderung dort stattfindet, wird Rama auf eine Kreisbahn von nur fünfundzwanzig Millionen Kilometern Entfernung zur Sonne enden. Und von dort aus könnte er das gesamte Sonnensystem beherrschen.“ Lange Zeit sagte niemand ein Wort — nicht einmal Conrad Taylor. Alle Mitglieder des Komitees dachten nach über diese schwierigen Leute, die Hermianer, die ihr Botschafter so bemerkenswert gut repräsentierte. Für die meisten Menschen kam der Merkur der Vorstellung von der Hölle ziemlich nahe; zumindest würde das so lange der Fall sein, bis man etwas noch Schlimmeres entdeckte. Doch die Hermianer selbst waren stolz auf ihren grotesken Planeten, auf dem die Tage länger dauerten als Jahre, der doppelte Sonnenauf- und — untergänge hatte und Flüsse aus geschmolzenem Metall… Im Vergleich dazu waren Mond und Mars fast banale Abenteuer gewesen. Und wenn erst die Menschen auf der Venus landen würden (falls das je der Fall sein sollte), würden sie auf eine noch feindlichere Welt stoßen als die des Merkur. Und doch hatte sich diese Welt in vielerlei Hinsicht als der Schlüssel zum Sonnensystem erwiesen. Nachträglich schien dies selbstverständlich, doch war das Raumzeitalter schon beinahe hundert Jahre alt, ehe diese Tatsache erkannt wurde. Und nun sorgten die Hermianer dafür, daß sie nicht in Vergessenheit gerieten. Lange bevor Menschen den Planeten erreichten, wies die enorme Dichte des Merkur auf die schweren Elemente hin, die er besaß; aber noch heute war man allgemein über ihre Menge erstaunt und schlug die Befürchtung der Menschheit für weitere tausend Jahre in den Wind, die Schlüsselmetalle für die Zivilisation könnten eines Tages erschöpft sein. Und alle diese Reichtümer lagen am günstigsten Platz, dort, wo die Sonnenenergie zehnmal so stark wirkte wie auf der kalten Erde. Unbegrenzte Energie — unbegrenzte Metallvorkommen: das war der Merkur. Seine großen Magnet-Raketenbasen konnten Industrieprodukte an jeden beliebigen Punkt des Sonnensystems katapultieren. Er konnte auch Energie in Form synthetischer Transuran-Isotope oder als reine Strahlung exportieren. Jemand hatte sogar den Vorschlag unterbreitet, daß mit Laser vom Merkur eines Tages der gigantische Jupiter aufgetaut werden könnte, aber dieser Vorschlag stieß bei den anderen Planeten nicht auf Zustimmung. Eine Technologie, die den Jupiter ›kochen‹ konnte, besaß zu viele verführerische Anreize zur interplanetaren Erpressung. Daß diese Besorgnis jemals in Worte gefaßt worden war, bewies recht deutlich die allgemeine Einstellung den Hermianern gegenüber. Man respektierte sie für ihre Härte und ihre Fähigkeiten als Ingenieure, und man bewunderte sie, weil sie eine so furchteinflößende Welt erobert hatten. Aber man mochte sie nicht, und noch weniger vertraute man ihnen ganz. Andererseits hatte man natürlich Verständnis für ihren Standpunkt. Die Hermianer, sagte man zuweilen im Scherz, betrugen sich gelegentlich, als sei die Sonne ihr persönliches Eigentum. Sie waren an die Sonne in einer starken Haßliebe gebunden — wie die Wikinger seinerzeit an das Meer, die Nepalesen an den Himalaja, die Eskimos in der Tundra. Sie würden zutiefst unglücklich sein, wenn etwas sich zwischen sie und die Naturkraft drängte, die ihr Leben vollkommen beherrschte. Schließlich unterbrach der Vorsitzende das lange Schweigen. Er erinnerte sich noch sehr gut an die Sonne Indiens und zitterte bei dem Gedanken an die Sonne, die den Merkur beschien. Deshalb nahm er die Hermianer äußerst ernst, auch wenn er sie für ungehobelte technische Barbaren hielt. „Ich glaube, Ihre Argumentation verdient einige Beachtung, Exzellenz“, sagte er langsam. „Haben Sie Vorschläge zu unterbreiten?“ „Ja, Herr Präsident. Bevor wir wissen, was wir unternehmen müssen, müssen wir Tatsachen haben. Wir kennen die Geographie von Rama — wenn man diesen Begriff darauf anwenden kann —, doch wir haben keine Ahnung, wozu dieser Körper imstande ist. Und der Schlüssel zu dem ganzen Problem ist: besitzt Rama ein Antriebssystem? Kann er seine Flugbahn verändern? Es würde mich sehr interessieren, die Ansicht von Dr. Perera zu hören.“ „Ich habe diesen Punkt hin und her überlegt “, antwortete der Exobiologe. „Natürlich hat Rama seine ursprüngliche Antriebsrichtung von irgendeinem Raketenstartmechanismus erhalten, doch das konnte sehr wohl eine unabhängige Startrakete gewesen sein. Jedenfalls haben wir kein Anzeichen dafür entdeckt, daß Rama über einen eigenen Antrieb an Bord verfügt. Es gibt ganz sicher keine Raketendüsen oder damit Vergleichbares auf der Außenhülle.“ „Sie könnten ja versteckt sein.“ „Sicher, aber was für einen Zweck sollte das haben? Und wo sind die Treibstofftanks, die Energiequellen? Der Rumpf ist durchweg solide, wir haben das mit seismischen Tests überprüft. Die Höhlungen an der nördlichen Kappe sind alle auf das Luftschleusensystem zurückzuführen. Damit bleibt noch das Südende von Rama, das Commander Norton bisher wegen diesem zehn Kilometer breiten Wasserband nicht erreichen konnte. Am Südpol gibt es eine ganze Reihe von merkwürdigen Mechanismen und Strukturen — aber Sie haben ja alle die Fotos gesehen. Worum es sich dabei handeln kann, das bleibt jedem einzelnen zur Entscheidung überlassen. Doch einer Sache bin ich mir relativ sicher. Wenn Rama über ein Antriebssystem verfügt, dann muß es etwas sein, das vollkommen außerhalb unserer derzeitigen Erkenntnisse liegt. Es müßte sich effektiv um den berühmten ›Space Drive‹ handeln, von dem die Leute seit zweihundert Jahren reden.“ „Aber Sie schließen diese Möglichkeit nicht aus?“ „Natürlich nicht. Wenn wir beweisen können, daß Rama über einen Space Drive verfügt — selbst wenn wir nicht herausfinden, wie er funktioniert —, dann würde das eine hochwichtige Entdeckung sein. Wir wüßten dann immerhin, daß so etwas möglich ist.“ „Was ist denn Space Drive?“ fragte der Botschafter der Erde mit ziemlich weinerlicher Stimme. „Jede Art Antriebssystem, Sir Robert, das nicht nach dem Prinzip des Raketenantriebs funktioniert. Anti-Schwerkraft — wenn sie möglich ist — wäre ganz gut dafür. Derzeit wissen wir nicht, wo wir eine solche Antriebsmöglichkeit finden sollen, und die meisten Wissenschaftler bezweifeln sowieso, daß es sie gibt.“ „Es gibt sie nicht“, warf Professor Davidson ein. „Die Frage hat bereits Newton entschieden. Es gibt keine Aktion ohne Reaktion. Space Drive ist ein Quatsch. Glauben Sie mir.“ „Sie mögen recht haben“, antwortete Perera ungewöhnlich sanftmütig. „Aber wenn Rama keinen Space Drive hat, dann hat er überhaupt kein Antriebssystem. Es ist einfach nicht genügend Platz für ein konventionelles Antriebssystem mit den dazu nötigen riesigen Treibstofftanks.“ „Man hat Schwierigkeiten, sich vorzustellen, daß eine ganze Welt losgeschossen wird“, sagte Dennis Solomons. „Was würde mit den Objekten im Inneren geschehen? Alles müßte doch verankert sein Äußerst unvorteilhaft.“ „Nun, die Beschleunigung würde wahrscheinlich ziemlich gering sein. Das schwierigste Problem wäre die Zylindrische See und das Wasser darin. Wie könnte man verhindern, daß dies…“ Pereras Stimme versank plötzlich in einem Flüsterton, seine Augen blickten stumpf. Er wirkte, als stehe er kurz vor einem epileptischen Anfall oder einem Herzinfarkt. Seine Kollegen beobachteten ihn voller Unruhe; dann erholte sich Dr. Perera plötzlich wieder, schlug mit der Faust auf den Tisch und rief: „Aber natürlich! Das erklärt alles! Die Klippe am Südufer — jetzt hat sie einen Sinn!“ „Also für mich nicht“, knurrte der Botschafter vom Mond und sprach damit allen anwesenden Diplomaten aus dem Herzen. „Betrachten Sie diesen Längsquerschnitt von Rama“, fuhr Perera aufgeregt fort, während er seine Karte aufklappte. „Haben Sie Ihre Exemplare vor sich? Die Zylindrische See wird von zwei Uferklippen begrenzt, die ganz um das Innere von Rama herumreichen. Das Nordufer ist nur fünfzig Meter hoch. Die südliche Klippe dagegen ist fast einen halben Kilometer hoch. Wozu diese große Differenz? Keinem ist bisher eine vernünftige Erklärung dafür eingefallen. Aber nehmen wir einmal an, daß Rama in der Lage ist, sich vorwärts zu treiben — daß er sich mit dem Nordende nach vorn beschleunigt. Dann würde das Wasser in der Zylindrischen See nach hinten drängen; der Wasserspiegel im Süden würde ansteigen — vielleicht Hunderte von Metern hoch. Und dazu das Steilufer. Moment mal…“ Perera begann hastig zu kritzeln. Nach erstaunlich kurzer Zeit — es konnten kaum mehr als zwanzig Sekunden gewesen sein — blickte er triumphierend auf. „Da wir die Höhe dieses Steilufers kennen, können wir die Maximalbeschleunigung berechnen, die Rama aushalten kann. Wenn es sich um mehr als zwei Prozent der Schwerkraft handelte, würde nämlich die See auf den südlichen Kontinent hinüberschwappen.“ „Ein Fünfzigstel G? Das ist nicht sehr viel.“ „Doch, das ist es. Für eine Masse von zehn Millionen Megatonnen. Und mehr braucht man nicht für astronomische Manöver.“ „Besten Dank, Dr. Perera“, sagte der Botschafter des Merkur. „Sie haben uns eine ganze Menge zu denken gegeben. Herr Präsident, können wir Commander Norton klarmachen, wie wichtig es ist, das südpolare Gebiet zu untersuchen?“ „Er tut sowieso sein Bestes. Die See bildet natürlich ein Hindernis. Sie versuchen gerade eine Art Floß zusammenzubauen — um wenigstens bis New York zu kommen.“ „Der Südpol ist wahrscheinlich sehr viel wichtiger. Unterdessen denke ich daran, diese Angelegenheit der Generalversammlung vorzulegen. Ich habe doch Ihr Einverständnis?“ Es gab keine Einwände, nicht einmal von Dr. Taylor. Doch gerade als die Ratsmitglieder ihre Konferenzschaltungen ausknipsen wollten, hob Sir Lewis die Hand. Der alte Historiker meldete sich nur sehr selten zu Wort, doch wenn er es tat, dann hörten ihm alle zu. „Angenommen, wir stellen wirklich fest, daß Rama — aktiv ist und diese Möglichkeiten besitzt. Im Militärbereich gibt es einen alten Lehrsatz, der besagt, daß die Fähigkeit nicht notwendig auch die Absicht bedeutet.“ „Und wie lange sollten wir Ihrer Ansicht nach warten, um diese Absichten Ramas herauszufinden?“ fragte der Hermianer. „Wenn wir sie entdecken, kann es bereits viel zu spät sein.“ „Es ist bereits zu spät. Wir können Rama durch nichts beeinflussen. Übrigens zweifle ich daran, daß wir das gekonnt hätten.“ „Dem kann ich nicht zustimmen, Sir Lewis. Es gibt vieles, was wir unternehmen könnten — falls sich dies als notwendig erweisen sollte. Aber die Zeit ist beängstigend knapp. Rama ist ein kosmisches Ei, das von der Sonnenwärme ausgebrütet wird. Es kann in jedem Augenblick ausschlüpfen.“ Der Vorsitzende des Rama-Komitees blickte den Botschafter des Merkur mit unverhohlenem Erstaunen an. Selten in seiner diplomatischen Laufbahn hatte ihn etwas dermaßen überrascht. Er hätte es sich nie träumen lassen, daß ein Hermianer sich zu solchen poetischen Höhenflügen aufschwingen würde. 20. KAPITEL DIE OFFENBARUNG DES BORIS RODRIGO Wenn einer seiner Leute Norton mit ›Commander‹ anredete oder, noch schlimmer, mit ›Mister Norton‹, dann wurde es immer ernst. Und da er sich nicht erinnern konnte, daß Boris Rodrigo ihn je zuvor so angesprochen hatte, mußte es sich diesmal um etwas besonders Ernstes handeln. Kapitänleutnant Rodrigo war auch unter normalen Umständen ein äußerst seriöser und nüchterner Mensch. „Was gibt’s, Boris?“ fragte Norton, als die Kabinentür hinter ihnen zufiel. „Commander, ich möchte gern um Ihre Erlaubnis bitten, die Schiffsprioritätsverbindung für eine Direktnachricht zur Erde benutzen zu dürfen.“ Das war wirklich außergewöhnlich, wenn auch kein Präzedenzfall. Routinesignale gingen zu der nächsten Planetenrelaisstation — zum gegenwärtigen Zeitpunkt war dies für sie Merkur —, und trotz der nur Minuten dauernden Übertragungszeit vergingen oft fünf bis sechs Stunden, ehe eine Nachricht auf dem Schreibtisch des Adressaten landete. In neunundneunzig Prozent der Fälle reichte dies auch vollkommen aus; doch im Notfall konnte der Kapitän entscheiden, daß direktere und sehr viel kostspieligere Verbindungswege benutzt würden. „Sie sind sich doch darüber im klaren, daß Sie mir triftige Gründe dafür angeben müssen. Die ganze Bandbreite, die wir zur Verfügung haben, wird für Datenübertragung benutzt und ist bereits überlastet. Handelt es sich um einen persönlichen Notfall?“ „Nein, Commander. Es ist etwas viel Wichtigeres. Ich möchte der Mutterkirche eine Botschaft senden.“ Aha, dachte Norton bei sich. Was fange ich jetzt damit an? „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir die Sache ein wenig erläutern würden.“ Hinter Nortons Forderung steckte nicht nur Neugierde, wenn sie zweifellos auch eine Rolle spielte. Wenn er nämlich Boris die erbetene Priorität einräumte, würde er seine Entscheidung später rechtfertigen müssen. Die sonst so ruhigen blauen Augen starrten ihn an. Norton hatte noch nie erlebt, daß Boris die Kontrolle über sich verloren hätte oder anders als völlig selbstbeherrscht gewesen wäre. Alle Kosmo-Christen waren so; dies gehörte unbedingt zu den Vorzügen, die ihr Glaube mit sich brachte, und es machte sie zu so guten Astronauten. Manchmal allerdings war ihre blinde Überzeugtheit doch ein wenig ärgerlich für jene Unglückseligen, denen die ›Offenbarung‹ nicht zuteil geworden war. „Es handelt sich um den Zweck von Rama, Commander. Ich glaube nämlich, ich habe ihn herausgefunden.“ „Fahren Sie fort.“ „Betrachten Sie die Situation. Hier haben wir eine vollkommen leere Welt ohne Leben — und doch ist sie für menschliche Wesen bewohnbar. Sie hat Wasser und eine Atmosphäre, in der wir atmen können. Sie kommt aus den fernsten Weiten des Weltalls und zielt direkt auf das Sonnensystem — und es scheint völlig unglaublich, daß es sich dabei um puren Zufall handeln soll. Außerdem scheint diese Welt nicht nur neu zu sein: sie sieht aus, als wenn sie nie benutzt worden wäre.“ Das haben wir doch alles schon ein gutes dutzendmal durchgekaut, sagte Norton bei sich. Was könnte Boris da Neues beibringen? „Unser Glaube sagt uns, daß wir mit einem derartigen Besuch rechnen sollen, auch wenn wir nicht genau wissen, in welcher Form dies vor sich gehen wird. Die Bibel gibt uns da nur Andeutungen. Wenn dies nicht das Zweite Erscheinen ist, dann vielleicht das Zweite Gericht; die Geschichte Noahs beschreibt das erste. Ich glaube, daß Rama eine kosmische Arche ist, die zu uns hergeschickt wurde, um die zu retten — die der Rettung und des Heils würdig sind.“ Eine ganze Weile lang herrschte in der Kapitänskajüte völlige Stille. Nicht daß Norton etwa die Worte gefehlt hätten; im Gegenteil, es drängten sich ihm zu viele Fragen auf, und er war sich nicht sicher, welche er taktvollerweise stellen könnte. Schließlich sagte er so sanft und unverbindlich, wie er nur konnte: „Das ist ein sehr interessantes Konzept, und obwohl ich nicht Ihrem Glauben angehöre, scheint mir persönlich doch diese Vorstellung verführerisch und logisch.“ Er war keineswegs ein Heuchler oder ein Schmeichler, wenn er das sagte; denn wenn man die religiöse Einkleidung fallenließ, dann war Rodrigos Theorie zumindest ebenso überzeugend wie ein halbes Dutzend anderer, die er sich schon hatte anhören müssen. Angenommen, der menschlichen Rasse drohte irgendeine Katastrophe, und eine freundliche und wohlwollende höhere Intelligenz wußte dies? Das würde doch alles recht säuberlich erklären. Dennoch, es gab da noch einige Probleme zu lösen… “Ein paar Fragen, Boris. Rama wird in drei Wochen das Perihelion erreichen; dann wird er die Sonne umkreisen und das Sonnensystem ebenso rasch wieder verlassen, wie er in es eingetreten ist. Es bleibt also nicht viel Zeit für einen Tag des Gerichts oder dafür, die Leute, die — hm — erwählt sind, zu Rama rüberzufliegen, wie immer man das anstellen würde.“ „Sehr richtig. Rama wird also beim Erreichen des Perihelions abbremsen und eine Parkumlaufbahn beziehen müssen — vielleicht eine mit einem Aphelion auf der Erdbahn. Dort könnte Rama dann erneut die Geschwindigkeit ändern und eine Begegnung mit der Erde herbeiführen.“ Dies war beunruhigend plausibel. Wenn Rama im Sonnensystem verbleiben wollte, dann tat er genau das richtige. Die wirksamste Bremsmethode bestand tatsächlich darin, der Sonne so nahe wie möglich zu kommen und dort das Bremsmanöver durchzuführen. Wenn Rodrigos Theorie — oder eine Variante davon — irgendeinen wahren Kern enthielt, würde sich dies bald herausstellen. „Noch eins, Boris. Wer übt jetzt die Kontrolle in Rama aus?“ „Es gibt kein Dogma darüber, an das wir uns halten könnten. Es könnte einfach ein Roboter sein. Oder es könnte sich um — einen Geist handeln. Das würde erklären, warum es keine Anzeichen für biologische Lebensformen gibt.“ Der Gespensterasteroid — wieso war dieses Wort aus den Tiefen seiner Erinnerung aufgetaucht? Dann erinnerte Norton sich an eine alberne Geschichte, die er vor Jahren gelesen hatte; er hielt es jedoch für besser, Boris nicht zu fragen, ob sie ihm je unter die Augen gekommen sei. Er hegte berechtigte Zweifel, daß Boris’ Geschmack in diese literarische Richtung ging. „Ich werde Ihnen sagen, was wir tun werden, Boris“, sagte Norton mit plötzlicher Entschlossenheit. Er wünschte diese Unterredung zu beenden, ehe sie zu schwierig wurde, und er dachte, er hätte einen guten Kompromiß gefunden. „Können Sie Ihre Vorstellungen in weniger als — sagen wir — tausend Bits zusammenfassen?“ „Ja, ich denke schon.“ „Gut, wenn Sie es fertigbringen, daß das wie eine handfeste wissenschaftliche Theorie klingt, dann schicke ich es mit Spitzenpriorität an das Rama-Komitee. Dann kann Ihre Kirche gleichzeitig eine Kopie erhalten, und alle sind glücklich und zufrieden.“ „Danke, Commander, ich weiß das wirklich zu schätzen.“ „Oh, ich tue dies nicht aus Gewissensgründen. Ich bin nur einfach ziemlich neugierig, was das Komitee damit anfängt. Auch wenn ich Ihren Gedankengängen nicht restlos folgen kann, Sie sind möglicherweise auf etwas Wichtiges gestoßen.“ „Nun, das werden wir beim Perihelion wissen, nicht?“ „Ja. Am Perihelion werden wir’s wissen.“ Nachdem Boris Rodrigo gegangen war, rief Norton die Brücke und erteilte die nötigen Anweisungen. Er hatte das Gefühl, mit dem Problem ziemlich sauber fertig geworden zu sein. Im übrigen, was war, wenn Boris recht hatte? Er, Norton, würde dann eventuell seine Chancen vergrößert haben, unter den Geretteten zu sein. 21. KAPITEL NACH DEM STURM Während sie den inzwischen wohlvertrauten Korridor des Luftschleusenkomplexes Alpha entlangtrieben, fragte Norton sich, ob nicht ihre Ungeduld die Vorsicht über Gebühr in den Hintergrund gedrängt habe. Sie hatten achtundvierzig Stunden an Bord der Endeavour abgewartet — zwei volle kostbare Tage — und waren darauf vorbereitet gewesen, sich sofort abzudocken, falls die Umstände dies erforderten. Aber nichts war geschehen: die auf Rama zurückgelassenen Instrumente hatten keinerlei außergewöhnliche Aktivität registriert. Zu ihrer Enttäuschung hatte ein Nebel die Sichtweite ihrer Fernsehkamera, die sie an der Nabe zurückgelassen hatten, auf ein paar Meter reduziert. Er begann sich erst jetzt aufzulösen. Als sie die letzte Luftschleuse bedient hatten und in das Gewebe der Gleitseile um die Nabe hinausschwebten, war Norton anfänglich von der Veränderung des Lichts betroffen. Es war kein scharfes Blau mehr, sondern sehr viel weicher und freundlicher und erinnerte an einen hellen dunstigen Tag auf der Erde. Er blickte die Achse dieser Innenwelt entlang — aber er konnte nichts sehen außer einem schimmernden strukturlosen Tunnel von Weiß, das sich bis hinüber zu jenen seltsamen Bergen am Südpol erstreckte. Ramas Inneres war völlig von Wolken bedeckt, und nirgendwo war in der Decke ein Loch zu sehen. Die obere Grenze der Dunstschicht war ziemlich klar gezeichnet: sie bildete innerhalb dieses größeren rotierenden Weltzylinders einen kleineren Zylinder, der einen Mittelkern von etwa fünf bis sechs Kilometern Durchmesser hatte. Dort war die Luft bis auf ein paar zerfaserte Zirruswölkchen sehr klar. Dieser riesige Wolkentubus wurde von unten her von den sechs künstlichen Sonnen Ramas beleuchtet. Wo die drei des nördlichen Kontinents lagen, war klar aus den diffusen Lichtstreifen ersichtlich, doch die anderen drei jenseits der Zylindrischen See verschwammen zu einem ununterbrochenen schimmernden Band. Was tut sich dort unter diesen Wolken? fragte sich Norton. Nun, wenigstens hatte sich der Sturm gelegt, der sie zentripetal zu einer derartig perfekten Symmetrie um die Achse von Rama getrieben hatte. Und wenn es nicht weitere Überraschungen gab, würden sie gefahrlos absteigen können. Er hielt es für sinnvoll, bei diesem Wiederholungsbesuch das gleiche Team einzusetzen, das als erstes am weitesten nach Rama vorgedrungen war. Sergeant Myron erfüllte inzwischen — wie übrigens alle anderen Besatzungsmitglieder der Endeavour auch — vollkommen die von Stabsärztin Ernst geforderten körperlichen Ansprüche, ja er behauptete sogar mit großer Überzeugung, daß er seine alten Uniformen nie wieder tragen werde. Als Norton zusah, wie Mercer, Calvert und Myron rasch und voller Selbstsicherheit die Leiter ›hinunterschwammen‹, erinnerte er sich daran, was alles sich unterdessen geändert hatte. Beim erstenmal waren sie in Kälte und Finsternis abgestiegen; jetzt bewegten sie sich auf Licht und Wärme zu. Bei sämtlichen früheren Besuchen waren sie überzeugt gewesen, daß Rama tot sei. Das mochte ja auch jetzt noch im biologischen Sinn der Fall sein. Aber etwas war in Bewegung geraten, und so war die Bezeichnung, die Boris Rodrigo gefunden hatte, ebensogut wie eine andere. Der ›Geist‹ Ramas war erwacht. Als sie die Plattform am Fuß der Leiter erreicht hatten und sich an den Abstieg über die Treppen machen wollten, führte Mercer die üblichen Routinetests der Atmosphäre durch. Es gab ein paar Sachen, die er niemals für selbstverständlich hielt; selbst bei Gelegenheiten, wenn Leute um ihn herum vollkommen ohne Schwierigkeiten atmeten, hatte Mercer, der Legende zufolge, haltgemacht und den Sauerstoffgehalt überprüft, ehe er seinen Helm öffnete. Als man ihn fragte, womit er seine übertriebene Vorsicht rechtfertige, antwortete er: „Weil die menschlichen Sinne nicht zuverlässig genug sind. Darum. Ihr denkt vielleicht, alles ist in Butter, dabei könnte es passieren, daß ihr beim nächsten tiefen Atemzug flach auf den Bauch fallt.“ Er blickte auf sein Meßgerät und sagte: „Verdammt!“ „Was ist los?“ fragte Calvert. „Das Ding ist kaputt — es schlägt zu hoch an. Komisch. Das ist mir bisher noch nie passiert. Ich werde es mit meinem Sauerstoffkreislauf testen.“ Er verband den kleinen kompakten Analysator mit dem Kontrollpunkt seines Sauerstoffgeräts und stand eine ganze Weile gedankenvoll schweigend da. Seine Gefährten beobachteten ihn mit Besorgnis: alles, was Karl beunruhigte, war äußerst ernst zu nehmen. Er löste das Meßgerät, nahm erneut eine Messung der Rama-Atmosphäre vor und rief die Kontrollstation an der Nabe an. „Skipper! Wollen Sie bitte einen O2-Test machen lassen?“ Die Pause dauerte sehr viel länger, als diese schlichte Bitte rechtfertigen konnte. Dann gab Norton Antwort: „Ich glaube, mit meinem Meßgerät ist etwas nicht in Ordnung.“ Über Mercers Gesicht breitete sich langsam ein Lächeln aus. „Fünfzig Prozent überhöht, nicht wahr?“ „Ja. Was hat das zu bedeuten?“ „Das heißt, daß wir jetzt alle unsere Helme weglegen können. Ist das nicht angenehm?“ „Ich weiß nicht“, antwortete Norton mit einer Spur des gleichen Sarkasmus in der Stimme wie Mercer. „Es wäre ja zu schön, um wahr zu sein.“ Mehr brauchte er auch nicht zu sagen. Wie alle Raumfahrer war Commander Norton von einem tiefen Argwohn gegenüber allen Dingen erfüllt, die zu schön waren, um wahr zu sein. Mercer öffnete seinen Helm einen Spalt weit und sog vorsichtig prüfend die Luft ein. Zum erstenmal war auf diesem Höhenniveau die Luft zum Atmen absolut geeignet. Der tote muffige Geruch war verschwunden; desgleichen auch die hochgradige Trockenheit, die vorher zu mehreren Fällen von Atembeschwerden geführt hatte. Die Luftfeuchtigkeit betrug jetzt erstaunlicherweise achtzig Prozent; zweifellos hatte das Auftauen der See das bewirkt. Die Luft wirkte irgendwie schwül, doch dies war nicht unangenehm. Es war wie an einem lauen Sommerabend an einer tropischen Küste, sagte sich Mercer. Während der letzten paar Tage hatte sich das Klima innerhalb von Rama geradezu dramatisch verbessert… Und warum? Die Zunahme der Luftfeuchtigkeit war kein Problem. Viel schwieriger war das überraschende Anwachsen des Sauerstoffgehalts zu erklären. Während er sich an den Abstieg machte, begann Mercer im Geiste lange Berechnungen anzustellen. Als sein Trupp die Wolkenschicht erreichte, war er noch immer nicht zu einem befriedigenden Ergebnis gelangt. Es war ein hochdramatisches Erlebnis, denn der Obergang erfolgte ganz abrupt. Eben glitten sie noch durch die klare Luft hinunter, von Zeit zu Zeit die glatten metallischen Handgriffe fester packend, um in diesem Bereich, der nur ein Viertel G besaß, nicht allzu große Geschwindigkeiten zu bekommen. Und dann schossen sie plötzlich in einen blendenden weißen Nebel hinein, und ihre Sichtweite war auf wenige Meter reduziert. Mercer bremste sich so rasch ab, daß Calvert fast in ihn hineingerast wäre — und Myron prallte tatsächlich auf Calvert auf und warf ihn beinahe von dem Geländer. „Immer mit der Ruhe, Jungs“, sagte Mercer. „Haltet so viel Abstand, daß wir uns gerade noch sehen können. Und saust nicht so schnell, falls ich plötzlich abstoppen muß, ja?“ In unheimlicher Stille glitten sie weiter durch den Nebel abwärts. Calvert konnte Mercer gerade noch als undeutlichen Schatten zehn Meter vor sich erkennen, und wenn er sich umblickte, sah er Myron in gleicher Entfernung hinter sich. Irgendwie war dies sogar noch gespenstischer als der Abstieg durch die vollkommene Finsternis der Rama-Nacht, denn damals hatten ihnen ja wenigstens die Suchscheinwerfer gezeigt, was vor ihnen lag. Aber dies hier — das war, als ob man bei Dunkelheit ins offene Meer tauchte. Es war unmöglich zu sagen, wie weit sie vorangekommen waren. Calvert vermutete, sie müßten nahezu auf der vierten Terrasse angelangt sein, als Mercer plötzlich erneut haltmachte. Als sie alle dicht beieinanderhockten, flüsterte er: „Horcht mal! Hört ihr nicht auch was?“ „Ja, doch“, sagte Myron, nachdem er eine Minute gelauscht hatte. „Es klingt wie Wind.“ Calvert war sich nicht so sicher. Er wendete den Kopf in alle möglichen Richtungen, um festzustellen, aus welcher dieses sehr schwache Rauschen stamme, das durch den Nebel zu ihnen gedrungen war. Dann gab er den hoffnungslosen Versuch auf. Sie glitten weiter abwärts, erreichten die vierte Terrasse und machten sich auf zur fünften. Das merkwürdige Geräusch wurde immer lauter — und immer unheimlicher und vertrauter. Sie hatten die Hälfte der vierten Treppe hinter sich gebracht, als Myron plötzlich ausrief: „Erkennt ihr es jetzt endlich?“ Sie hätten es natürlich längst erkennen müssen, dieses Geräusch, doch es war eben eines, das sie höchstens mit der Erde in Verbindung bringen konnten. Aus dem Nebel, aus einer Entfernung, die man nicht einmal vermuten konnte, drang das beständige Donnern fallender Wasser. Ein paar Minuten später endete die Wolkendecke so plötzlich, wie sie begonnen hatte. Sie schossen in die leuchtende Helligkeit des Rama-Tages hinaus, der durch das von den tiefhängenden Wolken reflektierte Licht noch greller leuchtete. Nun lag vor ihnen die vertraute gekrümmte Ebene — allerdings war sie nun für die Sinne und den Verstand leichter zu akzeptieren, weil man sie nicht mehr als vollen Kreis sehen konnte. Es fiel nicht allzuschwer, sich vorzustellen, daß man in ein breites Tal hineinblicke und daß die Aufwärtskrümmung der ›See‹ ja eigentlich eine horizontale sei. Sie hielten auf der fünften und vorletzten Terrasse an, berichteten, daß sie die Wolkendecke hinter sich gelassen hatten, und stellten sorgfältige Recherchen an. Soweit sie beurteilen konnten, hatte sich unter ihnen in der Ebene nichts verändert; aber droben an der nördlichen Kuppel hatte Rama ein weiteres Wunder produziert. Das war also die Ursache des Geräuschs, das sie vernommen hatten — von einer verborgenen Quelle, einige drei oder vier Kilometer über ihnen in den Wolken verborgen, stürzte ein Wasserfall herab: sie starrten minutenlang schweigend hinauf und konnten beinahe ihren Augen nicht trauen. Ihr logisches Verständnis sagte ihnen, daß auf dieser rotierenden Welt sich unmöglich irgendein fallendes Objekt geradlinig bewegen könne, und doch, die Erscheinung eines seitwärts gebogenen Wasserfalls, der Kilometer von dem Punkt direkt unter seinem Ursprung endete, war irgendwie entsetzlich unnatürlich für sie… „Wenn Galilei in diese Welt hineingeboren worden wäre — er wäre verrückt geworden, falls er versucht hätte, die Gesetze der Dynamik zu erarbeiten“, sagte Mercer endlich. „Ich habe geglaubt, daß ich sie kenne“, antwortete Calvert, „und ich hab’ trotzdem das Gefühl, daß ich durchdrehe. Werden Sie eigentlich nicht nervös, Professor?“ „Wieso denn?“ sagte Sergeant Myron. „Es handelt sich um eine vollkommen normale Demonstration des Coriolis-Effekts. Ich wünschte wirklich, ich könnte das ein paar von meinen Studenten vorführen.“ Mercer starrte gedankenverloren auf das kreisförmige Band der Zylindrischen See. „Habt ihr bemerkt, was mit dem Wasser los ist?“ fragte er endlich. „Also ja — es ist nicht mehr so blau. Ich würde es erbsengrün nennen. Was hat das zu bedeuten?“ „Vielleicht das gleiche wie auf der Erde. Laura hat dieses Meer eine ›organische Suppe‹ genannt, die nur darauf wartet, daß man sie wieder ins Leben und zum Leben zurechtschüttelt. Vielleicht ist genau das passiert.“ „In ein paar kurzen Tagen! Auf der Erde hat das Millionen Jahre gedauert!“ „Ja, dreihundertfünfundsiebzig Millionen Jahre, nach den neuesten Schätzungen. Also daher kommt der Sauerstoff. Rama hat das anaerobische Stadium im Blitztempo hinter sich gebracht und ist zur Pflanzen-Photosynthese übergegangen — und das in achtundvierzig Stunden. Ich bin neugierig, was das Ding morgen ausbrütet!“ 22. KAPITEL FAHRT AUF DER ZYLINDRISCHEN SEE Als sie den Fuß der Treppe erreichten, wartete ein neuer Schock auf sie. Zuerst hatten sie den Eindruck, als sei etwas durch das Lager gezogen, habe die Ausrüstung durcheinandergeworfen und sogar kleinere Gegenstände aufgesammelt und weggeschleppt. Doch nach einer kurzen Untersuchung wich ihr Schreck einem ziemlich beschämenden Ärger. Der Übeltäter war lediglich der Wind gewesen; zwar hatten sie vor Verlassen des Lagers alle beweglichen Gegenstände festgezurrt, doch waren bei besonders starken Böen wohl ein paar Seile gerissen. Erst nach mehreren Stunden gelang es ihnen, ihr verstreutes Eigentum wieder einzusammeln. Sonst waren keine bemerkenswerten Veränderungen zu erkennen. Selbst das Schweigen war wieder nach Rama zurückgekehrt, nun, da die kurzen Frühlingsstürme vorbei waren. Und dort draußen am Rand der Ebene lag eine ruhige See und wartete auf das erste Schiff, das in Millionen Jahren darüberhinfahren würde. „Sollte nicht ein jungfräuliches Schiff mit einer Flasche Champagner getauft werden?“ „Selbst wenn wir eine an Bord hätten, ich würde eine solche kriminelle Verschwendung nicht erlauben. Außerdem ist es sowieso zu spät. Wir haben das Ding ja schon vom Stapel gelassen.“ „Immerhin, es schwimmt. Sie haben Ihre Wette gewonnen, Jimmy. Ich zahle, sobald wir wieder auf der Erde sind.“ „Es muß einen Namen bekommen. Fällt Ihnen einer ein?“ Der Gegenstand, dem diese wenig schmeichelhaften Bemerkungen galten, tanzte in diesem Augenblick an den Stufen, die in die Zylindrische See hinabführten. Ein kleines Floß, aus sechs leeren Versorgungskanistern zusammengestückelt und von einem Leichtmetallrahmen zusammemgehalten. Die Konstruktion, der Zusammenbau in Camp Alpha und der Transport mit Hilfe abnehmbarer Räder über mehr als zehn Kilometer Ebene hatten mehrere Tage lang die gesamte Mannschaft in Anspruch genommen. Es war ein Einsatz, der sich besser bezahlt machen sollte. Der Preis war natürlich das Risiko wert. Die rätselhaften Türme New Yorks, die dort fünf Kilometer vor ihnen im schattenlosen Licht glänzten, hatten sie angelockt, seit sie Rama zum erstenmal betreten hatten. Keiner zweifelte daran, daß diese Stadt — oder was immer es sein mochte — das Herzstück dieser Welt war. Sie mußten New York erreichen, wenn sie auch sonst weiter keinen Erfolg haben würden. „Wir haben noch immer keinen Namen dafür, Skipper. Was machen wir da?“ Norton lachte, dann wurde er jedoch plötzlich ernst. „Ich habe einen Namen. Nennt es Resolution.“ „Warum?“ „So hieß eines von Kapitän Cooks Schiffen. Es ist ein guter Name. Möge sie sich seiner würdig erweisen.“ Es trat ein gedankenschweres Schweigen ein; dann fragte Sergeant Barnes, die am meisten für das geplante Vorhaben verantwortlich war, nach drei Freiwilligen. Alle Anwesenden hoben die Hand. „Tut mir leid — aber wir haben nur vier Schwimmwesten. Boris, Jimmy, Pieter — ihr habt doch alle bereits ein bißchen Segelerfahrung. Probieren wir sie also aus.“ Niemand fand es im geringsten eigenartig, daß nun ein Executive Sergeant die Dinge in die Hand nahm. Ruby Barnes besaß als einzige an Bord ein Magisterdiplom, und damit war die Sache erledigt. Sie hatte bei Regatten Trimaranboote über den Pazifik gesteuert, und es war ziemlich unwahrscheinlich, daß ein paar Kilometer ölglattes Wasser ihre Segelkünste überfordern würden. Von dem Augenblick an, als sie die See zum erstenmal erblickt hatte, war sie entschlossen gewesen, diese Fahrt zu unternehmen. In all den Tausenden von Jahren, in denen der Mensch die Gewässer seiner eigenen Welt befuhr, hatte kein Seemann sich je einer auch nur halbwegs vergleichbaren Situation gegenübergestellt gesehen. Während der vergangenen Tage war ihr ein dummer kleiner Melodiefetzen durch den Kopf gegangen, den sie nicht loswerden konnte: „Wir fahren über die Zylindrische See…“ Nun, genau das würde sie tun. Ihre Passagiere nahmen ihre Plätze auf improvisierten Klappsitzen ein, und Ruby gab Gas. Der Zwanzigkilowattmotor begann zu surren, die Kettentriebe der Untersetzung verschwammen vor den Augen, und unter den begeisterten Rufen der Zuschauer rauschte die Resolution davon. Ruby hatte gehofft, es auf fünfzehn Kilometer pro Stunde zu bringen, in Anbetracht der Ladung, doch sie würde sich auch mit allem, was über zehn Kilometer pro Stunde lag, zufriedengeben. Längs der Uferkliffs hatte man einen Kurs von einem halben Kilometer bestimmt, und sie brauchte fünfeinhalb Minuten für den Rundtrip. Wenn man die Zeit für das Wenden mitberechnete, kam man auf zwölf Stundenkilometer, und damit war sie völlig zufrieden. Ohne Motorantrieb, doch mit der Hilfe dreier energiegeladener Ruderer, die ihren geschickteren Schlag unterstützten, konnte Ruby ein Viertel dieser Geschwindigkeit erreichen. Wenn also der Motor ausfallen würde, konnten sie immer noch in ein paar Stunden zur Küste zurückkehren. Aber die Hochleistungsstromzellen konnten genug Energie liefern, um damit diese Welt zu umsegeln; außerdem hatte Ruby zwei Ersatzbatterien mitgenommen, nur um ganz sicherzugehen. Und nachdem sich nun auch die letzten Nebelspuren aufgelöst hatten, war sogar eine so vorsichtige Seglerin wie sie dazu bereit, ohne Kompaß in See zu stechen. Sie grüßte zackig, als sie an Land stieg. „Jungfernfahrt der Resolution erfolgreich beendet, Sir. Warten jetzt auf Ihre Befehle.“ „Sehr gut… Admiral. Wann können Sie in See stechen?“ „Sobald wir Proviant geladen und der Hafenmeister uns Starterlaubnis gegeben hat.“ „Dann segeln Sie also bei Tagesanbruch.“ „Aye-aye, Sir.“ Auf einer Seekarte wirken fünf Kilometer Wasser nicht allzu eindrucksvoll, doch ist es etwas ganz anderes, sich mitten darin zu befinden. Sie waren erst zehn Minuten auf See, doch die fünfzig Meter hohe Klippenwand des Nordkontinents schien bereits erstaunlich weit entfernt. Seltsamerweise schien jedoch New York kaum näher gerückt… Doch schenkten sie dem Land nicht allzuviel Aufmerksamkeit; sie waren noch viel zu stark von der Wunderbarkeit dieses Meeres fasziniert. Die nervösen Witze, die den Beginn ihrer Fahrt begleitet hatten, waren längst vergessen: dieses neue Erlebnis war einfach überwältigend. Norton dachte darüber nach, daß Rama jedesmal, wenn er bestimmt meinte, sich an diese Innenwelt gewöhnt zu haben, irgendein neues Wunder produzierte. Wie die Resolution so mit gleichmäßigem Brummen dahinglitt, wirkte es, als sei ihre Besatzung im Tal einer gigantischen Welle gefangen — einer Woge, die sich zu beiden Seiten emporkrümmte, bis sie senkrecht stand, dann überkragte, bis sich die beiden Flanken in einem flüssigen Bogen sechzehn Kilometer über ihren Häuptern zusammenschlossen. Aller Logik und Einsicht zum Trotz vermochte keiner der Seefahrer sich für lange von dem Eindruck freizumachen, daß diese Millionen Tonnen Wasser jede Minute donnernd vom Himmel herabstürzen könnten. Dennoch fühlten sie im großen und ganzen eigentlich Heiterkeit: eine abenteuerliche Spannung, ohne daß wirklich Gefahr drohte. Es sei denn, daß die See selbst mit neuen Überraschungen aufwartete. Mit dieser Möglichkeit war unbedingt zu rechnen, denn wie Mercer richtig vermutet hatte, lebte das Meer nun. Jeder Schwapp Wasser enthielt Tausende von kugelförmigen einzelligen Mikroorganismen, ähnlich den frühesten Planktonformen in den Ozeanen der Erde. Und doch gab es da sehr viele verwirrende Unterschiede: sie hatten keinen Zellkern, und es fehlten ihnen auch viele der anderen Minimalvoraussetzungen, die selbst die allerprimitivsten Lebensformen der Erde aufwiesen. Und obwohl Laura Ernst — die sich neben ihrer Aufgabe als Schiffsärztin nun auch noch als Forscherin betätigte — nachgewiesen hatte, daß diese Zellen tatsächlich Sauerstoff produzierten, gab es doch viel zuwenig davon, als daß durch sie der Zuwachs in der Atmosphäre Ramas erklärt werden konnte. Sie hätten milliardenfach vorhanden sein müssen, nicht bloß zu Tausenden. Dann stellte Laura fest, daß ihre Zahl rapide schrumpfte, daß sie also während der ersten Stunden der Morgendämmerung auf Rama sehr viel zahlreicher gewesen sein mußten. Es hatte den Anschein, als habe hier eine kurze Explosion von Leben stattgefunden, eine trillionenfach verkürzte Wiederholung der Erdfrühgeschichte. Nun war dieser Ausbruch möglicherweise erschöpft; die dahintreibenden Mikroorganismen lösten sich auf und gaben dem Meer ihre chemische Fracht wieder zurück. „Wenn ihr euch schwimmend retten müßt“, hatte Dr. Ernst die Seefahrer gewarnt, „dann laßt den Mund zu. Ein paar Tropfen würden ja nicht viel ausmachen — wenn ihr sie gleich wieder ausspuckt. Aber alle diese unheimlichen organometallischen Salze summieren sich zu einem ziemlich giftigen Paket, und ich würde nicht gern ein Gegenmittel zusammenbrauen müssen.“ Glücklicherweise schien diese Gefahr höchst unwahrscheinlich zu sein. Die Resolution würde auch dann noch schwimmfähig bleiben, wenn einige der Schwimmtanks leckschlagen würden. (Joe Calvert hatte, als man ihm davon erzählte, düster gemurmelt: „Denkt an die Titanic!“) Aber selbst wenn sie sinken sollten, würden die primitiven, aber soliden Schwimmwesten ihre Köpfe über Wasser halten. Laura hatte sich zwar nicht eindeutig dazu äußern wollen, doch vertrat sie den Standpunkt, ein paar Stunden Kontakt mit dem Wasser der See wären wohl nicht lebensgefährlich; allerdings riet sie davon ab, es zu versuchen. Nach zwanzigminütigem steten Gleiten war New York nicht länger eine ferne Insel. Es gewann Realität, und Einzelheiten, die sie bisher nur durch Teleskope und auf vergrößerten Fotos hatten erkennen können, enthüllten sich als massive, konkrete Gebilde. Es wurde nun plötzlich deutlich, daß die ›City‹ wie so vieles auf Rama eine dreifältige Struktur besaß: sie bestand aus drei identischen kreisförmigen Komplexen oder Hochbauten, die sich über einem langen ovalen Fundament erhoben. Fotos, die man von der Nabe aus gemacht hatte, ließen darauf schließen, daß jeder Gebäudekomplex in sich wieder in drei gleiche Bestandteile unterteilt war, wie ein Kuchen, den man in Sektoren von Grad aufgeteilt hat. Dies würde die Explorationsarbeit beträchtlich erleichtern; aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie nur ein Neuntel von New York untersuchen müssen, um das Ganze gesehen zu haben. Selbst das war jedoch noch ein beachtliches Unterfangen: es bedeutete, daß sie mindestens einen Quadratkilometer voller Gebäude und Maschinen zu untersuchen hatten, von denen einige sich Hunderte von Metern in die Luft erhoben. Die Ramaner hatten allem Anschein nach die Kunst des verdreifachten Überflusses in hohem Maße perfektioniert. Dies zeigte sich an dem Luftschleusensystem, der Treppenkonstruktion an der Nabe, an den künstlichen Sonnen. Und wo es wirklich wichtig wurde, waren sie sogar noch einen Schritt weitergegangen: New York war anscheinend ein Beispiel für ein dreimal dreifaches Übermaß. Ruby steuerte die Resolution auf das zentral gelegene Gebäude zu, vor dem vom Wasser aus eine Treppenflucht direkt bis zur Krone der Mauer oder des Kais führte, der die Insel umgab. Es gab sogar einen bequem erreichbaren Vertäuungspoller, an dem Boote festmachen konnten. Ruby wurde ganz aufgeregt, als sie dies sah. Jetzt würde sie keine Ruhe mehr haben, ehe sie nicht eines der Fahrzeuge gefunden hatte, in denen die Ramaner über ihre so außergewöhnliche See fuhren. Norton setzte als erster den Fuß an Land. Er sah sich nach seinen drei Begleitern um und sagte: „Wartet hier auf dem Floß, bis ich oben auf der Mauer angekommen bin. Wenn ich winke, folgen mir Pieter und Boris. Ruby, Sie bleiben am Ruder, damit wir sofort losziehen können, falls es nötig sein sollte. Wenn mir irgendetwas zustößt, gebt Karl Bericht und befolgt seine Anordnungen. Geht mit Verstand vor — aber keine Heldentaten. Verstanden?“ „Ja, Skipper. Viel Glück!“ Commander Norton glaubte eigentlich nicht an das Glück; er begab sich niemals in eine schwierige Situation, ohne zuvor alle damit verbundenen Faktoren analysiert und sich die Rückzugslinie gesichert zu haben. Doch auch hier zwang ihn Rama einmal mehr, seine so hochgeschätzten Regeln zu durchbrechen. Hier war nahezu jeder Faktor eine Unbekannte — so unbekannt, wie es der Pazifik und das Große Barriereriff vor dreieinhalb Jahrhunderten für seinen Helden gewesen waren… Ja, er konnte wirklich verdammt viel Glück gebrauchen. Die Treppe war praktisch ein Gegenstück zu jener, die sie am andern Ufer der See herabgestiegen waren; zweifellos beobachteten ihn die Freunde in direkter Linie durch ihre Teleskope von dort drüben. Und direkt oder ›gerade‹ war jetzt sogar der richtige Ausdruck, denn in dieser einen Richtung, parallel zur Achse von Rama, war die See wirklich vollkommen flach. Es war leicht möglich, daß sie damit das einzige Gewässer des Universums war, auf welches dies zutraf, denn auf allen anderen Welten müssen Meere oder Seen sich der Oberfläche einer Kugel anpassen und haben nach allen Richtungen gleiche Krümmung. „Fast an der Spitze“, berichtete er für das Logbuch und an seinen gespannt lauschenden Stellvertreter in fünf Kilometer Entfernung. „Alles noch immer völlig still — Strahlung normal. Ich halte den Zähler über den Kopf, für den Fall, daß diese Mauer als Schutzschild für irgendwas dient. Und wenn es auf der anderen Seite feindselige Wilde gibt, dann werden sie zunächst darauf schießen.“ Er scherzte natürlich. Und doch — warum ein Risiko eingehen, wenn es sich ebenso leicht vermeiden ließ? Als er die letzte Stufe erreicht hatte, sah er, daß der flache Damm etwa zehn Meter breit war; die Innenböschung hinab führten abwechselnd Rampen und Treppen zu dem zwanzig Meter tiefer liegenden Grund der City. Er stand wirklich auf der Krone einer hohen Mauer, die New York völlig umkreiste. So konnte er es sich wie von einer Tribüne aus betrachten. Der Anblick war so verwirrend und vielgestaltig, daß er als erstes einmal mit der Kamera langsam ein Panorama einfing. Dann erst winkte er seinen Gefährten zu und funkte über die See zurück: „Keinerlei Anzeichen von Aktivität — alles still. Kommt rauf — wir fangen mit der Untersuchung an.“ 23. KAPITEL NEW YORK/RAMA Es war keine Stadt — es war eine Maschine. Norton war nach zehn Minuten zu diesem Schluß gelangt, und er sah auch jetzt, nachdem sie die ganze Insel durchquert hatten, keinen Grund, seine Meinung zu ändern. Eine Stadt — gleichgültig von welcher Art ihre Bewohner sein mochten — mußte zweifellos irgendeine Art von Versorgung und Bequemlichkeiten aufweisen: hier war nichts dergleichen zu entdecken, außer es befand sich unter der Erde. Und wenn dies der Fall war, wo waren dann die Zugänge, die Treppen, die Aufzüge? Er hatte nichts finden können, das auch nur entfernt an eine schlichte Tür erinnert hätte… Am nächsten kam diesem Platz hier noch ein riesiger chemischer Produktionsbetrieb, den er einmal auf der Erde gesehen hatte. Es gab hier jedoch keine Stapel von Rohstoffen, kein Anzeichen für ein Transportsystem, um Material zu befördern. Auch konnte er sich nicht vorstellen, wo das Fertigprodukt herauskommen sollte — und noch weniger, was dieses Produkt vielleicht sein könnte. Das Ganze war ziemlich verwirrend und mehr als frustrierend. „Hat jemand Lust, eine Vermutung zu äußern?“ sagte er zu jedem, der ihn hören mochte. „Wenn das da eine Fabrik ist, was wird dann produziert? Und woher bekommt sie ihre Rohstoffe?“ „Ich habe einen Vorschlag, Skipper“, sagte Karl Mercer drüben am anderen Ufer. „Angenommen, der Rohstoff ist die See. Nach Meinung unserer Doktorin enthält die so ziemlich alles, was man sich nur vorstellen kann.“ Die Antwort war plausibel, und auch Norton hatte sie sich bereits überlegt gehabt. Es konnte leicht unterirdische Rohrsysteme zur See geben — eigentlich mußte es sie sogar geben, weil jede nur vorstellbare chemische Fabrik große Wassermengen benötigen würde. Doch plausible Antworten waren ihm verdächtig; sie erwiesen sich zu oft als falsch. „Ein guter Gedanke, Karl. Aber was macht New York mit seinem Seewasser?“ Lange Zeit erfolgte keine Antwort, weder vom Floß noch von der Nabe, noch von der Nordebene. Dann meldete sich unerwartet eine Stimme. „Das ist leicht, Skipper. Aber ihr werdet mich alle auslachen.“ „Sicher nicht, Ravi. Legen Sie los.“ Sergeant Ravi McAndrews, Chefsteward und Pfleger der Simps, war die letzte Person im Schiff, die normalerweise an einer Diskussion über technische Fragen teilnahm. Sein Intelligenzquotient war bescheiden, seine wissenschaftlichen Kenntnisse minimal, doch er war kein Dummkopf und verfügte über einen natürlichen Scharfsinn, den jedermann respektierte. „Also, sicher ist es eine Fabrik, Skipper, und vielleicht liefert ja auch die See die Rohstoffe… immerhin war das ja auch auf der Erde so, wenn auch ein bißchen anders… Ich glaube, New York ist eine Fabrik, in der — Ramaner hergestellt werden.“ Irgendwo kicherte einer, verstummte jedoch bald und gab sich nicht zu erkennen. „Wissen Sie, Ravi“, sagte der Kommandant schließlich, „diese These ist so verrückt, daß sie richtig sein könnte. Und ich bin nicht sicher, daß ich sie gern überprüfen möchte… Jedenfalls nicht, bevor wir wieder auf dem Festland sind.“ Dieses stellare New York war in etwa so groß wie die Insel Manhattan, aber seine Geographie war eine völlig andere. Es gab nur wenige gerade Traversen; statt dessen ein Labyrinth von kurzen konzentrisch angeordneten Bögen, durch radiale Speichen miteinander verbunden. Glücklicherweise war es im Innern Ramas unmöglich, die Orientierung zu verlieren: ein Blick zum Himmel genügte, um die Nord-Süd- Achse dieser Welt festzustellen. Sie hielten fast an jeder Kreuzung an und machten Panoramafotos. Nach systematischer Auswertung dieser Hunderte von Bildern würde es eine zwar mühselige, aber doch recht einfache Arbeit sein, ein genaues Modell dieser Stadt im verkleinerten Maßstab zu konstruieren. Norton vermutete, daß das Puzzlespiel, das sich daraus entwickeln würde, den Wissenschaftlern mehrerer Generationen zu tun geben würde. Es fiel übrigens hier weit schwerer, sich an die Stille zu gewöhnen als draußen auf der Ebene von Rama. Eine Stadtmaschine mußte eigentlich geräuschvoll sein; und doch hörte man nicht das leiseste elektrische Summen, nicht das geringste Flüstern von mechanischer Bewegung. Mehrmals legte Norton das Ohr auf den Boden oder gegen die Wand eines Gebäudes und lauschte angespannt. Er konnte nur das Dröhnen seines eigenen Blutes vernehmen. Die Maschinen schliefen: sie klickten noch nicht einmal im Leerlauf. Würden sie jemals wieder erwachen und, wenn ja, zu welchem Zweck? Alles war in hervorragendem Zustand, wie alles bisher. Man konnte sich leicht vorstellen, daß eine geschlossene Schaltung in einem geduldig wartenden versteckten Computer dieses ganze Labyrinth wieder zum Leben erwecken könnte. Als sie schließlich das andere Ende der City erreicht hatten, kletterten sie zum Kamm der Kaimauer hinauf und blickten über der südlichen Teil der See hinaus. Lange starrte Norton die fünfhundert Meter hohe Klippe an, die ihnen den Zugang zu fast der Hälfte von Rama verwehrte — der Hälfte, die nach ihren Erkundungen per Teleskop die abwechslungsreichere und vielgestaltigere war. Aus diesem Blickwinkel wirkte die Klippe wie eine bedrohliche schwarze Wand, wie eine riesige Gefängnismauer, die einen ganzen Kontinent umschloß. Auf ihrer gesamten Länge zeigte sich nirgends eine Treppe oder eine andere Aufstiegsmöglichkeit. Er fragte sich, wie wohl die Ramaner von New York aus ihren Südkontinent erreicht hatten. Vielleicht gab es unter der See ein Transportsystem, aber Flugzeuge mußten sie auch gehabt haben; hier in der Stadt gab es zahlreiche freie Flächen, die sich als Landeplätze eigneten. Es würde sie sehr viel weiterbringen, wenn sie ein Fahrzeug der Ramaner entdeckten — besonders wenn sie noch herausfänden, wie es benutzt wurde. (Aber würde irgendeine denkbare Energiequelle nach mehreren hunderttausend Jahren noch funktionieren?) Es gab hier zahlreiche Gebäude, die ihrem funktionellen Aussehen nach Hangars oder Garagen sein konnten, doch waren sie alle glatt und fensterlos, als wären sie versiegelt worden. Früher oder später, hatte Norton sich finster gesagt, werden wir doch Sprengstoff und Laserstrahlen einsetzen müssen. Aber er war entschlossen, diese Entscheidung bis zum letzten Termin aufzuschieben. Daß er die Anwendung roher Gewalt nach Möglichkeit zu vermeiden suchte, war zum Teil auf Stolz, zum Teil auf Furcht zurückzuführen. Er wollte sich nicht wie ein technischer Barbar aufführen, der zertrümmerte, was er nicht begriff. Immerhin war er ohne Einladung in diese Welt eingedrungen und mußte sich wohl dementsprechend benehmen. Und was die Furcht betraf — so war das vielleicht ein zu starkes Wort; Befürchtung traf vielleicht eher. Die Ramaner schienen alles vorausgeplant zu haben, und es drängte ihn nicht danach zu entdecken, welche Vorsichtsmaßregeln sie zum Schutz ihres Eigentums getroffen hatten. Wenn er zum Kontinent zurücksegelte, würde er dies mit leeren Händen tun. 24. KAPITEL DIE LIBELLE Leutnant James Pak war der rangniedrigste Offizier an Bord der Endeavour und erst zum viertenmal auf Mission im fernen Weltraum. Er war ehrgeizig und sollte auch bald befördert werden; aber er hatte sich eines ernsten Vergehens gegen die Vorschriften schuldig gemacht. Es war also kein Wunder, daß er lange hin und her überlegte, ehe er sich entschloß. Es war ein Wagnis, und wenn er das Spiel verlor, konnte er in große Schwierigkeiten kommen. Er riskierte dabei möglicherweise nicht nur seine Karriere, sondern vielleicht auch Kopf und Kragen. Aber wenn es gelang, würde er ein Held sein. Was schließlich den Ausschlag gab, war keines dieser Argumente, sondern die Gewißheit, daß er sonst bis an sein Lebensende über diese verpaßte Gelegenheit nachdenken würde. Trotzdem war er noch immer nicht ganz entschlossen, als er den Kapitän um eine Unterredung unter vier Augen bat. Was ist es denn diesmal? fragte sich Norton, während er den unsicheren Gesichtsausdruck des jungen Offiziers studierte. Er erinnerte sich an das heikle Gespräch mit Boris Rodrigo; nein, so was würde es bestimmt nicht sein. Jimmy war zweifellos nicht religiös, die einzigen Interessen, die er je außerhalb seiner Arbeit gezeigt hatte, waren Sport und Sex, wenn möglich miteinander kombiniert. Um Sport konnte es wohl kaum gehen, und Norton hoffte nur, daß es nicht das letztere war. Er hatte mit den meisten Problemen zu tun gehabt, die einem Kommandierenden Offizier in diesem Bereich unterkommen können — mit Ausnahme des klassischen Falls einer unvorhergesehenen Geburt während einer Mission. Obwohl darüber unzählige Witze gerissen wurden, war diese Situation noch nie eingetreten; doch angesichts der allgemeinen Laxheit war das wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit. „Nun, Jimmy, was ist los?“ „Ich habe eine Idee, Commander. Ich weiß, wie man den Südkontinent und sogar den Südpol erreichen kann.“ „Ich höre. Wie wollen Sie das anstellen?“ „Hm — ich fliege hin.“ „Jimmy, mir sind mindestens fünf derartige Vorschläge unterbreitet worden — und mehr, wenn man die verrückten Anregungen von der Erde mitrechnet. Wir haben die Möglichkeit überprüft, ob wir unsere Antriebsdüsen an den Raumanzügen umbauen könnten, doch der Luftsog würde sie ganz hoffnungslos unwirksam machen. Sie würden keinen Treibstoff mehr haben, ehe sie auch nur zehn Kilometer weit gekommen sind.“ „Das weiß ich. Aber es gibt eine andere Lösung.“ Leutnant Paks Haltung drückte eine Mischung von vollkommener Zuversicht und kaum unterdrückter Nervosität aus. Norton war einigermaßen verwirrt. Worüber machte sich der Junge bloß solche Sorgen? Er mußte seinen Kommandanten doch gut genug kennen und wissen, daß kein vernünftiger Vorschlag abgelehnt würde. „Nun, fahren Sie fort. Wenn es funktioniert, werde ich dafür sorgen, daß Ihre Beförderung rückwirkend durchgeht.“ Dieses kleine halb scherzhafte Versprechen kam nicht so gut an, wie er gehofft hatte. Jimmy lächelte ihn ziemlich schief an, begann mit ein paar Fehlstarts und entschloß sich dann, das Thema auf indirektem Wege anzugehen. „Sie wissen doch, Commander, daß ich im vergangenen Jahr an der Lunar-Olympiade teilgenommen habe?“ „Natürlich. Tut mir leid, daß Sie nicht gesiegt haben.“ „Ich hatte eine schlechte Ausrüstung; ich weiß, was schiefgelaufen ist. Freunde von mir auf dem Mars haben heimlich daran weitergearbeitet. Wir wollen allen eine Überraschung bereiten.“ „Mars? Aber ich wußte gar nicht…“ „Es wissen auch nur wenige Leute davon — die Sportart ist dort noch ziemlich neu; man hat sie nur im Xante-Sportpalast ausprobiert. Doch auf dem Mars gibt es die besten Aerodynamiker. Wenn man in dieser Atmosphäre fliegen kann, dann kann man überall fliegen. Meine Idee war also, wenn die Marsianer unter Einsatz ihres ganzen Know-how eine gute Maschine bauen könnten, dann würde die auf dem Mond wirklich was leisten, wo die Schwerkraft nur halb so groß ist.“ „Das klingt vernünftig, aber was nützt das uns?“ Norton begann etwas zu ahnen, doch er wollte Jimmy genügend Zeit lassen. „Nun, ein paar Freunde von mir in Lowell City und ich haben ein Syndikat gebildet. Sie haben einen voll aerobatischen Flieger konstruiert mit ein paar Verbesserungen, von denen niemand eine Ahnung hat. Bei Mondschwerkraft müßte er unter der Olympischen Kuppel eine Sensation hervorrufen.“ „Und Sie gewinnen damit die Goldmedaille.“ „Ich hoffe schon.“ „Sehen wir mal, ob ich Ihren Gedankengängen richtig folge. Ein Flugrad, das bei der Lunar- Olympiade mitmachen könnte, wo ein Sechstel G herrscht, müßte in Rama an einer Stelle, wo überhaupt keine Schwerkraft herrscht, noch weit sensationeller sein. Man könnte genau auf der Achse vom Nord- zum Südpol und wieder zurück fliegen.“ „Jawohl — ganz leicht. Ohne Unterbrechung würde die erste Hälfte des Flugs drei Stunden dauern. Aber natürlich könnte man nach Belieben Ruhepausen einlegen, solange man sich in der Nähe der Achse hält.“ „Es ist eine brillante Idee, und ich beglückwünsche Sie dazu. Was für ein Jammer, daß Flugräder keine reguläre Ausrüstung bei Space Survey sind.“ Jimmy schien nach Worten zu ringen. Er machte mehrmals den Mund auf, doch es kam kein Ton hervor. „All right, Jimmy. Nur aus krankhafter Neugier und strikt inoffiziell, sagen Sie mir, wie haben Sie das Ding an Bord geschmuggelt?“ „Arrh — als ›Freizeitgerät‹.“ „Nun, gelogen haben Sie nicht. Und wie steht’s mit dem Gewicht?“ „Nur zwanzig Kilo.“ „Nur! Na ja, immerhin nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe. Tatsächlich bin ich überrascht, daß man ein so leichtes Rad bauen kann.“ „Manche hatten sogar bloß fünfzehn, aber die waren zuwenig stabil und klappten meistens zusammen, wenn sie einen Turn flogen. Aber diese Gefahr besteht bei meiner Libelle nicht. Wie ich schon sagte, sie ist voll aerobatisch.“ „Libelle — ein hübscher Name. Aber jetzt sagen Sie mir genau, wie Sie sie einsetzen wollen. Dann kann ich entscheiden, ob eine Beförderung oder ein Kriegsgericht angebracht ist. Oder beides.“ 25. KAPITEL DER JUNGFERNFLUG DER LIBELLE Libelle war sicher ein passender Name. Die langen spitz zulaufenden Flügel waren nahezu unsichtbar, nur wenn das Licht aus bestimmtem Winkel auf sie traf, reflektierten sie es in Regenbogenfarben. Es wirkte, als hätte man eine Seifenblase um ein feines Netzwerk von Aerofoliestücken gehüllt; die Hülle dieses kleinen Fliegers bestand aus einem organischen Film, der nur ein paar Moleküle dick, jedoch fest genug war, um auf einem Flug von fünfzig Kilometer pro Stunde die Bewegung zu kontrollieren und zu lenken. Der Pilot — er war gleichzeitig Energiequelle und Steuersystem — saß auf einem winzigen Stühlchen im Schwerkraftzentrum, halb zurückgelehnt, um den Luftwiderstand zu verringern. Die Steuerung erfolgte mittels eines einzigen Knüppels, der vor und zurück, nach links und rechts bewegt werden konnte; das einzige ›Instrument‹ war ein beschwertes, an der Leitkante befestigtes Stück Band zur Anzeige der relativen Windrichtungen. Sobald der Flieger an der Nabe zusammengebaut war, ließ Jimmy-Pak keinen mehr in die Nähe. Grobes Zugreifen würde eventuell eines der einfibrigen Konstruktionsteile zerbrechen, und diese schimmernden Flügel lockten neugierige Finger geradezu unwiderstehlich an. Man konnte es kaum fassen, daß da wirklich etwas Stoffliches war… Während er zusah, wie Jimmy in das Wunderwerk kletterte, kamen Commander Norton plötzlich Bedenken. Sollte nun eine von diesen hauchdünnen Verstrebungen brechen, wenn die Libelle jenseits der Zylindrischen See war, würde es für Jimmy keinen Weg zurück geben — selbst wenn er eine glatte Landung zustande brachte. Außerdem durchbrachen sie eine der heiligsten Regeln der Weltraumerkundung: ein Mann würde sich allein auf unbekanntes Gebiet begeben, wo keine Hilfe möglich war. Der einzige Trost war, daß er ständig unter Sicht- und Radarkontrolle sein würde und man genau wüßte, was ihm passierte, falls ihm ein Unglück zustieß. Aber die Gelegenheit war einfach zu günstig, um sie ungenutzt verstreichen zu lassen; es wäre geradezu eine Herausforderung an die Götter gewesen, wenn man diese vielleicht einzige wirkliche Chance vernachlässigen würde, das andere Ende von Rama zu erreichen und die Geheimnisse des Südpols aus der Nähe zu betrachten. Jimmy wußte, was er wagte, er wußte es weit besser, als irgendeiner aus der Besatzung es ihm hätte sagen können. Es war eben genau das Risiko, das man eingehen mußte; und wenn es schiefging, dann war das eben Pech im Spiel. Man konnte nicht immer gewinnen… „Hören Sie mir jetzt gut zu, Jimmy“, sagte Stabsärztin Kapitänleutnant Ernst. „Es ist äußerst wichtig, daß Sie sich nicht übermäßig verausgaben. Denken Sie daran, daß die Sauerstoffmenge hier an der Achse noch immer ziemlich gering ist. Wenn Sie irgendwann außer Atem geraten, halten Sie an und hyperventilieren Sie dreißig Sekunden lang — aber nicht länger.“ Jimmy nickte wie geistesabwesend und überprüfte die Leitwerke. Das ganze Seitenleitwerk, das aus einem einzigen Stück am Ende eines Auslegers fünf Meter hinter dem rudimentären Cockpit bestand, begann sich zu drehen; dann bewegten sich die klappenförmigen Querruder auf der Mitte der Flügel abwechselnd auf und nieder. „Soll ich den Propeller anwerfen?“ fragte Joe Calvert, unfähig, die Erinnerungen an zweihundert Jahre alte Kriegsfilme zu unterdrücken. „Zündung! Kontakt!“ Wahrscheinlich wußte niemand außer Jimmy, wovon er sprach, doch es half, die Spannung zu mindern. Sehr langsam begann Jimmy die Pedale zu treten. Der breite dünne Fächer der Luftschraube — wie beim Flügel auch hier ein zartes Skelett, von einem schimmernden Film überzogen — fing an zu kreisen. Nach ein paar Umdrehungen war sie schon nicht mehr zu sehen — und dann war die Libelle gestartet. Sie flog in gerader Linie von der Nabe langsam die Achse Ramas entlang. Nach einigen hundert Metern hörte Jimmy auf zu treten; dieses eindeutig aerodynamische Fahrzeug bewegungslos in der Luft hängen zu sehen, war ein äußerst seltsamer Anblick. Es mußte das erstemal sein, daß so etwas überhaupt geschah, höchstens war es noch innerhalb einer der größeren Raumstationen möglich, und das auch nur sehr begrenzt. „Wie fühlt sie sich an?“ rief Norton. „Reaktion gut, Stabilität gering. Aber ich weiß, woran das liegt: keine Schwerkraft. Einen Kilometer weiter unten wird es besser klappen.“ „He, Moment mal, ist das auch sicher?“ Wenn Jimmy an Höhe verlor, würde er seinen Hauptvorteil aufgeben. Solange er genau auf der Achse blieb, waren er und die Libelle völlig gewichtslos. Er konnte ohne Anstrengung schweben und sogar ein Nickerchen machen, wenn er Lust dazu hatte. Doch sobald er sich von der Mittellinie fortbewegte, um die Rama rotierte, machte sich das Pseudogewicht der Fliehkraft wieder bemerkbar. Und damit würde er, wenn er sich nicht auf dieser Höhe halten konnte, immer mehr an Höhe verlieren und gleichzeitig an Gewicht zunehmen. Das würde ein Beschleunigungsprozeß sein, der in einer Katastrophe enden konnte. Die Schwerkraft unten auf der Ebene Ramas war zweimal höher als die, in der die Libelle ihrem Konstruktionsplan gemäß operieren konnte. Jimmy würde vielleicht eine sichere Landung zustande bringen, aber er würde ohne Zweifel nie mehr starten können. Doch Jimmy hatte sich das alles bereits genau überlegt und antwortete ziemlich zuversichtlich: „Ich kann es bei einem Zehntel G ganz leicht schaffen. Und sie läßt sich in der dichteren Luft leichter steuern.“ In einer langsamen, gemächlichen Spirale glitt die Libelle über den Himmel; sie folgte ungefähr der Linie der Treppe Alpha, die in die Ebene hinabstieg. Aus manchem Winkel war das kleine Flugrad nahezu unsichtbar: es sah dann aus, als ob Jimmy mitten in der leeren Luft säße und wild vor sich hin strampelte. Manchmal legte er einen Spurt von bis zu dreißig Stundenkilometern ein, machte dann eine Pause, um die Steuerung in den Griff zu bekommen, bevor er wieder beschleunigte. Und er achtete stets sehr sorgfältig darauf, sich dem gekrümmten Ende Ramas in sicherem Abstand fernzuhalten. Bald wurde deutlich, daß sich die Libelle in geringerer Höhe tatsächlich weit besser steuern ließ: sie rollte dort nicht mehr in die verschiedensten Neigungswinkel, sondern stabilisierte sich, so daß ihre Flügel parallel zu der sieben Kilometer tiefer liegenden Ebene standen. Jimmy führte mehrere weite Kreisbahnen durch, dann begann er wieder aufzusteigen. Schließlich hielt er ein paar Meter über seinen wartenden Kameraden an und stellte, ein wenig verspätet, fest, daß er nicht so recht wußte, wie er sein Spinngewebe-Vehikel landen sollte. „Sollen wir ein Seil werfen?“ fragte Norton mit halb ernster Stimme. „Nein, Skipper, ich muß das schon selbst hinkriegen. Am andern Ende wird mir auch keiner helfen.“ Er saß eine Weile nachdenklich da, dann begann er die Libelle mit kurzen Kraftanstößen vorsichtig auf die Nabe zuzubewegen. Sie verlor zwischen jedem Anstoß rasch an Schwung, der Luftwiderstand brachte sie immer wieder zum Stillstand. Als er nur noch fünf Meter weit weg war und das Luftrad sich kaum mehr vorwärtsbewegte, ging Jimmy ›von Bord‹. Er ließ sich auf die nächstgelegene Sicherungslinie im Netz der Nabe zutreiben, packte sie und schwang sich rechtzeitig herum, um das herantreibende Flugzeug mit den Händen abzufangen. Das Manöver klappte so reibungslos, daß alle applaudierten. Jimmy beeilte sich, alles Lob abzuwehren. „Das war schlampig“, sagte er. „Aber jetzt weiß ich wenigstens, wie ich es anstellen muß. Ich nehme eine Haftbombe an einer Zwanzigmeterleine mit. Dann kann ich mich überall heranziehen, wo es mir paßt.“ „Ihren Puls, Jimmy“, befahl die Ärztin, „und pusten Sie in diese Tüte. Außerdem brauche ich eine Blutprobe. Hatten Sie irgendwelche Atembeschwerden?“ „Nur in dieser Höhe. Hallo, wozu brauchen Sie denn eine Blutprobe?“ „Blutzuckergehalt. Dann kann ich sagen, wieviel Energie Sie verbraucht haben. Wir müssen sichergehen, daß Sie genug Treibstoff für die Mission mitnehmen können. Was ist übrigens der Rekord im Dauer-Radfliegen?“ „Zwei Stunden und fünfundzwanzig Minuten, drei-Komma-sechs Sekunden. Auf dem Mond natürlich — auf einer Strecke von zwei Kilometern in der Olympia-Kuppel.“ „Und Sie glauben, Sie können es sechs Stunden durchhalten?“ „Aber leicht, weil ich ja jederzeit eine Pause einlegen kann. Radfliegen auf dem Mond ist mindestens doppelt so hart als hier.“ „Okay, Jimmy, marsch zurück ins Labor. Ich werde Ihnen Starterlaubnis oder Startverbot geben, sobald ich die Proben untersucht habe. Ich will Ihnen zwar keine falschen Hoffnungen machen, aber ich glaube, Sie können es schaffen.“ Ein breites, zufriedenes Lächeln breitete sich auf Jimmy Paks elfenbeinweißen Zähnen aus. Als er der Stabsärztin Kapitänleutnant Ernst zur Luftschleuse folgte, rief er zu seinen Gefährten zurück: „Laßt bitte die Finger davon! Ich will nicht, daß jemand seine Faust durch die Flügel steckt!“ „Ich werde dafür sorgen, Jimmy“, versprach Commander Norton. „Die Libelle ist Sperrgebiet für alle — mich eingeschlossen.“ 26. KAPITEL DIE STIMME RAMAS Wie groß sein Abenteuer wirklich war, das ging Jimmy Pak erst auf, als er die Küste der Zylindrischen See erreichte. Bisher hatte er über vertrautem Gelände geschwebt und hätte jederzeit sicher landen und in ein paar Stunden zur Basis zurückgehen können. Diese Möglichkeit bestand nun nicht mehr. Wenn er ins Meer stürzte, würde er wahrscheinlich in dem giftigen Wasser auf ziemlich unangenehme Weise ertrinken. Und selbst wenn er auf dem Südkontinent sicher landete, wäre eine Rettung vielleicht unmöglich, bevor die Endeavour sich von der auf die Sonne gerichteten Bahn Ramas absetzen mußte. Er war sich auch völlig darüber im klaren, daß die vorhersehbaren Katastrophen mit größter Wahrscheinlichkeit nicht eintreffen würden. Die völlig unbekannte Region, die er überfliegen würde, konnte indes mit allen möglichen Überraschungen aufwarten. Angenommen, es gab hier Flugwesen, die etwas gegen sein Eindringen hatten? Er würde sich nur ungern auf ein Gefecht mit einem Ding, das größer war als eine Taube, einlassen. Ein paar gezielte Schnabelhiebe konnten die Aerodynamik der Libelle vernichten. Aber ohne Wagnis gab es eben auch keinen Erfolg — kein abenteuerliches Gefühl. Millionen Menschen hätten gern mit ihm getauscht in diesem Augenblick. Er betrat nicht nur Boden, der bisher von niemandem betreten worden war — sondern der auch von keinem mehr betreten werden würde. In der ganzen Menschheitsgeschichte sollte er das einzige menschliche Wesen sein, das die Südregionen Ramas besuchte. Das mußte er sich immer klarmachen, wenn er die Furcht durch seine Gedanken streifen fühlte. Er war mittlerweile daran gewöhnt, mitten in der Luft zu hocken und die Welt um sich herum zu betrachten. Da er auf eine Position zwei Kilometer unter der Mittelachse herabgestiegen war, hatte er nun eine deutliche Orientierung nach ›unten‹ und ›oben‹. Der Boden lag nur sechs Kilometer unter ihm. Die ›City‹ von London hing dort oben nahe dem Zenit; New York dagegen stand aufrecht direkt vor ihm. „Libelle“, kam es von der Kontrollstation an der Nabe, „Sie geraten ein bißchen zu tief. Zweiundzwanzighundert Meter unter der Achse.“ „Danke“, antwortete er. „Ich steige wieder. Sagt mir Bescheid, wenn ich wieder auf zwanzig bin.“ Darauf würde er achten müssen. Es bestand der natürliche Trend, an Höhe zu verlieren — und er verfügte über keine Instrumente, von denen er hätte ablesen können, wo genau er sich befand. Wenn er sich von der Nullgravität an der Achse zu weit entfernte, würde er es vielleicht nicht wieder fertigbringen, dorthin zurückzusteigen. Glücklicherweise war der Spielraum für Irrtümer ziemlich groß, und außerdem beobachtete immer jemand durch das Teleskop an der Nabe, wie er vorankam. Er befand sich nun weit draußen über dem Meer und strampelte gleichmäßig mit zwanzig Stundenkilometern vor sich hin. In fünf Minuten würde er über New York sein; schon jetzt wirkte die Insel mehr wie ein Schiff, das für immer und ewig rund um die Zylindrische See fuhr. Als er New York erreicht hatte, drehte er einen Kreis darüberhin, wobei er mehrere Male anhielt, damit seine kleine Fernsehkamera ruhige, erschütterungsfreie Bilder rückübertragen könne. Das Panorama der Gebäude, Türme, Fabrikanlagen, Elektrizitätswerke oder was immer das war faszinierte ihn, wenn ihm der Sinn dieser Monumente auch verschlossen blieb. Gleichgültig, wie lange er darauf hinunterstarren würde, es bestand kaum Hoffnung, daß er etwas dabei entdecken würde. Die Kamera würde weit mehr Einzelheiten aufzeichnen, als er selbst im besten Fall aufnehmen könnte; und eines Tages, vielleicht erst Jahre später, würde irgendein Gelehrter dann in ihnen den Schlüssel zu den Geheimnissen Ramas entdecken. Er ließ New York hinter sich und überquerte die zweite Hälfte der See in nur fünfzehn Minuten. Obwohl es ihm nicht bewußt geworden war, hatte er über dem Wasser mehr Tempo zugelegt, doch sobald er die Südküste erreicht hatte, ließ seine innere Spannung nach, und seine Geschwindigkeit sank um mehrere Kilometerstunden. Er mochte sich ja über völlig fremdartigem Gebiet bewegen — aber zumindest war er über festem Boden. Sobald er das große Kliff überflogen hatte, das die südliche Grenze des Meeres bildete, ließ er die Kamera einen ganzen Kreisschwenk um die Welt machen. „Wunderschön!“ staunte die Nabenkontrolle. „Da werden sich die Kartographen aber freuen. Wie geht’s?“ „Prima — nur ein bißchen müde, aber nicht mehr als erwartet. Wie weit bin ich vom Pol?“ „Fünfzehn-Komma-sechs Kilometer.“ „Sagt mir, wenn ich bei zehn bin. Dann mach ich Pause. Und paßt auf, daß ich nicht wieder Höhe verliere. Ich werde höhergehen, wenn ich bei fünf Kilometer angelangt bin.“ Zwanzig Minuten später begann die Welt um ihn enger zu werden; er hatte das Ende des zylindrischen Teils erreicht und näherte sich nun der Südkuppel. Vom anderen Ende Ramas aus hatte er das Gebiet stundenlang durch ein Teleskop studiert und kannte inzwischen seine geographische Beschaffenheit im Schlaf. Doch selbst das hatte ihn nicht ausreichend auf das Schauspiel, das sich ihm ringsum bot, vorbereiten können. Die nördliche und die südliche Kuppel Ramas waren in fast allem gänzlich verschieden voneinander. Hier gab es keine dreifache Treppenkonstruktion, keine Gruppen von schmalen konzentrischen Terrassen, keine steile Krümmung von der Nabe zur Ebene hinab. Statt dessen ragte ihm hier in der Mitte ein riesiger Dorn von fünf Kilometern Länge genau auf der Achse entgegen. Sechs kleinere, von halber Länge, umgaben ihn in gleichen Abständen: das Ganze wirkte wie eine Gruppierung von bemerkenswert symmetrischen Stalaktiten, die von einer Höhlendecke herabhängen. Oder wenn man den Standpunkt umkehrte, wie die Stupas kambodschanischer Tempel auf dem Grund eines Kraters… Diese schlanken spindelförmigen Türme waren durch Strebebögen miteinander verbunden, die sich nach unten krümmten und schließlich mit der zylindrischen Ebene verschmolzen. Sie wirkten stabil genug, das Gewicht einer ganzen Welt zu tragen. Und dies war möglicherweise auch ihre Funktion, wenn sie wirklich die Elemente irgendwelcher exotischer Triebsätze waren, wie manche vermuteten. Leutnant Pak näherte sich vorsichtig dem Mittelstachel, hielt mit dem Treten inne, solange er noch einige hundert Meter von ihm entfernt war, und ließ die Libelle ausschweben. Er überprüfte die Strahlungshöhe, fand aber nur die sehr niedrigen Grundwerte von Rama. Es waren ja hier möglicherweise Kräfte am Werk, die mit keinem menschlichen Instrument erfaßt werden konnten, aber dies war eben ein weiteres unkalkulierbares Risiko. „Was können Sie sehen?“ fragte die Nabenkontrolle eifrig. „Nur das Große Horn — es ist vollkommen glatt — keine Markierungen — und die Spitze ist so scharf, daß man sie als Nadel verwenden könnte. Ich habe fast ein wenig Angst, ihr nahe zu kommen.“ Er sagte dies nur halb im Scherz. Es schien unglaublich, daß ein dermaßen gewaltiges Objekt sich zu einer geometrisch so vollkommenen Spitze verjüngen konnte. Jimmy hatte in Sammlungen Insekten auf Nadeln aufgespießt gesehen, und er trug kein Verlangen danach, seine eigene Libelle einem ähnlichen Schicksal auszusetzen. Er trat langsam weiter vorwärts, bis der Stachel sich auf einige Meter im Durchmesser verbreitert hatte, dann hielt er erneut an. Er öffnete einen kleinen Behälter und zog ziemlich behutsam eine Kugel von der Größe eines Baseballs hervor, die er gegen den Stachel schubste. Während sie davontrieb, ließ sie hinter sich einen kaum sichtbaren Faden zurück. Die Haftbombe traf auf der glatten gekrümmten Fläche auf — und prallte nicht ab. Jimmy zupfte probehalber an der Leine, dann etwas fester. Wie ein Fischer, der seinen Fang einholt, zog er die Libelle langsam hinüber zu der Spitze dieses Stachels, den er passend ›Großes Horn‹ getauft hatte, bis er es mit seiner Hand berühren konnte. „Ich nehme an, man könnte das sozusagen als Landung bezeichnen“, meldete er an die Nabenkontrolle. „Es fühlt sich wie Glas an — fast keine Reibung und leicht erwärmt. Die Haftbombe hat prima funktioniert. Jetzt probier ich das Mikro aus… mal sehen, ob die Saugkappe genauso gut hält… ich stecke die Leitungen rein… kommt irgendwas durch?“ Die Kontrollstation schwieg lange, dann meldete sich eine enttäuschte Stimme: „Kein verdammter Laut, außer den normalen thermischen Geräuschen. Klopfen Sie mal mit einem Metallgegenstand dagegen? Dann wissen wir wenigstens, ob es hohl ist.“ „Okay. Und was jetzt?“ „Wir möchten, daß Sie den ganzen Stachel entlangfliegen und alle fünfhundert Meter ganz umkreisen. Achten Sie auf alles Ungewöhnliche. Dann, wenn Sie glauben, daß es ungefährlich ist, könnten Sie zu einem der Kleinen Hörner rübergehen. Aber nur dann, wenn Sie sicher sind, daß Sie ohne Schwierigkeiten wieder auf Null G zurückkehren können.“ „Drei Kilometer von der Achse entfernt — das ist ein wenig über der Mondschwerkraft. Und für die ist die Libelle konstruiert. Ich werde nur ein bißchen heftiger strampeln müssen.“ „Jimmy, hier spricht der Käptn. Ich habe dabei Bedenken. Nach Ihren Bildern zu urteilen, sind die kleineren Stachel genauso wie der große. Holen Sie sie so gut wie möglich mit der Gummilinse rein. Ich will nicht, daß Sie sich aus dem Gebiet niedriger Schwerkraft entfernen… außer Sie entdecken was sehr Wichtiges. Dann reden wir noch mal drüber.“ „Okay, Skipper“, sagte Jimmy, und in seiner Stimme schwang möglicherweise eine Spur Erleichterung mit. „Ich halte mich in der Nähe vom Großen Horn. Auf geht’s wieder.“ Er hatte das Gefühl, senkrecht nach unten in ein enges Tal zwischen einer Gruppe unglaublich hoher und schlanker Berge hinabzustürzen. Das Große Horn ragte nun einen Kilometer über ihm auf, die sechs Stachel der Kleinen Hörner tauchten drohend überall um ihn herum auf. Der Komplex der Stützbögen und Strebepfeiler um die tieferen Bergflanken näherte sich rasch; er überlegte, ob er wohl irgendwo dort unten in dieser Zyklopenarchitektur sicher landen könnte. Er konnte nicht mehr auf dem Großen Horn selbst landen, da die Schwerkraft auf seinen breiter werdenden Flanken nun zu stark geworden war, als daß die schwache Kraft der Haftbombe sie hätte überwinden können. Je mehr er sich dem Südpol näherte, desto stärker fühlte er sich wie ein Spatz, der unter dem gewölbten Dach einer riesigen Kathedrale dahinflog — allerdings besaß keine Kathedrale, die je erbaut worden war, auch nur ein Hundertstel der Ausmaße dieses Ortes. Er überlegte, ob es sich nicht tatsächlich um ein religiöses Heiligtum oder irgend etwas Ähnliches handeln könne, gab den Gedanken dann jedoch rasch wieder auf. An keiner Stelle in Rama hatten sie irgendwelche Spuren künstlerischen Ausdrucks entdeckt; alles war streng und funktional. Vielleicht hatten die Ramaner ja geglaubt, sie kennten bereits die tiefsten Geheimnisse des Universums, und waren nicht mehr von den Sehnsüchten und Erwartungen gehetzt gewesen, die die Menschheit vorantrieben. Dies war ein erschreckender Gedanke, und so etwas war in Jimmys normalerweise recht schlichter Weltanschauung äußerst ungewöhnlich; er verspürte das dringende Bedürfnis nach Kontakt und meldete darum seinen weit entfernten Freunden seine Lage. „Wiederholen, Libelle“, antwortete die Nabenkontrolle. „Können Sie nicht verstehen — Ihre Übertragung ist Salat.“ „Wiederhole — befinde mich nahe der Basis vom Kleinen Horn Nummer Sechs. Verwende Haftbombe, um mich ranzuziehen.“ „Verstehe nur teilweise. Können Sie mich hören?“ „Jawohl, ausgezeichnet. Wiederhole: ausgezeichnet.“ „Fangen Sie an zu zählen, bitte.“ „Eins, zwei, drei, vier…“ „Teilweise empfangen. Geben Sie uns fünfzehn Sekunden den Leitstrahl, gehen Sie dann wieder auf Sprechfunk.“ „Hier ist er.“ Jimmy knipste den Niederfrequenzstrahl an, durch den man ihn überall innerhalb Ramas würde lokalisieren können, und zählte die Sekunden ab. Als er wieder auf Sprechfunk schaltete, fragte er klagend: „Was ist los? Könnt ihr mich jetzt hören?“ Anscheinend hörte man ihn an der Nabe nicht, denn die Kontrolle verlangte, er solle fünfzehn Sekunden lang auf Fernsehen schalten. Erst als Jimmy die Frage zweimal wiederholt hatte, drang seine Nachricht durch. „Sind froh, daß Sie uns gut hören können, Jimmy. Aber bei Ihnen ist irgendwas sehr Seltsames im Gang. Horchen Sie.“ Über den Sender hörte er das vertraute Pfeifen seines Leitstrahls, das sie für ihn zurückspielten. Einen Augenblick lang klang es vollkommen normal, dann machte sich eine unheimliche Verzerrung breit. Das Pfeifsignal von tausend Hertz wurde durch ein tiefes dröhnendes Pulsieren moduliert, so tief, daß es fast unterhalb der Grenze des Hörbaren lag; es war eine Art Bassoprofundo-Vibration, bei der jede einzelne Vibration deutlich vernehmbar war. Und die Modulation selbst veränderte sich gleichfalls: Sie stieg in einem Rhythmus von ca. fünf Sekunden an und fiel dann ab. Auf und ab. Jimmy dachte keinen Augenblick, daß mit seinem Radiosender etwas nicht in Ordnung sein könnte. Dies kam von außerhalb; aber was es bedeutete und was es war, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Die Nabenkontrolle war auch nicht klüger, aber sie brachten wenigstens eine Theorie vor. „Wir glauben, daß Sie in einem hochintensiven Feld stecken — vielleicht einem Magnetfeld — mit einer Frequenz von etwa zehn Hertz. Es könnte stark genug sein, um Gefahr zu bedeuten. Schlagen vor, Sie verschwinden augenblicklich von dort — vielleicht ist es nur örtlich begrenzt. Schalten Sie die Richtfrequenz wieder ein, wir spielen sie Ihnen dann zurück. Dann können Sie feststellen, wann Sie aus der Interferenz rauskommen.“ Jimmy machte rasch die Haftbombe los. Seinen Landeversuch gab er auf. Er nahm die Libelle in einen weiten Kreisbogen und lauschte dabei auf das wabernde Geräusch in seinen Kopfhörern. Schon nach ein paar Metern stellte er fest, daß die Intensität des Tons rasch abnahm; wie die Nabenkontrolle vermutet hatte, war die Sache sehr stark lokalisiert. An dem letzten Punkt, wo er das Geräusch nur noch wie ein schwaches Pulsieren tief im Gehirn hören konnte, hielt er inne. So hatte vielleicht ein primitiver Wilder, von Ehrfurchtsschauern geschüttelt, in seiner Unwissenheit auf das tiefe Summen eines riesigen Elektrotransformators gelauscht. Und sogar der Wilde hatte vielleicht geargwöhnt, daß das Geräusch, das er vernahm, nur die zufälligen Streuungsverluste vollkommen gebändigter kolossaler Energien seien, die allerdings nur darauf warteten… Was dieses Geräusch auch bedeuten mochte, Jimmy war froh, als er von ihm befreit war. Hier, zwischen der überwältigenden Architektur des Südpols, war nicht der rechte Ort für einen einsamen Mann, der Stimme Ramas zu lauschen. 27. KAPITEL ELEKTRISCHER WIND Als Jimmy sich auf den Heimweg machte, schien ihm das Nordende Ramas unglaublich weit entfernt zu sein. Sogar die drei gigantischen Treppenkonstruktionen waren kaum als ein undeutliches Y auszumachen, das in die Kuppel am anderen Ende der Welt geritzt war. Das Band der Zylindrischen See war eine breite, bedrohliche Barriere, die nur darauf zu warten schien, ihn zu verschlingen, falls wie bei Ikarus die zerbrechlichen Schwingen versagen sollten. Doch der ganze Herweg war problemlos verlaufen, und wenn er sich nun auch ein wenig müde fühlte, war er doch überzeugt, daß er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Er hatte noch nicht einmal seine Nahrungs- und Wasserration angerührt und war viel zu aufgeregt gewesen, eine Ruhepause einzulegen. Auf dem Rückflug würde er es sich leichter und bequemer machen. Auch munterte ihn der Gedanke auf, daß der Heimflug im Zweifelsfall um zwanzig Kilometer kürzer sein würde, denn solange er die See hinter sich brachte, konnte er überall auf der Nordebene notlanden. Das wäre zwar unangenehm, weil er damit einen langen Fußmarsch auf sich nehmen und — viel schlimmer noch — seine Libelle zurücklassen müßte, aber er gewann dadurch einen sehr beruhigenden Sicherheitsfaktor hinzu. Er stieg jetzt immer weiter zum Mittelstachel empor; die sich verjüngende Nadel des Großen Horns erstreckte sich aber noch immer einen Kilometer hoch über ihm, und ab und zu kam ihm der Gedanke, daß dies die Achse sei, um die sich diese ganze Welt drehte. Er hatte die Spitze des Großen Horns nahezu erreicht, als er sich eines seltsamen Gefühls bewußt wurde: ein Gefühl wie eine böse Vorahnung, ja tatsächlich, ein körperliches und seelisches Unbehagen hatte ihn überkommen. Plötzlich erinnerte er sich an einen Satz, auf den er einmal gestoßen war, und das machte die Dinge auch nicht leichter: „Was rührt mich denn so an, als trät’ ich einem übers Grab?“ Zunächst verwarf er das Gefühl mit einem Achselzucken und trat gleichmäßig weiter in die Pedale. Er hatte gewiß nicht die Absicht, der Nabenkontrolle etwas so Ungreifbares wie ein leichtes Gefühl des Unwohlseins zu berichten, doch als dieses Gefühl zunehmend schlimmer wurde, war er doch versucht, es zu tun. Es konnte doch wohl nicht psychologisch bedingt sein; aber wenn es so war, hatte sein Gehirn sehr viel mehr Einfluß, als er wußte. Denn er konnte jetzt ganz deutlich spüren, wie er eine Gänsehaut bekam… Plötzlich ernsthaft beunruhigt, hielt er mitten in der Luft an, um die Lage zu überdenken. Das Ganze wurde dadurch noch seltsamer, daß ihm dieses Gefühl schwerer Deprimiertheit nicht völlig fremd war: er hatte es früher bereits erlebt, aber er konnte sich nicht erinnern, wann. Er blickte sich um. Nichts hatte sich verändert. Der gewaltige Stachel des Großen Horns lag ein paar hundert Meter über ihm, das andere Ende Ramas als eine Art Himmel weit darüber. Acht Kilometer unter ihm dehnte sich das verwirrende Flickwerk des Südkontinents, der voller Wunder sein mußte — niemals wieder würde ein Mensch sie zu sehen bekommen. Aber die Landschaft, so äußerst fremdartig und doch inzwischen schon vertraut sie ihm erschien, bot keine Erklärung für sein Unbehagen. Etwas berührte kitzelnd seine Hand. Eine Sekunde lang glaubte er, ein Insekt habe sich dort niedergelassen, und er wischte es, ohne hinzusehen, mit der anderen Hand fort. Er hatte die instinktive Bewegung kaum halb beendet, als ihm bewußt wurde, was er da tat, und er hielt inne. Er kam sich idiotisch vor. Schließlich hatte man noch nie ein Insekt auf Rama entdeckt… Er hob die Hand vor die Augen und untersuchte sie. Er war verwirrt, weil das kitzelnde Gefühl noch immer anhielt. Dann bemerkte er, daß jedes einzelne Härchen sich senkrecht aufgestellt hatte. Den ganzen Unterarm hinauf sah er das gleiche — und als er prüfend mit der Hand über den Kopf strich, machte er dort dieselbe Entdeckung. Das war also das Problem. Er befand sich innerhalb eines fürchterlich starken elektrischen Feldes, und dieses Gefühl der Schwere und Bedrückung war das gewesen, das manchmal auf der Erde einem Gewitter vorangeht. Die plötzliche Erkenntnis seiner gefährlichen Lage versetzte Jimmy in beinahe panische Angst. Nie zuvor in seinem ganzen Leben hatte er sich in echter körperlicher Gefahr befunden. Wie alle Astronauten hatte er bedrückende Augenblicke mit schwerbeweglicher Ausrüstung erlebt, hatte erlebt, daß er sich aufgrund von Fehleinschätzungen oder Unerfahrenheit in einer gefährlichen Lage geglaubt hatte. Aber in keinem Fall hatten diese Episoden länger als ein paar Minuten gedauert. Meistens war er sogar fähig gewesen, sofort darüber zu lachen. Diesmal gab es offenbar kein rasches Entrinnen. Er fühlte sich allein und verlassen mitten in einem plötzlich feindselig gewordenen Himmel, umringt von titanischen Kräften, die jeden Moment ihre Wut entfesseln konnten. Und seine Libelle — die ja ohnehin schon zerbrechlich genug war — kam ihm nun noch unstofflicher vor als Spinnwebfäden. Der erste Stoß des sich zusammenbrauenden Sturms würde sie in winzige Fetzen zerreißen. „Kontrolle Nabe“, meldete er sich beunruhigt. „Um mich herum baut sich eine statische Ladung auf. Ich fürchte, es kann jeden Moment ein Gewitter losbrechen.“ Er hatte es kaum gesagt, als hinter ihm ein Lichtblitz aufzuckte. Als er bis zehn gezählt hatte, kam der erste knatternde Donner. Drei Kilometer — also damit war das hinten oder unten rund um die Kleinen Hörner. Er blickte zurück und sah, daß jede der sechs Nadeln zu flammen schien. Elektrische Strahlenbüschel von hundert Metern Länge tanzten über den Spitzen, als wären sie riesige Blitzableiter. Und was da hinten passierte, konnte ja auch in viel größerem Ausmaß an der steilen Spitze des Großen Horns geschehen. Das Beste, was er tun konnte, war wohl zu versuchen, so weit wie möglich von diesem gefährlichen Gebilde fortzukommen und die freie Luft zu erreichen. Er begann erneut in die Pedale zu treten. Er beschleunigte, so rasch er konnte, ohne die Libelle einer allzu großen Belastung auszusetzen. Gleichzeitig verringerte er die Höhe; selbst auf die Gefahr hin, daß er damit in einen Bereich höherer Schwerkraft eintrat, war er nun bereit, ein derartiges Risiko einzugehen. Acht Kilometer waren viel zu weit vom Boden entfernt, als daß er sich ruhig hätte fühlen können. Die unheimliche schwarze Spitze des Großen Horns war noch immer frei von sichtbaren Entladungen, aber Jimmy zweifelte nicht daran, daß sich dort oben ein furchtbares Kraftfeld aufbaute. Ab und zu grollte hinter ihm noch der Donner und rollte widerhallend weiter rund um die Welt. Plötzlich fiel Jimmy ein, wie merkwürdig es doch sei, daß ein derartiger Sturm bei völlig klarem Himmel auftrat. Dann wurde ihm klar, daß es sich ja überhaupt nicht um ein meteorologisches Phänomen handle. Tatsächlich konnte es ja einfach eine unbedeutende Energiestreuung von einer tief in der Südkappe Ramas versteckten Quelle sein. Aber warum ausgerechnet jetzt? Aber was noch wichtiger war, was würde als nächstes geschehen? Er befand sich nun weit über der Spitze des Großen Horns und hoffte, bald außerhalb der Streuweite irgendwelcher blitzartiger Entladungen zu sein. Doch jetzt tauchte ein neues Problem auf: die Luftturbulenzen nahmen zu, es fiel ihm immer schwerer, die Libelle unter Kontrolle zu halten. Ein Wind schien aus dem Nichts entstanden zu sein, und wenn die Flugbedingungen sich stark verschlechterten, war das zerbrechliche Rahmenwerk seines Luftrades ernstlich in Gefahr. Er trampelte verbissen weiter und versuchte, das Leitwerkschütteln durch Anpassung der Antriebsstärke und Gewichtsverlagerung seines Körpers auszugleichen. Da die Libelle ja praktisch wie sein vergrößerter Körper war, hatte er damit bis zu einem gewissen Grad Erfolg; aber die schwachen Protestgeräusche, die vom Haupt-Tragholm zu ihm drangen, gefielen ihm gar nicht, ebensowenig wie die Tatsache, daß die Flügel sich bei jedem Windstoß verbogen. Und noch etwas beunruhigte ihn: ein schwaches sausendes Geräusch, das allmählich stärker wurde und aus der Richtung des Großen Horns zu kommen schien. Es klang, als ströme Gas unter hohem Druck aus einem Ventil. Jimmy überlegte, ob das eventuell irgendwie mit den Turbulenzen zusammenhing, mit denen er zu kämpfen hatte. Was immer auch die Ursache sein mochte, er hatte jetzt noch mehr Grund zur Beunruhigung. In Abständen berichtete er — knapp und ziemlich außer Atem — über diese Phänomene an die Nabenkontrolle. Dort konnte ihm zwar bestimmt keiner Anweisungen geben oder etwa Hinweise darauf, was möglicherweise weiterhin passieren würde, aber es war doch beruhigend, die Stimmen seiner Freunde zu hören, selbst wenn sich allmählich die Furcht in Jimmy festsetzte, daß er sie nie wiedersehen würde. Die Turbulenzen nahmen immer noch zu. Er hatte beinahe den Eindruck, als trete er in einen Düsenstrom ein. Einmal hatte er das getan, als er einen Rekord brechen wollte. Er war damals auf der Erde mit einem Hochfluggleiter aufgestiegen. Doch was, zum Teufel, konnte denn innerhalb Ramas einen Düsenstrom bewirken? Das war die richtige Frage, die er sich da gestellt hatte, denn sobald er sie in Worte gefaßt hatte, wußte er auch die Antwort. Das Geräusch, das er gehört hatte, kam von dem elektrischen Wind, der die hochgradige Ionisierung forttrug, die sich rings um das Große Horn aufbauen mußte. Geladene Luft strömte von dort längs der Achse Ramas nach außen, und weitere Luft strömte in das Niederdruckgebiet dahinter. Er blickte auf diese riesige und nun doppelt bedrohliche Nadel zurück und versuchte die Begrenzung der steifen Brise auszumachen, die von ihr ausging. Wahrscheinlich war es taktisch am besten, wenn er nach Gehör flog und sich so weit wie möglich von diesem unheimlichen Zischen und Fauchen entfernte. Rama nahm ihm die Wahl ab. Hinter ihm brach ein flammender Flächenblitz auf und füllte den ganzen Himmel. Er hatte gerade noch Zeit zu sehen, wie er sich zu sechs Feuerbändern aufspaltete, die vom Großen Horn zu den sechs kleineren Hörnern reichten. Dann packte ihn die Explosion. 28. KAPITEL IKARUS Jimmy Pak hatte gerade noch Zeit durchzugeben: „Flügel knicken — ich stürze gleich ab — ich stürze ab!“, als sich die Libelle auch schon graziös um ihn zusammenfaltete. Die linke Tragfläche brach sauber in der Mitte auseinander, der äußere Teil trieb davon wie ein sanft schwebendes Blatt. Die rechte Tragfläche machte das Ganze ein wenig umständlicher. Sie drehte sich an der Verankerung herum, und zwar so schräg, daß ihre Spitze sich in das Heck verwickelte. Jimmy hatte das Gefühl, auf einem zerbrochenen Drachen zu sitzen, der langsam vom Himmel fiel. Aber noch war er nicht völlig hilflos; die Luftschraube funktionierte noch, und solange er einen Antrieb besaß, verfügte er noch immer über eine begrenzte Kontrolle und Steuerung. Bestand die geringste Hoffnung, daß er die See erreichen konnte? Nein — sie war viel zu weit entfernt. Dann fiel ihm ein, daß er immer noch in Erdbegriffen dachte; obwohl er ein guter Schwimmer war, würde es doch Stunden dauern, ehe man ihn retten könnte, und inzwischen hätte ihn das giftige Wasser längst umgebracht. Seine einzige Hoffnung war eine Landung auf festem Boden. An das Problem des Steilkliffs der Südküste würde er später denken — falls es überhaupt ein ›Später‹ gab. Er sank sehr langsam in diese Zone von einem Zehntel G, aber bald würde sein Sturz schneller werden, je weiter er sich von der Achse entfernte. Der Luftsog würde allerdings die Sache komplizieren und verhindern, daß er eine zu hohe Fallgeschwindigkeit erreichte. Die Libelle würde auch als hilfloses Fahrzeug wie ein primitiver Fallschirm wirken. Die paar Kilopond an Kraft, die er noch aufzubringen fähig war, konnten über Leben oder Tod entscheiden. Darin lag seine einzige Hoffnung. Der Sender an der Nabe hatte aufgehört zu sprechen; seine Freunde konnten ganz genau verfolgen, was mit ihm passierte, und wußten, daß Reden ihm in keiner Weise helfen konnte. Jimmy führte in diesen Sekunden die schwierigsten und geschicktesten Flugmanöver seines Lebens durch. Es ist doch ein verfluchter Mist, sagte er sich mit einem verkniffenen Grinsen, daß es so wenige Zuschauer sind und daß sie überhaupt nicht in der Lage sind, die raffinierteren Einzelheiten meiner Leistung zu schätzen. Er stieg in einer weitgespannten Spirale ab; solange ihr Neigungswinkel ziemlich flach blieb, waren seine Oberlebenschancen relativ gut. Sein Pedaltreten trug dazu bei, die Libelle in der Luft zu halten, allerdings scheute er sich davor, mit Höchstkraft zu strampeln, damit die zerbrochenen Tragflächen nicht völlig abfielen. Und jedesmal wenn er südwärts wendete, hatte er Gelegenheit, das fantastische Schauspiel zu bewundern, das Rama freundlicherweise für ihn arrangiert hatte. Die Lichtströme liefen immer noch wie spielerisch von der Spitze des Großen Horns zu den kleineren Gipfeln unter ihm, doch jetzt rotierte das ganze Muster. Die sechszackige Feuerkrone bewegte sich in entgegengesetzter Richtung zu der Rotation Ramas. Sie brauchte jeweils ein paar Sekunden für einen Umlauf. Jimmy hatte den Eindruck, der Arbeit eines gigantischen Elektromotors zuzusehen. Und wahrscheinlich war das noch nicht einmal so falsch. Er hatte die Hälfte des Weges bis zur Ebene hinab erreicht und kreiste immer noch in flachen Spiralen weiter, als das Feuerwerk plötzlich abbrach. Er konnte fühlen, wie die Spannung im Himmel abnahm, und wußte, ohne hinsehen zu müssen, daß die Härchen auf seinen Armen nicht länger senkrecht emporstanden. Nun gab es nichts mehr, das ihn behindern oder ablenken konnte, während er die letzten paar Minuten um sein Leben kämpfte. Jetzt, da er sicher war, wo in etwa er landen mußte, begann er das Gebiet sehr intensiv zu studieren. Zum Großteil setzte sich diese Region aus schachbrettartigen Flächen von völlig widersprüchlichen Mustern zusammen, als habe man einem wahnsinnigen Landschaftsarchitekten plein pouvoir gegeben und ihm aufgetragen, seiner Fantasie völlig freien Lauf zu lassen. Die Quadrate des Schachbretts hatten eine Seitenlänge von fast einem Kilometer, und obgleich die meisten flach wirkten, konnte Jimmy nicht sicher sagen, ob es sich um festen Boden handelte, da ihre Farben und Oberflächen sich so stark voneinander unterschieden. Er beschloß, bis zum letztmöglichen Augenblick abzuwarten. Falls ihm dann überhaupt noch eine Wahl blieb. Als er nur noch ein paar hundert Meter unter sich hatte, rief er zum letztenmal die Nabe an. „Ich kann immer noch ein bißchen steuern. In einer halben Minute bin ich unten. Rufe dann wieder.“ Das war reiner Optimismus, sie wußten es alle. Aber er weigerte sich, adieu zu sagen; er wollte, daß seine Kameraden wüßten, daß er kämpfend — und ohne Furcht — gefallen war. Tatsächlich verspürte er sehr wenig Furcht, und eigentlich überraschte ihn das selbst, denn er hatte sich nie für einen außergewöhnlich tapferen Mann gehalten. Fast kam es ihm so vor, als schaue er den verzweifelten Bemühungen eines ihm völlig Fremden zu und als sei er persönlich von der Sache überhaupt nicht betroffen. Es war eher so, als untersuche er ein interessantes aerodynamisches Problem und verändere diverse mathematische Größen, um festzustellen, was passieren würde. Fast das einzige Gefühl in ihm war ein vages Bedauern über verpaßte Gelegenheiten — deren weitaus wichtigste die nächste Lunar-Olympiade war. Immerhin, eine Zukunftshoffnung war endgültig zunichte: die Libelle würde niemals ihre Volten auf dem Mond präsentieren. Einige hundert Meter noch. Die Landungsgeschwindigkeit schien erträglich, aber wie schnell fiel er eigentlich? Und hier hatte er wirklich ein bißchen Glück: das Terrain war vollkommen flach. Er würde seine ganze Kraft für eine letzte gewaltige Anstrengung zusammenraffen, und zwar — JETZT: Der rechte Flügel riß am Rumpf ab, jetzt, da er seinen Zweck erfüllt hatte. Die Libelle begann zu trudeln, Jimmy versuchte auszugleichen, indem er seinen Körper in die entgegengesetzte Richtung zur Drehung warf. Er blickte direkt auf ein sechzehn Kilometer entferntes Rundpanorama von Landschaft, als er aufprallte. Irgendwie erschien es ihm äußerst unfair und auch ganz unsinnig, daß der Himmel so hart sein sollte. 29. KAPITEL DER ERSTE KONTAKT Al Jimmy Pak das Bewußtsein wiedererlangte, war sein erster Eindruck ein schneidender Kopfschmerz. Fast war er froh darüber, denn das bewies doch wenigstens, daß er noch am Leben war. Dann versuchte er sich zu bewegen, und sofort machten sich die verschiedensten Schmerzen bemerkbar. Doch soweit er feststellen konnte, schien nichts gebrochen zu sein. Danach wagte er, die Augen zu öffnen, schloß sie aber sofort wieder, als er merkte, daß er direkt in einen Lichtstrahl längs der Decke der Welt schaute. Als Medizin gegen Kopfschmerzen war dieser Anblick nicht gerade zu empfehlen. Er lag noch immer so da, versuchte seine Kräfte zu sammeln und überlegte sich, wann er wohl ohne Gefahr die Augen öffnen könnte, als er plötzlich ganz in seiner Nähe ein krachendes Geräusch hörte. Er wendete den Kopf ganz langsam in Richtung dieses Lautes, riskierte einen Blick — und verlor beinahe erneut das Bewußtsein. Knapp fünf Meter entfernt verspeiste ein offensichtlich krebsähnliches Geschöpf das Wrack seiner armen Libelle. Als Jimmy sich gefaßt hatte, rollte er sich langsam und ruhig von dem Ungeheuer fort. Er rechnete jeden Augenblick damit, daß ihn diese Scheren packen würden, wenn das Biest entdeckte, daß es da was Besseres zu fressen gab. Das Ding nahm jedoch nicht die geringste Notiz von ihm, und so stemmte sich Jimmy hoch zum Sitzen, nachdem er den Abstand zwischen sich und dem Biest auf zehn Meter erweitert hatte. Aus dieser etwas größeren Entfernung wirkte das Ding nicht mehr ganz so erschreckend. Es hatte einen flachen niederen Leib von etwa zwei Metern Länge und einem Meter Breite, der auf sechs Beinen mit dreigliedrigen Gelenken ruhte. Jimmy merkte, daß es ein Irrtum war zu glauben, das Ding fräße seine Libelle auf; er konnte effektiv keine Spur von einer Mundöffnung feststellen. Das Geschöpf war im Augenblick dabei, säuberliche Zerstörungsarbeit zu leisten. Es setzte seine scherenähnlichen Klauen ein und zerschnitt das Luftrad in kleine Stücke. Eine ganze Reihe von Manipulatoren, die auf unheimliche Weise an winzige menschliche Hände erinnerten, sammelten dann die Bruchstücke zu einem beständig größer werdenden Haufen auf dem Rücken des Dings. Aber war das wirklich ein Tier? Obgleich dies Jimmys erster Eindruck gewesen war, dachte er nun anders darüber. Das Ding legte ein Verhalten an den Tag, das auf eine ziemlich hohe Intelligenz schließen ließ; und Jimmy konnte sich nicht erklären, warum ein reines Instinktwesen die Trümmer seines Luftrades sorgfältig zusammenklauben sollte — es sei denn, es sammle Material für ein Nest. Jimmy behielt das krebsähnliche Gebilde vorsichtig im Auge, während er auf die Füße zu kommen versuchte, doch das Ding schien ihn überhaupt nicht zu beachten. Ein paar schwankende Schritte bewiesen ihm, daß er noch gehen konnte, allerdings war er nicht sicher, ob er es notfalls mit diesen sechs Beinen aufnehmen könnte. Dann knipste er sein Funkgerät an, ohne den geringsten Zweifel, daß es noch funktionieren würde. Ein Aufprall, den er überleben konnte, würde von seiner exzellenten Solid-State-Elektronik wahrscheinlich nicht einmal bemerkt worden sein. „Nabenkontrolle“, sagte er leise. „Könnt ihr mich hören?“ „Gott sei Dank! Sind Sie okay?“ „Ja, nur ein bißchen angeschlagen. Schaut euch mal das da an.“ Er richtete seine Kamera auf den Krebs, gerade noch rechtzeitig, um die endgültige Zerstörung des Flügels der Libelle aufzuzeichnen. „Was, zum Teufel, ist das denn — und warum verspeist es Ihr Flugrad?“ „Wüßte ich auch gern. Mit der Libelle ist es jetzt fertig. Ich mach mich jetzt aus dem Staub, falls es die Absicht hat, sich an mich ranzumachen.“ Jimmy zog sich langsam zurück, wobei er den Krebs nicht aus den Augen ließ. Das Ding bewegte sich nun in immer größer werdenden Kreisen, offenbar auf der Suche nach Bruchstücken, die es zuvor vielleicht übersehen hätte, und so gelang Jimmy zum erstenmal, das Geschöpf als Ganzes zu betrachten. Nun, da er den ersten Schrecken überwunden hatte, fand er, daß es eigentlich ein recht hübsches Tierchen war. Die Bezeichnung Krebs, die er ihm automatisch gegeben hatte, war wohl ein wenig irreführend: wenn es nicht so unglaublich groß gewesen wäre, hätte er es wohl als Käfer bezeichnet. Sein Rückenpanzer hatte einen schönen metallischen Schimmer; tatsächlich hätte er schwören können, daß es Metall war. Das war ein interessanter Gedanke. Konnte es ein Roboter sein, also kein Tier? Er starrte nachdenklich den Krebs an und versuchte alle Einzelheiten seiner Anatomie zu analysieren. Wo die Mundöffnung hätte sein müssen, befand sich eine Reihe von Manipulatoren, die Jimmy stark an die Vielzweckmesser, das Entzücken aller richtigen Jungs, erinnerten; da gab es Kneifzangen, Ahlen, Feilen und sogar so eine Art Bohrer. Doch in keinem Fall konnte er daraus ableiten, was dieses Ding war. Auf der Erde hatte die Welt der Insekten alle diese Werkzeuge und viele mehr entwickelt. Die Frage, ob Tier oder Roboter, blieb unentschieden. Die Augen, anhand derer er das Problem hätte klären können, machten die Sache nur noch komplizierter. Sie lagen so tief hinter Schutzkappen zurückgezogen, daß man unmöglich sagen konnte, ob ihre Linsen aus Kristall oder Gallerte bestanden. Sie waren völlig ausdruckslos und von einem erstaunlich dunklen Blau. Obwohl sich diese Augen mehrere Male auf Jimmy gerichtet hatten, war in ihnen kein einziges Mal auch nur das geringste Interesse aufgeflackert. Nach Jimmys wohl etwas voreingenommener Meinung entschied dies über die Intelligenz des Geschöpfes. Ein Wesen — ob Roboter oder Tier —, das einen Menschen ignorierte, konnte nicht besonders intelligent sein. Es hatte jetzt seine Kreisbewegungen eingestellt und blieb einige Sekunden lang still stehen, als lausche es auf irgendeine unhörbare Nachricht. Dann machte es sich in einer seltsamen rollenden Gangart in Richtung auf die See davon. Es bewegte sich mit etwa vier bis fünf Stundenkilometern auf einer völlig geraden Strecke dahin und war bereits einige hundert Meter weit entfernt, als es dem immer noch leicht verwirrten Gehirn Jimmys klarwurde, daß da die letzten traurigen Überreste seiner geliebten Libelle von ihm fortgeschleppt wurden. Zornig und empört machte er sich an die Verfolgung. Sein Verhalten war nicht völlig unlogisch. Der Krebs bewegte sich in Richtung See — und wenn es für Jimmy überhaupt eine Rettung gab, dann nur in dieser Richtung. Außerdem wollte er herausfinden, was das Geschöpf mit seiner Beute anfangen würde; das müßte wenigstens eine gewisse Aufklärung über seine Motive und seine Intelligenz bringen. Da er noch immer unter den Prellungen seines Sturzes litt und noch ziemlich steif war, dauerte es ein paar Minuten, bis Jimmy den zielbewußt vorwärtsrollenden Krebs eingeholt hatte. Dann folgte er ihm in respektvollem Abstand, bis er sicher sein konnte, daß das Ding nichts gegen seine Anwesenheit einzuwenden hatte. Erst da bemerkte er, daß seine Wasserflasche und die Notration mitten in den Trümmern der Libelle lagen, und empfand sofort Hunger und Durst. Dort vor ihm huschte mit gleichmäßigen fünf Stundenkilometern seine einzige Nahrung und das einzige Trinkwasser fort, das es in dieser Hälfte der Welt gab. Wie hoch auch das Risiko sein mochte, er mußte die Notration zurückbekommen. Er holte den Krebs vorsichtig ein, wobei er sich genau in seinem Rücken hielt. Während sie vorwärtskamen, beobachtete er genau den komplizierten Rhythmus der Beine des Tieres, bis er genau wußte, wo sie im nächsten Moment sein würden. Als er soweit war, murmelte er ein kurzes „Sie entschuldigen doch?“ und packte sein Eigentum. Jimmy hätte es sich niemals träumen lassen, daß er eines Tages seine Fingerfertigkeit als Taschendieb unter Beweis stellen müßte, aber jetzt war er doch recht froh über seinen Erfolg. Er war in Sekundenbruchteilen wieder in Sicherheit, und der Krebs verlangsamte sein ständiges Vorwärtsrollen keinen Augenblick lang. Jimmy fiel ein paar Meter zurück, befeuchtete sich die Lippen mit dem Wasser aus der Feldflasche und begann an einem Riegel Fleischkonzentrat zu kauen. Sein kleiner Sieg machte ihn gleich viel zuversichtlicher; jetzt konnte er es sogar wagen, sich Gedanken über seine düsteren Zukunftsaussichten zu machen. Wo Leben ist, ist Hoffnung. Aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie man ihn retten sollte. Selbst wenn seine Kameraden das Meer überqueren würden, wie sollte er zu ihnen gelangen, wenn sie einen halben Kilometer unter ihm waren? „Wir werden einen Weg runter finden, irgendwie!“ hatte ihm die Kontrollstation an der Nabe versprochen. „Dieses Kliff kann nicht um die ganze Welt herumlaufen, ohne daß irgendwo eine Unterbrechung ist.“ Er war versucht gewesen zu antworten: „Wieso eigentlich nicht?“, aber er hatte es dann doch lieber bleiben lassen. Es war eine der besonderen Merkwürdigkeiten, daß man beim Marschieren auf Rama stets sah, in welche Richtung man ging. Hier versteckte die Krümmung der Welt nicht, was vor einem lag, sie enthüllte es. Seit einiger Zeit war es Jimmy bereits klargeworden, wohin der Krebs wollte. Dort vor ihnen, auf dem Gebiet, das sich vor ihm zu erheben schien, war eine breite Grube von etwa einem halben Kilometer Durchmesser. Es war eine von dreien auf dem Südkontinent, und man hatte von der Nabe aus nicht feststellen können, wie tief sie waren. Man hatte sie nach berühmten Mondkratern benannt. Er näherte sich nun dem Krater Kopernikus. Der Name paßte nicht so recht, denn hier gab es keine Hügel ringsum und keine Bergspitzen in der Mitte. Dieser Kopernikus war nur ein tiefer Schacht oder Brunnen mit vollkommen senkrechten Wänden. Als Jimmy nahe genug war, um einen Blick in den Schacht zu werfen, sah er mindestens einen halben Kilometer tiefer einen Teich mit übel aussehendem bleigrünem Wasser. Das mußte etwa der gleiche Wasserstand sein wie der in der See, und Jimmy fragte sich, ob beide Gewässer wohl miteinander verbunden waren. Das Innere hinab zog sich eine spiralförmige Rampe, die völlig in der Wand verschwand, so daß fast der Eindruck von Zügen in einem riesigen Flintenlauf entstand. Die Spiralen schienen bemerkenswert zahlreich zu sein. Und erst als Jimmy ihnen mehrere Umläufe lang gefolgt war, wobei er sich immer häufiger verzählte, bemerkte er, daß da nicht eine Rampe, sondern drei hinabführten, die voneinander völlig unabhängig und im Winkel von 120 Grad zueinander angeordnet waren. In jeder anderen Umgebung als der Ramas wäre diese ganze Anordnung als beeindruckende architektonische tour de force erschienen. Die drei Rampen führten geradewegs zu dem Tümpel hinunter und verschwanden unter seiner undurchsichtigen Oberfläche. Etwas über der Wasserlinie konnte Jimmy mehrere dunkle Tunneleingänge oder Höhlen entdecken; sie wirkten ziemlich unheimlich, und er fragte sich, ob sie vielleicht bewohnt sein könnten. Vielleicht waren die Ramaner Amphibien… Als der Krebs den Rand des Brunnens erreichte, glaubte Jimmy bestimmt, er werde eine der Rampen hinunterklettern — vielleicht, um die Wrackteile der Libelle irgendeinem Wesen vorzulegen, das sie bewerten konnte. Statt dessen ging die Kreatur genau bis zum Rand, schob fast die Hälfte ihres Körpers ohne das geringste Zögern über den Abgrund hinaus, obwohl ein paar Zentimeter mehr katastrophal gewesen wären, und schüttelte sich kurz. Die Bruchstücke der Libelle flatterten in die Tiefe hinab; während sie vor seinen Blicken verschwanden, traten Jimmy Tränen in die Augen. Das ist jetzt die ganze Intelligenz dieses Geschöpfs, dachte er. Nachdem sie den Müll beseitigt hatte, wendete sich die Krebskrabbe um und begann auf Jimmy aus nur zehn Meter Entfernung zuzulaufen. Steht mir jetzt die gleiche Behandlung bevor? fragte er sich. Er hoffte nur, daß er die Kamera nicht verwackelte, während er der Nabenkontrolle das rasch herankrabbelnde Ungeheuer zeigte. „Was schlagt ihr vor?“ flüsterte er hastig und ohne große Hoffnung, daß er eine brauchbare Antwort erhalten werde. Ein winziger Trost für ihn war allerdings das Bewußtsein, daß er hier und jetzt Geschichte machte, und seine Gedanken durcheilten blitzschnell die für eine solche Begegnung vorgesehenen Verhaltensmuster. Bis zu diesem Augenblick war all das reine Theorie gewesen. Er würde der erste Mensch sein, der sie in der Praxis ausprobierte. „Laufen Sie nicht davon, bevor Sie nicht sicher sind, daß das Ding wirklich feindselig ist“, flüsterte die Nabenkontrolle zu ihm zurück. Davonlaufen? Wohin? fragte sich Jimmy. Er glaubte zwar, daß er das Ding in einem Hundertmetersprint hinter sich lassen konnte, aber er war sich auch verdammt klar darüber, daß es ihn ohne Zweifel auf lange Sicht unterkriegen würde. Langsam hob Jimmy seine ausgestreckten Hände. Seit zweihundert Jahren hatte sich die Menschheit mit dieser Geste herumgeplagt und — gestritten: würde jedes Geschöpf im ganzen Universum sie als ›Schau — keine Waffen!‹ interpretieren? Aber es war keinem etwas Besseres eingefallen. Der Krebs zeigte weder eine Reaktion, noch verlangsamte er sein Tempo. Er beachtete Jimmy überhaupt nicht, wanderte direkt neben ihm vorbei und eilte zielstrebig nach Süden. Er kam sich äußerst idiotisch vor, dieser erste Vertreter der Gattung Homo sapiens, als er zuschaute, wie sein erster Kontakt, völlig ungerührt von seiner Existenz, über die Rama-Ebene entschwand. Selten in seinem Leben war Jimmy so gedemütigt worden. Dann kam ihm sein Humor zu Hilfe. Alles in allem war es ja wirklich keine große Staatsangelegenheit, wenn ihn ein lebendiges Müllauto nicht beachtete. Schlimmer wäre es gewesen, wenn es ihn als einen langvermißten Bruder begrüßt hätte… Er ging wieder zum Rand des Kopernikus zurück und starrte auf das undurchsichtige Wasser hinunter. Erst jetzt bemerkte er, daß sich unbestimmbare Gestalten — manche davon wirkten ziemlich groß — langsam unter der Oberfläche hin- und herbewegten. Gerade steuerte eine davon die nächste Spiralrampe an, und dann begann etwas, das wie ein vielbeiniger Tank aussah, den langen Aufstieg. Bei der Geschwindigkeit, die es anschlug, berechnete Jimmy, würde es mindestens eine Stunde brauchen, um heraufzukommen; wenn es also eine Bedrohung war, dann eine sehr langsame. Dann nahm er eine viel raschere undeutliche Bewegung nahe der höhlenartigen Eingänge über der Wasserlinie wahr. Irgend etwas glitt sehr schnell die Rampe entlang, aber er konnte es nicht genau erkennen, auch keine eindeutige Gestalt ausmachen. Es war, als blicke er auf einen kleinen Wirbelwind oder ›Staubteufel‹ etwa von der Größe eines Mannes… Er blinzelte und schüttelte den Kopf, dann hielt er die Augen ein paar Sekunden lang geschlossen. Als er sie wieder öffnete, war die Erscheinung verschwunden. Der Aufprall hatte ihn möglicherweise doch stärker durcheinandergeschüttelt, als er geglaubt hatte; dies war das erstemal gewesen, daß er unter visuellen Halluzinationen gelitten hatte. Er würde der Nabenkontrolle nichts davon melden. Und er würde sich auch nicht die Mühe machen, diese Rampen zu untersuchen, wie er sich das schon fast vorgenommen hatte. Das wäre eine ganz klare Energieverschwendung. Das wirbelnde Phantom, das zu sehen er sich bloß eingebildet hatte, spielte selbstverständlich bei seiner Entscheidung keine Rolle. Oberhaupt keine; denn Jimmy glaubte natürlich nicht an Gespenster. 30. KAPITEL DIE BLÜTE Die Anstrengungen hatten Jimmy durstig gemacht. Er wußte aber ganz genau, daß es in diesem Land kein Wasser gab, das Menschen trinken konnten. Mit dem Inhalt seiner Feldflasche würde er vielleicht eine Woche lang überleben können — doch wozu? Auf der Erde würden sich bald die besten Gehirne auf sein Problem konzentrieren, und Commander Norton würde zweifellos mit Vorschlägen bombardiert werden. Er aber, Jimmy, er konnte sich nicht vorstellen, auf welche Weise er dieses Kliff von einem halben Kilometer Höhe hinuntersteigen sollte. Auch wenn er ein langes Seil besessen hätte, es gab dort nichts, woran er es festmachen könnte. Trotzdem, es war dumm — und unmännlich, sich kampflos zu ergeben. Hilfe würde, wenn überhaupt, von der See kommen müssen, und während er auf sie zumarschierte, konnte er sehr gut auch weiterhin seine Arbeit erledigen, als wäre nichts geschehen. Kein anderer Mensch würde jemals wieder Gelegenheit haben, die verschiedenartige Bodenstruktur zu beobachten und zu fotografieren, die er hinter sich bringen mußte; damit sicherte er sich eine postume Unsterblichkeit. Und wenn er auch viele andere Ehrungen vorgezogen hätte, so war diese doch besser als gar keine. Er war nur drei Kilometer Luftlinie, wie seine arme Libelle sie hätte fliegen können, von der See entfernt, doch schien es ihm jetzt ziemlich unwahrscheinlich, daß er in gerader Linie dorthin gelangen konnte; das vor ihm liegende Terrain mochte sich hier und da als ein zu großes Hindernis herausstellen. Allerdings standen ihm zahlreiche Routen zur Auswahl. Jimmy sah sie allesamt auf dieser großen gekrümmten Landkarte vor sich ausgebreitet, die von ihm zu beiden Seiten emporragte. Er hatte reichlich Zeit; mit der interessantesten Szenerie würde er beginnen, auch wenn ihn dies von der direkten Strecke wegführen sollte. Rechts von ihm, etwa einen Kilometer entfernt, lag ein Rechteck, das wie geschliffenes Glas blitzte — oder wie ein riesiges Tablett voller Juwelen. Möglicherweise war es dieser Gedanke, der Jimmys Schritte dahin lenkte. Selbst ein zum Tode Verurteilter durfte doch wohl angesichts ein paar tausend Quadratmetern voller Edelsteine ein leichtes Interesse aufbringen. Er war jedoch nicht übermäßig enttäuscht, als es sich um Millionen von Quarzkristallen in einem Sandbett handelte. Das nächstliegende Quadrat auf dem Schachbrett war da schon interessanter: es war von einem anscheinend zufälligen Muster von metallischen Hohlzylindern überzogen, die ziemlich dicht beieinanderstanden und eine Höhe von knapp einem bis fünf Meter erreichten. Das Feld war völlig unpassierbar, nur ein Panzer hätte sich einen Pfad durch diesen Röhrenwald brechen können. Jimmy wanderte zwischen dem Kristall- und dem Säulenfeld bis zur ersten Kreuzung. Das Quadrat rechts war ein riesiger Teppich oder Gewebe aus verknüpften Drähten; er versuchte einen Strang loszureißen, allerdings vergeblich. Links lag ein Mosaik aus sechseckigen Platten, die so glatt gelegt waren, daß zwischen ihnen keine Fugen sichtbar waren. Beinahe hätte es wie eine ungebrochene Fläche gewirkt, wenn die Platten nicht in allen Farben des Regenbogens geschimmert hätten. Jimmy versuchte viele Minuten lang zwei nebeneinanderliegende Platten von gleicher Färbung zu entdecken, um so vielleicht ihre Ränder festzustellen, doch fand er nicht ein einziges Beispiel. Während er einen langsamen Panoramaschwenk über die Kreuzung vornahm, jammerte er zur Nabenkontrolle: „Wofür haltet ihr das denn? Ich komme mir vor wie in einem riesigen Zusammensetzspiel gefangen. Oder ist das hier das Kunstmuseum von Rama?“ „Wir sind genauso verwirrt wie Sie, Jimmy. Aber wir haben nirgendwo ein Anzeichen dafür entdeckt, daß die Ramaner sich was aus Kunst machen. Warten wir, bis wir noch ein paar Beispiele mehr haben, bevor wir voreilige Schlüsse ziehen.“ Die zwei Beispiele, die er an der nächsten Kreuzung fand, stellten keine große Hilfe dar. Das eine Quadrat war vollkommen leer — ein neutrales Grau, hart, aber glitschig bei der Berührung. Das zweite war ein weicher Schwamm mit Milliarden winziger Löcher. Er trat prüfend mit dem Fuß dagegen, und die ganze Fläche begann unter ihm zu wogen wie kaum gefestigter Schwemmsand. Bei der nächsten Kreuzung stieß er auf etwas, das einem gepflügten Feld verblüffend ähnlich sah — nur daß hier die Furchen einheitlich einen Meter tief waren und das Material, aus dem sie bestanden, wie eine Feile oder Raspel strukturiert war. Doch Jimmy machte sich darüber nicht lange Gedanken, denn das danebenliegende Feld bereitete ihm mehr Kopfzerbrechen als alle, die er bisher gesehen hatte. Endlich war er auf etwas gestoßen, das er begreifen konnte; und er fühlte sich mehr als beunruhigt. Das ganze Quadrat war von einem Zaun umgeben, und der wirkte so alltäglich, daß er keinen zweiten Blick darauf geworfen hätte, wenn er ihn auf der Erde gesehen hätte. Da standen Pfosten — augenscheinlich aus Metall — im Abstand von fünf Metern, und dazwischen waren sechs Drähte stramm gespannt. Hinter dieser Einzäunung lag eine zweite identische — und hinter dieser eine dritte. Wieder ein Beispiel für die Übertriebenheit Ramas; was auch immer in diesem Pferch eingeschlossen sein mochte, es würde keine Möglichkeit haben auszubrechen. Es gab keinen Zugang — keine Gatter, die man öffnen könnte, um das Tier oder die Tiere hineinzutreiben, die hier allem Anschein nach gehalten wurden. Statt dessen lag im Mittelpunkt ein einziges Loch, in etwa eine verkleinerte Variante von Kopernikus. Selbst unter anderen Umständen würde Jimmy wahrscheinlich nicht gezögert haben, aber jetzt hatte er ja ohnehin nichts mehr zu verlieren. Er überstieg rasch alle drei Zäune, ging zu dem Loch und blickte hinunter. Im Unterschied zu Kopernikus war dieser Schacht nur fünfzig Meter tief. Auf dem Grund zeigten sich drei Tunnelöffnungen, groß genug, einen Elefanten durchzulassen. Und das war auch alles. Nachdem er eine Weile hinabgestarrt hatte, kam Jimmy zu dem Schluß, daß die ganze Anlage nur dann einen Sinn ergab, wenn es sich bei der Plattform dort unten um einen Lift handelte. Doch was der beförderte, das würde er wohl kaum je erfahren; er konnte nur vermuten, daß es etwas ziemlich Großes, vielleicht Gefährliches sein mußte. In den nächsten Stunden wanderte er mehr als zehn Kilometer die Seeküste entlang. Die Schachbrettquadrate hatten vor seinen Augen bereits zu verschwimmen begonnen. Einige waren dabei gewesen, die vollkommen von zeltartigen Gebilden aus Maschendraht bedeckt waren, wie gewaltige Vogelbauer. Andere wirkten wie Teiche aus einer erstarrten Flüssigkeit voller Wirbelmuster; wenn er sie jedoch vorsichtig berührte, erwiesen sie sich als völlig fest. Und dann hatte es ein Quadrat gegeben, das absolut schwarz gewesen war, das er nicht einmal deutlich erkennen konnte; nur sein Tastgefühl bewies ihm, daß da etwas war. Doch nun zeigte sich eine allmähliche Veränderung zu etwas, das er begreifen konnte. In Reihen hintereinander erstreckten sich südwärts — nein, er konnte es nicht anders nennen — Felder. Es war, als marschiere er an einer Versuchsfarm auf der Erde vorbei; jedes Quadrat bildete eine Fläche sorgfältig geglätteter Erde — die erste, die ihm in den metallischen Landschaften Ramas vorgekommen war. Die weiten Felder lagen jungfräulich, leblos da und warteten auf Feldfrucht, die offenbar niemals gepflanzt worden war. Jimmy fragte sich, welchem Zweck sie dienen mochten, denn es schien unglaublich, daß so hochzivilisierte Geschöpfe wie die Ramaner irgendeine Form von Ackerbau betrieben haben sollten. Selbst auf der Erde war Agrikultur nichts weiter als ein populäres Hobby und zur Produktion exotischer Luxusnahrungsmittel bestimmt. Aber Jimmy hätte schwören können, daß es sich hier um potentielles, makellos vorbereitetes Ackerland handelte. Nie hatte er so sauberen Boden gesehen; jedes Quadrat war von festem durchsichtigen Plastikmaterial bedeckt. Er versuchte eine Probe davon herauszuschneiden, aber sein Messer ritzte kaum die Oberfläche. Weiter landeinwärts lagen weitere Felder, und auf vielen sah er komplizierte Gebilde aus Stangen und Drähten, die allem Anschein nach dazu bestimmt waren, Kletterpflanzen zu stützen. Sie sahen sehr kahl und verlassen aus — wie blattlose Bäume im tiefsten Winter. Und der Winter, den sie erlebt hatten, mußte wirklich lang und furchtbar gewesen sein, und diese paar Wochen voll Licht und Wärme waren vielleicht nur ein kurzes Zwischenspiel, bis die Kälte wieder hereinbrach. Jimmy würde nie genau wissen, was ihn dazu veranlaßte, stehenzubleiben und sich das Metall-Labyrinth im Süden genauer anzusehen. Sein Gehirn mußte unbewußt jede Einzelheit seiner Umgebung überprüft haben: es hatte in dieser fantastisch fremdartigen Landschaft etwas noch Anomaleres bemerkt. Mitten in einem Spalier von Stangen und Drähten, etwa zweihundertfünfzig Meter von ihm entfernt, strahlte ein einzelner Farbfleck. Er war so klein und unauffällig, fast an der Grenze des Sichtbaren; auf der Erde hätte kein Mensch zweimal hingeschaut. Doch zweifellos war einer der Gründe, warum Jimmy den Fleck jetzt bemerkt hatte, der, daß er ihn an die Erde erinnerte… Er berichtete der Nabenkontrolle erst, als er sicher war, daß ein Irrtum ausgeschlossen sei und er sich nicht von seinem Wunschdenken habe verleiten lassen. Erst als er nur noch ein paar Meter davon entfernt war, hatte er Gewißheit: Leben, wie er es kannte, war in die sterile aseptische Welt Ramas vorgedrungen. Denn am Rand des Südkontinents blühte in einsamer Pracht — eine Blume. Je näher er kam, desto klarer erkannte Jimmy, daß irgend etwas nicht stimmte. In dem Plastiküberzug, der wahrscheinlich diesen Mutterboden vor der Vergiftung durch unerwünschte Lebensformen schützen sollte, war ein Loch. Durch diesen Riß wuchs eine grüne Ranke, etwa so dick wie ein Finger, in Windungen durch das Spalier herauf. Einen Meter über dem Boden brach die Ranke zu bläulichen Blättern auf, die mehr wie Federn als wie das Laub irgendeiner Jimmy bekannten Pflanze wirkten. Der Stamm endete in Augenhöhe in einer — wie Jimmy zunächst geglaubt hatte — einzelnen Blüte. Nun sah er und war wirklich nicht erstaunt, daß hier drei Blüten dicht zusammengepreßt standen. Die Blüten bestanden aus hell leuchtenden Tuben von etwa fünf Zentimetern Länge; jede Blüte hatte davon mindestens fünfzig, und sie schimmerten in so metallischem Blau, Violett und Grün, daß sie an Schmetterlingsflügel erinnerten. Jimmy hatte von Botanik fast überhaupt keine Ahnung, aber er war doch verwirrt darüber, daß er keine Spur irgendwelcher Gebilde entdecken konnte, die Staubgefäßen oder Blütenblättern ähnelten. Er überlegte, ob die Ähnlichkeit mit irdischen Blumen reiner Zufall sein könne; vielleicht handelte es sich ja hier um etwas, das mehr mit einem Korallenpolypen zu tun hatte. In jedem Fall würde dies aber die Existenz kleiner fliegender Geschöpfe implizieren, zur Befruchtung oder als Nahrung. Es kam nicht wirklich darauf an. Wie die wissenschaftliche Bestimmung auch ausfallen mochte, für Jimmy war dies einfach eine Blume. Das bizarre Wunder, dieser unramanische Zufall der Existenz dieser Blume, gemahnte ihn an alles, was er nie wieder sehen würde: und er war fest entschlossen, diese Blüte zu besitzen. Leicht würde das nicht werden. Die Pflanze stand mehr als zehn Meter von ihm entfernt, geschützt durch eine Lattenstruktur aus dünnen Stäben. Sie bildeten ein würfelförmiges Muster von weniger als vierzig Zentimetern Seitenlänge, das sich andauernd wiederholte. Jimmy hätte kein Radflieger sein können, wäre er nicht schlank und drahtig gewesen, und er würde bestimmt durch die Zwischenräume des Gitters kriechen können. Doch der Rückweg könnte sich als schwierig herausstellen; er würde sich auf keinen Fall umwenden können, also mußte er rückwärts herauskriechen. Die Nabenkontrolle war entzückt über seine Entdeckung, als er die Blume beschrieben und aus jedem möglichen Winkel fotografiert hatte. Sie hatten nichts einzuwenden, als er sagte: „Ich gehe sie holen.“ Er hatte auch gar nicht mit Einwänden gerechnet. Sein Leben gehörte jetzt ihm, und er konnte damit anfangen, was er wollte. Er legte sämtliche Kleidung ab, packte die glatten Metallstangen und begann sich durch das Rahmengeflecht hindurchzuwinden. Ein hartes Unterfangen. Er kam sich vor wie ein Häftling, der durch die Gitterstäbe seiner Zelle zu entkommen sucht. Als er ganz in dem Spalier drinsteckte, probierte er rückwärts wieder freizukommen, nur zur Probe, ob irgendwelche Probleme dabei auftauchten. Es erwies sich als außerordentlich schwierig, da er nun die ausgestreckten Arme dazu benutzen mußte, sich zu schieben, statt sich vorwärts zu ziehen. Immerhin deutete nichts darauf hin, daß er hilflos in der Falle sitzen könnte. Jimmy war ein Mann der Tat und handelte impulsiv, er neigte nicht zum Analysieren seiner Motive. Während er sich mühevoll durch den schmalen Korridor von Stäben vorwärts wand, verschwendete er keine Zeit auf die Frage, warum er eine derartige Heldentat unternahm. Er hatte sich sein Leben lang nie für Blumen interessiert, aber jetzt setzte er seine letzten Kräfte ein, um eine zu pflücken. Sicher, dieses Exemplar war einzigartig und von ungeheurem Wert für die Wissenschaft. Aber er wollte sie eigentlich mehr aus dem Grund besitzen, weil sie sein letztes Band mit der lebendigen Welt und dem Planeten seiner Geburt darstellte. Doch als die Blume dann in Reichweite war, kamen ihm plötzlich Bedenken. Vielleicht war sie die einzige Blume in ganz Rama. Hatte er das Recht, sie zu pflücken? Falls es ihm auf einen Entschuldigungsgrund ankam, konnte er sich damit trösten, daß die Ramaner selbst sie ja nicht eingeplant hatten. Es handelte sich offensichtlich um einen Mißwuchs, Äonen zu spät — oder zu früh. Doch er brauchte eigentlich gar keine Entschuldigung, und sein Zögern war nur momentan gewesen. Er griff nach vorn, packte den Stengel und riß kräftig daran. Die Blume brach ganz leicht ab; er sammelte noch zwei der Blätter ein, begann dann langsam rückwärts durch das Spalier zu kriechen. Da er jetzt bloß noch eine Hand frei hatte, kam er nur unter Schwierigkeiten, ja Schmerzen weiter, und er mußte bald einen Moment verschnaufen. In diesem Augenblick bemerkte er, daß die federartigen Blätter sich zu schließen begannen und der blütenlose Stengel sich langsam von seinen Stützen loswand. Mit einer Mischung von Ergriffenheit und Bestürzung sah er, wie die Pflanze sich gleichmäßig und ruhig in den Boden zurückzog wie eine tödlich verwundete Schlange, die in ihre Höhle zurückkriecht. Ich habe etwas Schönes gemordet, sagte Jimmy zu sich selbst. Aber andererseits war ja Rama an seinem Tod schuld. Er hatte sich nur geholt, was ihm rechtens zustand. 31. KAPITEL ENDGESCHWINDIGKEIT Commander Norton hatte bisher noch keinen Mann seiner Besatzung verloren, und er gedachte dies auch diesmal nicht zu tun. Schon vor Jimmys Aufbruch zum Südpol hatte Norton über Rettungsmöglichkeiten für den Fall eines Unglücks nachgedacht; das Problem war allerdings dermaßen schwierig, daß er keine Lösung gefunden hatte. Es war ihm nur gelungen, alle offensichtlichen Lösungen auszuklammern. Wie erklettert man eine fünfhundert Meter hohe senkrechte Steilwand — selbst bei verringerter Schwerkraft? Mit der richtigen Ausrüstung — und mit entsprechendem Training — würde das leicht genug fallen. Aber auf der Endeavour gab es keine Bolzengewehre, und keiner fand eine andere praktische Methode, wie man die Hunderte von nötigen Haken in die harte spiegelglatte Fläche hätte treiben sollen. Norton hatte sich kurz mit ausgefalleneren Lösungen beschäftigt, von denen manche ausgesprochen verrückt waren. So zum Beispiel: Wenn ein Simp mit Saugnäpfen den Aufstieg machen würde… Doch selbst wenn dieser Plan durchführbar wäre, wie lange würde es dauern, eine derartige Ausrüstung herzustellen und zu erproben — und einem Simp beizubringen, wie man sie benutzt? Und er zweifelte daran, daß ein Mensch die erforderliche Kraft für eine solche Heldentat aufbrächte. Dann wendete er sich der fortschrittlicheren Technik zu. Die Triebsätze der EVA wirkten verführerisch, doch ihr Schub war zu gering, sie waren für Operationen unter Null-Schwerkraft gebaut. Sie konnten keinesfalls das Gewicht eines Mannes heben, selbst unter der bescheidenen Schwerkraft von Rama. Oder konnte man einen EVA-Treibsatz mit automatischer Steuerung und einer Rettungsleine hochschicken? Norton hatte diese Idee an Sergeant Myron ausprobiert, der sie prompt und hitzig abgeschossen hatte. Es ergäben sich, erklärte der Ingenieur, schwerwiegende Stabilitätsprobleme; sie könnten gelöst werden, doch das würde lange dauern — viel länger, als sie sich leisten könnten. Und Ballons? Hier schien sich eine vage Möglichkeit abzuzeichnen, falls es ihnen gelang, eine Hülle zu konstruieren und eine ausreichend kompakte Hitzequelle. Diese Methode hatte Norton als einzige nicht abgelehnt, als das Problem plötzlich nicht mehr bloße Theorie war, sondern sich zu einer Frage von Leben oder Tod, diskutiert in allen Nachrichtenmedien der bewohnten Welten, entwickelte. Während Jimmy sich auf seinem Treck längs der Küste befand, versuchte die Hälfte aller Sonderlinge und Wirrköpfe des Sonnensystems, ihn zu retten. Im Flottenhauptquartier wurden alle Vorschläge erwogen, und etwa jeder Tausendste wurde an die Endeavour weitergeleitet. Der Vorschlag Dr. Carlisle Pereras kam gleich zweimal an: einmal über das Funknetz von SURVEY und einmal durch PLANETCOM; PRIORITÄT RAMA. Der Plan hatte den Wissenschaftler ungefähr fünf Minuten Nachdenken und eine Millisekunde Computerzeit gekostet. Zunächst hatte Commander Norton es für einen äußerst geschmacklosen Scherz gehalten. Dann sah er den Namen des Absenders und die beigefügten Berechnungen und änderte schlagartig seine Meinung. Er reichte Karl Mercer die Nachricht. „Was halten Sie davon?“ fragte er, so beiläufig er konnte. Karl las rasch, dann sagte er: „Also, verdammt noch mal! Er hat natürlich recht.“ „Sind Sie sicher?“ „Er hat mit dem Orkan auch recht gehabt, oder? Wir hätten selbst auf das hier kommen müssen. Ich komme mir wie ein Trottel vor.“ „Da sind Sie nicht der einzige. Aber das nächste Problem ist — wie sagen wir’s unserm Jimmy?“ „Ich glaube, wir sollten es ihm gar nicht sagen… erst im allerletzten Moment. Ich würde es jedenfalls vorziehen, wenn ich an seiner Stelle wäre. Sagen Sie ihm einfach, wir ziehen los.“ Er konnte zwar die ganze Weite der Zylindrischen See überblicken, und er wußte auch ungefähr, aus welcher Richtung das Rettungsfloß Resolution auftauchen würde, aber er entdeckte das winzige Fahrzeug doch erst, als es bereits New York hinter sich gelassen hatte. Jimmy konnte es fast nicht glauben, daß das Floß sechs Mann tragen sollte — und dazu noch, was immer sie an Ausrüstung zu seiner Rettung mitgeführt hatten. Als das Floß nur noch einen Kilometer weit weg war, erkannte er Commander Norton und begann zu winken. Kurz darauf hatte ihn auch der Käptn entdeckt und winkte zurück. „Freut mich, daß Sie in guter Verfassung sind, Jimmy“, funkte er. „Ich hatte doch versprochen, daß wir Sie nicht allein hier hängenlassen. Glauben Sie’s mir jetzt?“ Nicht so recht, dachte Jimmy. Bis zu diesem Augenblick hatte er sich noch gefragt, ob das Ganze nicht bloß ein freundschaftliches Komplott sei, um seine Moral ein wenig zu stützen. Doch der Kommandant hätte sicher nicht das Meer überquert, bloß um ihm adieu zu sagen; er mußte irgendwas ausgetüftelt haben. „Ich glaube Ihnen, Skipper“, sagte er, „wenn ich da unten bei euch an Deck bin. Wollen Sie mir jetzt sagen, wie ich es schaffen soll?“ Die Resolution verlangsamte jetzt einige hundert Meter vom Fuß des Kliffs entfernt die Fahrt; soweit Jimmy sehen konnte, hatte sie keine außergewöhnlichen Geräte an Bord — allerdings wußte er nicht genau, womit er gerechnet hatte. „Tut uns leid, Jimmy, aber wir wollten nicht, daß Sie sich über zu viele Kleinigkeiten Gedanken machen.“ Also, das klang wirklich verdächtig; was zum Kuckuck sollte das heißen? Die Resolution lag nun fünfzig Meter von Land und fünfhundert Meter unter ihm still; Jimmy konnte den Kapitän beinahe aus der Vogelperspektive betrachten, während dieser in sein Mikrofon redete. „Die Sache ist so, Jimmy. Alles ist völlig sicher, aber es gehören Nerven dazu. Und wir wissen, daß Sie davon nicht zu knapp haben. Sie werden springen.“ „Was? Fünfhundert Meter?!“ „Ja, aber bei nur einem halben G.“ „Na und? Sind Sie schon mal zweihundertfünfzig Meter tief auf der Erde abgestürzt?“ „Klappe! Oder ich streiche Ihren nächsten Urlaub. Sie hätten da ganz von selbst draufkommen müssen… Es ist einfach eine Frage der Endgeschwindigkeit. In dieser Atmosphäre können Sie gar nicht schneller fallen als neunzig Kilometer pro Stunde — gleich, ob Sie zweihundert oder zweitausend Meter fallen. Neunzig ist ein bißchen zu hoch, um angenehm zu sein, aber wir können da noch was wegnehmen. Hier ist, was Sie zu tun haben. Hören Sie also genau zu…“ „Werde ich“, sagte Jimmy. „Und hoffentlich ist es was Vernünftiges.“ Danach unterbrach er den Commander nicht mehr und lieferte auch keinen Kommentar, als Norton zu Ende gesprochen hatte. Ja, das war vernünftig, und es war so wahnsinnig einfach, daß es nur einem Genie einfallen konnte. Und vielleicht jemandem, der nicht damit rechnen mußte, es selbst durchzuführen… Jimmy hatte nie Turmspringen oder verzögerte Fallschirmabsprünge ausprobiert, was ihn psychologisch ein wenig auf eine solche Bravourtat vorbereitet haben würde. Man konnte einem Menschen sagen, es sei vollkommen sicher, auf einer Planke über einen Abgrund zu gehen — aber selbst wenn die Strukturberechnungen unanfechtbar waren, war es diesem Menschen vielleicht immer noch unmöglich, es zu tun. Jimmy begriff jetzt, warum der Commander so zurückhaltend mit den Einzelheiten der Rettungsaktion gewesen war. Man hatte ihm keine Zeit lassen wollen, zu brüten oder sich Einwände auszudenken. „Ich will Sie nicht drängeln“, klang die Stimme Nortons überredend einen halben Kilometer unter ihm. „Aber je früher, desto besser.“ Jimmy blickte auf sein kostbares Andenken: die einzige Blume in Rama. Er wickelte sie vorsichtig in sein verschmiertes Taschentuch ein, knotete die Enden zusammen und warf es über den Klippenrand hinab. Es flatterte mit beruhigender Langsamkeit hinunter, doch es brauchte auch sehr lange, wurde kleiner und kleiner und kleiner, bis er es nicht mehr sehen konnte. Doch dann schoß die Resolution vorwärts, und er wußte, sie hatten es gesichtet. „Wunderschön!“ rief der Commander begeistert aus. „Ich bin sicher, man wird es nach Ihnen benennen. — Okay… wir warten…“ Jimmy zog sich das Hemd über den Kopf — die einzige Kleidung, die sie alle in diesem nun tropisch gewordenen Klima auf dem Oberkörper trugen — und dehnte es nachdenklich aus. Während seines Trips hätte er es mehrmals beinahe weggeworfen; jetzt half es vielleicht, ihm das Leben zu retten. Zum letztenmal blickte er auf diese Hohlwelt zurück, die er als einziger Mensch erforscht hatte, auf die bedrohlichen Gipfel des Großen Horns und der Kleinen Hörner. Dann packte er mit der rechten Hand fest das Hemd und sprang nach kurzem Anlauf so weit über das Kliff weg, wie er konnte. Nun brauchte er sich nicht besonders zu beeilen: er hatte ganze zwanzig Sekunden Zeit, das Erlebnis zu genießen. Aber er verschwendete keine Zeit, als der Fallwind um ihn herum stärker wurde und die Resolution in seinem Gesichtsfeld langsam größer wurde. Er hielt sein Hemd mit beiden Händen fest und streckte die Arme über den Kopf, bis die rauschende Luft es füllte und zu einem bauchigen Fallschirm aufblies. Nun, als Fallschirm war sein Hemd nicht gerade ein Erfolg; die paar Stundenkilometer, die sein Fall dadurch abgebremst wurde, kamen zwar gelegen, waren aber nicht lebenswichtig. Das Hemd erfüllte eine viel wichtigere Aufgabe — es hielt seinen Körper in der Senkrechten, so daß er gerade in die See schießen würde. Immer noch hatte er den Eindruck, sich selbst überhaupt nicht zu bewegen, daß dagegen das Wasser unter ihm zu ihm heraufstürze. Jetzt, da er sich auf die Sache eingelassen hatte, empfand er keine Furcht mehr; tatsächlich war er sogar ein wenig auf den Skipper wütend, weil der ihn so lange im dunkeln gelassen hatte. Hatte der denn wirklich gedacht, daß er, Jimmy, zu feige sein würde zu springen, wenn er länger darüber nachgrübelte? Im allerletzten Moment ließ er das Hemd los, holte tief Luft und preßte die Hände über Nase und Mund. Wie man ihm befohlen hatte, versteifte er seinen Körper zu einem starken Block und preßte die Füße gegeneinander. Er würde so sauber wie ein stürzender Speer ins Wasser tauchen… „Es wird ganz genauso sein“, hatte der Commander ihm versprochen, „wie wenn Sie von einem Sprungbrett auf der Erde springen. Gar nix dabei — wenn man richtig eintaucht.“ „Und wenn ich das nicht tue?“ hatte Jimmy gefragt. „Dann müssen Sie wieder rauf und es noch mal versuchen.“ Etwas traf ihn auf die Fußsohlen — hart, aber nicht brutal. Eine Million schleimiger Hände rissen an seinem Körper; in seinen Ohren dröhnte es, ein wachsender Druck — und obwohl er die Augen fest geschlossen hielt, wußte er, daß die Dunkelheit um ihn herum wuchs, während er wie ein Pfeil in die Tiefen der Zylindrischen See hinabschoß. Mit aller Kraft begann er nach oben, dem schwindenden Licht entgegenzuschwimmen. Er vermochte die Augen nur zu einem ganz kurzen Blick zu öffnen; das Giftwasser brannte wie Säure. Ihm schien, als kämpfe er seit Stunden, und mehr als einmal überfiel ihn eine alptraumhafte Furcht, daß er die Richtung verloren habe und in Wirklichkeit nach unten schwimme. Dann riskierte er immer wieder einen kurzen raschen Blick, und jedesmal war das Licht kräftiger geworden. Er hatte die Augen noch immer fest zusammengekniffen, als er zur Oberfläche durchbrach. Er schluckte eine Lunge voll köstlicher Luft, rollte auf den Rücken und blickte sich um. Die Resolution eilte mit Höchstgeschwindigkeit auf ihn zu; Sekunden später packten ihn eifrige Hände und zogen ihn an Bord. „Haben Sie Wasser geschluckt?“ fragte der Kapitän besorgt. „Ich glaube nicht.“ „Spülen Sie trotzdem hiermit aus. So ist’s gut. Wie fühlen Sie sich?“ „Ich weiß noch nicht so recht. Ich sag es Ihnen gleich. Ach… übrigens, danke euch allen.“ Aber einen Augenblick später wußte Jimmy nur allzu genau, wie er sich fühlte. „Mir wird schlecht“, gestand er kläglich. Seine Retter schauten ihn ungläubig an. „Bei völliger Flaute — auf einer vollkommen flachen See?“ protestierte Sergeant Barnes, die Jimmys üblen Zustand als direkten Vorwurf gegen ihre nautischen Fähigkeiten aufzufassen schien. „Also flach würde ich es ja nicht gerade nennen “, sagte der Commander und schwang den Arm das Band entlang, das zum Kreis in den Himmel hinaufstieg. „Aber machen Sie sich nichts draus, Jimmy, vielleicht haben Sie doch was von dem Zeug geschluckt. Bringen Sie’s raus, so rasch es geht.“ Jimmy quälte sich noch immer unheldisch und erfolglos ab, als am Himmel hinter ihnen plötzlich ein Licht aufflackerte. Alle wandten den Blick zum Südpol, und Jimmy vergaß seine Übelkeit sofort. Die Hörner hatten wieder mit ihrem Feuerwerk begonnen. Da waren sie erneut, diese kilometerlangen Feuerbänder, die von der Mittelnadel zu ihren kleineren Gefährten hinuntertanzten. Erneut begannen sie feierlich zu kreisen, als wänden unsichtbare Tänzer ihre Bänder um einen elektrischen Maibaum. Doch nun drehten sie sich rascher und immer rascher, bis sie zu einem zuckenden Lichtkegel verschmolzen. Dieses Schauspiel war gewaltiger als alles, was sie hier bisher gesehen hatten, und es war begleitet von einem fernen knatternden Dröhnen, das den Eindruck gigantischer Kraft noch verstärkte. Es dauerte etwa fünf Minuten, dann brach es so abrupt ab, als habe jemand einen Schalter bedient. „Ich möchte gern wissen, was das Rama-Komitee dazu zu sagen hat“, murmelte Norton an keine bestimmte Adresse gerichtet. „Hat hier jemand irgend’ne Theorie?“ Eine Weile antwortete keiner, denn in diesem Moment meldete sich aufgeregt die Nabenkontrolle. „Resolution! Seid ihr okay? Habt ihr das gespürt?“ „Was gespürt?“ „Wir glauben, es war ein Erdbeben — muß im gleichen Moment passiert sein, als dieses Feuerwerk aufhörte.“ „Irgendwelche Beschädigungen?“ „Ich glaube nicht. Es war nicht sehr heftig — aber es hat uns ein bißchen geschüttelt.“ „Wir haben überhaupt nichts gemerkt. Aber das ist ja klar, hier draußen auf See.“ „Natürlich. Wie blöd von mir. Jedenfalls, jetzt scheint alles wieder ruhig zu sein… bis zum nächstenmal.“ „Ja, bis zum nächstenmal“, kam Nortons Echo. Das Geheimnis Ramas wurde immer gewaltiger; je mehr sie darüber herausfanden, desto weniger verstanden sie. Plötzlich drang vom Ruder ein Ruf herüber. „Skipper… sehen Sie… dort oben am Himmel!“ Norton blickte auf und ließ rasch die Augen über den Umkreis der See schweifen. Er sah nichts, bis sein Blick beinahe den Zenit erreicht hatte und er das andere Ende der Welt anstarrte. „O mein Gott“, flüsterte er langsam, als ihm bewußt wurde, daß das ›nächstemal‹ bereits beinahe da war. Die ewige Krümmung der Zylindrischen See herab kam eine Flutwelle auf sie zugerast. 32. KAPITEL DIE FLUTWELLE Doch selbst in diesem Moment des Schocks galt Nortons erste Sorge seinem Raumschiff. „Endeavour!“ rief er. „Lagebericht!“ „Alles okay, Skipper“, kam die beruhigende Antwort seines Stellvertreters. „Wir haben ein leichtes Zittern gespürt, aber es war nichts, das irgendwie Schaden anrichten konnte. Ein kleiner Richtungswechsel ist eingetreten — die Brücke sagt, etwa Punkt zwei Grad. Sie glauben auch, daß sich die Rotationsgeschwindigkeit leicht verändert hat — in ein paar Minuten werden wir darüber genaue Messungen haben.“ Es fängt also an, sagte sich Norton, und verdammt viel früher als erwartet; wir sind noch ziemlich weit vom Perihelion entfernt, wo der logische Ort wäre, eine Flugbahnänderung durchzuführen. Aber irgendein Trimm fand jetzt zweifellos statt — und vielleicht standen ihnen ja noch weitere Überraschungen bevor. Die Folgen dieses ersten Schocks waren inzwischen nur allzu deutlich sichtbar: dort oben auf dem gekrümmten Wasserband, das unablässig vom Himmel zu stürzen schien. Die Flutwelle war noch gute zehn Kilometer entfernt. Sie reichte über die ganze Breite der Zylindrischen See, vom Nord- bis zum Südufer. In Küstennähe wirkte sie wie eine Wand aus weißem Schaum, doch weiter auf See bildete sie nur eine kaum sichtbare Linie, die viel schneller voranglitt als die Brecher zu beiden Seiten. Der Sog der küstennahen Untiefen krümmte die Flutwelle bereits zu einem Bogen, dessen Mittelteil immer weiter und weiter vorausschoß. „Sergeant“, sagte Norton dringlich. „Das ist Ihr Job. Was können wir tun?“ Sergeant Barnes hatte das Boot völlig gestoppt und sondierte rasch die Lage. Norton fühlte sich erleichtert, daß ihr Gesichtsausdruck keine Spur von Panik verriet — eher eine gewisse gespannte Erregung wie bei einem erfahrenen Sportler, der sich auf eine Herausforderung vorbereitet. „Ich wollte, wir hätten ein paar Lotungen“, sagte sie. „Wenn wir in tiefem Wasser stehen, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.“ „Dann sind wir okay. Wir sind immer noch vier Kilometer von der Küste entfernt.“ „Ich hoffe. Aber ich will mir die Lage mal anschauen.“ Sie gab wieder Gas und schwang die Resolution herum, bis sie direkt auf die herannahende Woge zusteuerte. Norton schätzte, daß die schnellere Mittelpartie sie in weniger als fünf Minuten erreichen würde, doch er konnte auch sehen, daß sie keine ernsthafte Gefahr darstellte. Sie war nur eine dahinrasende Kräuselung, Bruchteile eines Meters hoch, sie würde kaum das Boot zum Schwanken bringen. Die Schaumwände weit hinter ihr stellten die eigentliche Bedrohung dar. Plötzlich erschienen genau in der Mitte der See Brecher in einer Linie. Die Woge mußte auf eine Mauer unter Wasser gestoßen sein. Die mußte mehrere Kilometer lang sein und bis knapp unter die Oberfläche reichen. Gleichzeitig fielen die Brecher an den beiden Flanken in sich zusammen, als sie in tieferes Wasser kamen. Platten gegen das Überschwappen, sagte sich Norton. Genau wie in den Treibstofftanks der Endeavour — bloß tausendmal größer. Es mußte rings um die See eine komplizierte Anordnung dieser Dinger geben, um die Wellen so rasch wie möglich zu glätten. Das einzige, worauf es jetzt ankommt, ist: stehen wir genau über einer solchen Platte? Sergeant Barnes war ihm einen Schritt voraus. Sie stoppte die Resolution abrupt und warf den Anker aus. Er kam bei nur fünf Meter auf Grund. „Anker auf!“ schrie sie den Mannschaftskameraden zu. „Wir müssen unbedingt hier weg!“ Norton pflichtete ihr aus vollem Herzen bei. Weg, ja, aber in welche Richtung? Sein Sergeant raste mit Höchstgeschwindigkeit direkt auf die Woge zu, die jetzt nur noch fünf Kilometer entfernt war. Jetzt hörte er auch zum erstenmal das Geräusch, das sie beim Heranrollen machte: ein fernes unmißverständliches Dröhnen, das er im Innern Ramas nie zu hören erwartet hätte. Dann veränderte sich die Richtungsintensität; das Mittelstück brach erneut in sich zusammen und die Flanken schwollen wieder an. Er versuchte die Entfernung zwischen den unterseeischen Wellenbrechern abzuschätzen, wobei er annahm, daß sie in gleichem Abstand angebracht waren. Wenn er recht hatte, dann müßte noch ein dritter da sein; wenn sie ihr Floß im tiefen Wasser zwischen ihnen stationieren konnten, würden sie in völliger Sicherheit sein. Sergeant Barnes drosselte den Motor und legte erneut den Anker aus. Er ging dreißig Meter tief hinunter, ohne auf Grund zu stoßen. „Jetzt sind wir okay“, sagte sie mit einem Seufzer der Erleichterung. „Aber ich lasse den Motor laufen.“ Jetzt waren nur die hinterherschleppenden Gischtwände an den Küsten zu sehen; hier außen in der Mitte der See herrschte wieder Ruhe, abgesehen von der kleinen unscheinbaren blauen Kräuselung, die immer noch auf sie zuraste. Sergeant Barnes hielt die Resolution einfach auf direktem Kurs auf den Tumult zu, in Bereitschaft, mit voller Kraft augenblicklich loszuziehen. Dann begann knapp zwei Kilometer vor ihnen die See erneut zu schäumen. Sie bäumte sich in weißmähniger Wut auf, und nun schien ihr Dröhnen die ganze Welt zu erschüttern. Auf dieser sechzehn Kilometer hohen Woge der Zylindrischen See überlagerte sich eine kleinere Welle, wie eine Lawine, die einen Berghang hinabdonnert. Und diese ›kleine‹ Welle war groß genug, sie alle umzubringen. Sergeant Barnes hatte wohl den Ausdruck auf den Gesichtern ihrer Schiffskameraden gesehen. Sie schrie gegen das Dröhnen an: „Was macht euch denn bange? Ich bin schon mit größeren fertig geworden als der da.“ Das stimmte nicht ganz; außerdem vergaß sie hinzuzufügen, daß ihre früheren Erfahrungen in einem gutgebauten Surfboot und nicht auf einem improvisierten Floß stattgefunden hatten. „Aber wenn wir springen müssen, dann wartet, bis ich euch sage, wann. Schwimmwesten überprüfen.“ Sie ist fabelhaft, dachte der Commander. Sie scheint jede Minute zu genießen, wie ein Wikingkrieger, der in die Schlacht zieht. Und sie hat wahrscheinlich recht — außer wir haben uns völlig verrechnet. Die Woge stieg weiterhin an, krümmte sich nach oben und brach. Die Krümmung über ihnen ließ vielleicht ihre Höhe größer erscheinen; dennoch, sie wirkte enorm: eine unwiderstehliche Naturkraft, die alles auf ihrem Weg besiegen würde. Dann brach sie sekundenschnell in sich zusammen, als wäre ihr von unten der Boden entzogen worden. Sie hatte die unterseeische Barriere hinter sich und zog nun wieder durch tiefe See. Als sie die Resolution erreichte, tanzte das Floß nur ein paarmal auf und ab; danach wendete Sergeant Barnes und steuerte mit voller Kraft nach Norden. „Danke, Ruby — das war exzellent. Aber schaffen wir es bis nach Hause, bevor sie ein zweites Mal herumkommt?“ „Wahrscheinlich nicht; sie kommt in etwa zwanzig Minuten wieder zurück. Aber bis dahin hat sie ihre ganze Wucht verloren, und wir werden sie kaum spüren.“ Jetzt, da die Flutwelle vorbeigezogen war, konnten sie sich entspannen und die Fahrt genießen. Allerdings würde sich keiner ganz wohl fühlen, ehe sie nicht wieder an Land waren. Hinter dem Tumult blieben im Wasser unregelmäßige Wirbel und Strudel zurück, außerdem ein äußerst eigentümlicher, säureartiger Geruch — „wie zertretene Ameisen“, wie Jimmy treffend formulierte. Obwohl der Geruch unangenehm war, verursachte er doch nicht jene Anfälle von Seekrankheit, die man hätte erwarten können; er war etwas so Fremdartiges, daß der menschliche Körper nicht darauf reagieren konnte. Eine Minute später prallte die Wogenfront gegen die nächste Unterwasserbarriere, stieg von ihnen fort in die Höhe und in den Himmel hinauf. Dieses Mal und von hinten gesehen war das Schauspiel weniger beeindruckend, und die Seefahrer schämten sich nachträglich ihrer Ängste. Sie begannen sich als die Herren der Zylindrischen See zu fühlen. Um so größer war ihr Entsetzen, als knapp hundert Meter von ihnen entfernt ein Etwas wie ein langsam kreisendes Rad aus dem Wasser aufzusteigen begann. Fünf Meter lange schimmernde Speichen tauchten tropfend aus der See auf, drehten sich einen Augenblick lang im scharfen Licht Ramas und platschten dann wieder zurück ins Wasser. Es war, als sei ein riesiger Seestern mit Röhrenarmen an die Oberfläche gestoßen. Auf den ersten Blick war es unmöglich zu sagen, ob es sich um ein Tier oder eine Maschine handelte. Dann sackte das Ding zur Seite und trieb halb unter Wasser dahin. Die leichten Nachwirkungen der Woge schaukelten es auf und nieder. Jetzt konnten sie erkennen, daß es neun Arme hatte, allem Anschein nach mit Gelenken, die radial von einer Mittelscheibe ausgingen. Zwei der Arme waren versehrt, am äußeren Gelenk abgerissen. Die übrigen endeten in einer komplizierten Ansammlung von Manipulatoren, die Jimmy stark an den Krebs unterwegs erinnerten. Beide Geschöpfe stammten aus der gleichen Evolutionslinie — oder von dem gleichen Reißbrett. In der Mitte der Scheibe erhob sich ein kleines Türmchen mit drei großen Augen. Zwei davon waren geschlossen, eines offen — aber auch dieses schien stumpf und blicklos zu sein. Keiner von ihnen zweifelte daran, daß sie den Todeszuckungen eines fremdartigen Ungeheuers zusahen, das durch den soeben abgeflauten Tumult aus den Tiefen an die Oberfläche der See geschleudert worden war. Dann sahen sie, daß es nicht das einzige war. Um das Tier — die Maschine herum schwammen zwei kleinere Tiere, die zu groß gewachsenen Hummern ähnelten, und schnappten nach den nur noch schwach zuckenden Gliedern. Sie zersäbelten geschickt das Ungeheuer, und dieses setzte sich überhaupt nicht zur Wehr, obwohl seine Klauen durchaus imstande schienen, mit den Angreifern fertig zu werden. Wieder fühlte sich Jimmy an den Krebs erinnert, wie der seine Libelle zerstückelt hatte. Er schaute gespannt zu, während der einseitige Kampf weiterging, und sein Eindruck bestätigte sich bald. „Schauen Sie, Skipper“, flüsterte er. „Sehen Sie das? Die fressen es nicht. Sie haben nicht einmal ein Maul. Sie sägen es einfach in Stükke. Genau das ist auch mit meiner Libelle passiert.“ „Sie haben recht. Sie demontieren es — wie — wie eine kaputte Maschine.“ Norton runzelte die Nase. „Aber keine tote Maschine hat je so gestunken!“ Dann kam ihm ein anderer Gedanke. „Meine Güte — stellt euch vor, die machen sich an uns ran! Ruby, bringen Sie uns so rasch Sie können zur Küste zurück!“ Die Resolution schoß ohne Rücksicht auf die Lebensdauer ihrer Stromzellen vorwärts. Hinter ihnen wurden die neun Speichen des großen Seesterns — es fiel ihnen kein besserer Name dafür ein — unablässig kürzer geschnitten, und dann versank das unheimliche Bild wieder zurück in die Tiefen der See. Sie wurden nicht verfolgt, aber sie atmeten erst erleichtert auf, als die Resolution an der Landebühne längsseits gegangen war und sie an Land gestiegen waren. Während er zurückblickte auf dieses geheimnisvolle und plötzlich so unheilvolle Wasserband, beschloß Commander Norton voller Grimm, daß nie wieder jemand über dieses Wasser fahren sollte. Es barg zuviel Unbekanntes, zu viele Gefahren… Er blickte auf die Türme und Wälle New Yorks zurück und auf die dunkle Steilküste des jenseitigen Kontinents. Dies alles war nun vor der Neugier der Menschen sicher. Er würde die Götter Ramas nicht noch einmal herausfordern. 33. KAPITEL DIE SPINNE Von jetzt an, so hatte Norton angeordnet, würden immer mindestens drei Mann in Camp Alpha stationiert sein, und einer davon würde immer Wache halten. Außerdem würden sämtliche Explorationstrupps die gleiche Routine einhalten. Potentiell gefährliche Wesen waren innerhalb Ramas unterwegs, und obgleich bisher keines Feindseligkeit gezeigt hatte, durfte ein vorsichtiger Kapitän doch kein Risiko eingehen. Als zusätzliche Sicherheit stand oben an der Nabe beständig ein Beobachter an einem starken Teleskop Wache. Von diesem günstigen Punkt aus konnte das ganze Innere Ramas überwacht werden, und selbst der Südpol wirkte, als läge er nur ein paar hundert Meter weit entfernt. Das Gebiet rings um jeden Explorationstrupp mußte unter dauernder Beobachtung stehen; auf diese Weise hoffte man jede Möglichkeit einer Überraschung auszuschalten. Es war ein guter Plan — aber er schlug völlig fehl. Nach der letzten Mahlzeit des Tages und direkt vor der für 22.00 Uhr angesetzten Schlafperiode sahen Norton, Rodrigo, Calvert und Laura Ernst die normalen Abendnachrichten, die eigens für sie von dem Zwischensender in Inferno auf dem Merkur herübergestrahlt wurden. Sie waren ganz besonders an Jimmys Filmaufnahmen vom Südkontinent und seiner Rückfahrt über die Zylindrische See interessiert — eine Episode, die alle Zuschauer stark erregt hatte. Wissenschaftler, Nachrichtenkommentatoren und Mitglieder des Rama-Komitees hatten dazu ihre meist widersprüchlichen Meinungen abgegeben. Sie konnten keine Übereinstimmung darüber erzielen, ob das krebsähnliche Geschöpf, dem Jimmy begegnet war, ein Tier, eine Maschine oder ein echter Ramaner gewesen sei — oder etwas, das sich in keine dieser Kategorien einfügen ließ. Gerade hatten sie zugesehen, wie der riesige Seestern von seinen räuberischen Angreifern zerstückelt wurde, und es war ihnen verdammt unbehaglich dabei zumute gewesen, als sie plötzlich entdeckten, daß sie nicht länger allein waren. Ein Eindringling war im Lager. Laura Ernst bemerkte ihn als erste. Sie erstarrte in plötzlichem Schrecken, dann stieß sie hervor: „Keine Bewegung, Bill. Jetzt schauen Sie langsam nach rechts.“ Norton drehte den Kopf. Zehn Meter entfernt befand sich ein schlankbeiniger Dreifuß, auf dem ein Kugelkörper von der Größe etwa eines Fußballs hockte. Auf dem Körper saßen drei große ausdruckslose Augen, anscheinend um eine Sichtweite von dreihundertsechzig Grad zu ermöglichen, und darunter hingen drei peitschenartige Tentakel herab. Das Geschöpf war nicht ganz mannsgroß und wirkte zu zerbrechlich, als daß man es für gefährlich gehalten hätte. Doch dies entschuldigte nicht ihre Nachlässigkeit, die das Ding sich unbemerkt hatte heranschleichen lassen. Es erinnerte Norton an nichts stärker als an eine dreibeinige Spinne oder an einen ›Weberknecht‹, und er fragte sich, wie es das Problem der dreifüßigen Fortbewegung — an das sich auch auf der Erde nie ein Geschöpf herangewagt hatte — gelöst haben mochte. „Was halten Sie davon, Doc?“ flüsterte er und schaltete gleichzeitig den Ton des Fernsehers aus. „Die gewohnte ramanische Dreifachsymmetrie. Ich wüßte nicht, wie es uns gefährlich werden könnte. Allerdings könnten die Peitschen unangenehm werden — und sie sind vielleicht giftig wie die eines Zölenteraten. Bleibt still sitzen und wartet, was es anfängt.“ Nachdem die Kreatur sie minutenlang teilnahmslos betrachtet hatte, bewegte sie sich plötzlich — und nun verstanden sie, warum sie ihre Ankunft nicht bemerkt hatten. Sie war rasend schnell und schoß mit einer so außergewöhnlichen Drehbewegung über den Boden, daß es dem menschlichen Auge und dem menschlichen Gehirn wirklich schwerfiel, ihr zu folgen. Soweit Norton es beurteilen konnte — und nur eine Zeitrafferkamera konnte das entscheiden —, wirkten die Beine nacheinander als Drehpunkt, um den herum das Geschöpf seinen Körper wirbelte. Und er war nicht sicher, aber er hatte außerdem den Eindruck, daß es jeweils nach ein paar ›Schritten‹ die Drehrichtung wechselte, während die drei Peitschen über den Boden zuckten wie bewegliche Blitze. Die Höchstgeschwindigkeit betrug mindestens dreißig Stundenkilometer — allerdings war auch dies sehr schwer abzuschätzen. Das Ding glitt rasch durch das Lager, untersuchte jeden einzelnen Ausrüstungsgegenstand, berührte vorsichtig die improvisierten Betten, Stühle und Tische, die Kommunikationsgeräte, Nahrungsbehälter, Elektrosan-Toiletten, Kameras, Wasserbehälter, Werkzeuge… Es schien nichts zu übersehen — außer seinen vier Zuschauern. Es war eindeutig intelligent genug, einen Unterschied zwischen menschlichen Wesen und ihrem leblosen Besitz zu machen; sein Verhalten erweckte den unmißverständlichen Eindruck einer äußerst methodischen Neugier oder Wißbegierde. „Ich wollte, ich könnte es untersuchen!“ rief Laura enttäuscht aus, während das Ding weiter seine raschen Pirouetten drehte. „Sollen wir es zu fangen versuchen?“ „Wie denn?“ fragte Calvert mit Recht. „Na, ihr wißt doch, wie die primitiven Jäger schnelle Tiere mit ein paar Gewichten am Ende eines Seiles zu Fall bringen. Und es tut ihnen nicht mal weh.“ „Das bezweifle ich“, sagte Norton. „Aber selbst wenn es funktionierte, wir können es nicht riskieren. Wir wissen nicht, wie intelligent dieses Wesen ist — und solch ein Versuch könnte ihm leicht die Beine zerschmettern. Dann säßen wir wirklich in Schwierigkeiten — von Rama, von der Erde und von allen andern auch.“ „Aber ich muß unbedingt ein Exemplar haben!“ „Sie werden sich wohl mit Jimmys Blume zufriedengeben müssen, es sei denn, eines dieser Geschöpfe ist zur Zusammenarbeit mit Ihnen bereit. Gewalt scheidet aus. Wie würde es Ihnen denn gefallen, wenn irgendwas auf der Erde landete und den Entschluß faßte, daß Sie ein hübsches Exemplar für eine Sektion abgäben?“ „Ich will es ja gar nicht sezieren“, sagte Laura keineswegs völlig überzeugend. „Ich will es ja nur untersuchen.“ „Nun, fremde Besucher könnten Ihnen gegenüber die gleiche Einstellung haben, aber es wäre möglich, daß Sie einige ganz schöne Unbequemlichkeiten durchmachen, bis Sie ihnen glauben würden. Wir dürfen nichts unternehmen, was irgendwie als Bedrohung aufgefaßt werden könnte.“ Er zitierte aus der Schiffsordnung, Laura kannte die natürlich. Die Ansprüche der Wissenschaft genossen weniger Vorrang als die der Raumdiplomatie. Tatsächlich war es gar nicht nötig, solche hochgestochenen Erwägungen ins Spiel zu bringen, denn das Ganze war einfach eine Frage der guten Manieren. Sie alle waren hier zu Besuch, und sie hatten noch nicht einmal um die Erlaubnis gebeten, eintreten zu dürfen… Das Geschöpf schien seine Inspektion beendet zu haben. Es raste noch einmal mit Höchstgeschwindigkeit um das Lager und schoß dann tangential davon — auf die Treppe zu. „Ich frage mich, wie es mit den Stufen zurechtkommen wird?“ murmelte Laura. Ihre Frage war rasch beantwortet: die Spinne beachtete die Treppe überhaupt nicht und glitt die sanft ansteigende Kurve hinan, ohne die Geschwindigkeit zu verringern. „Nabenkontrolle“, meldete sich Norton. „Ihr bekommt möglicherweise in Kürze Besuch. Werft mal einen Blick auf Treppe Alpha, Bereich Sechs. Und übrigens, herzlichen Dank dafür, daß ihr so gut auf uns aufgepaßt habt.“ Es dauerte eine Minute, bis Nortons Sarkasmus ankam; dann begann der Beobachter an der Nabe entschuldigende Geräusche von sich zu geben. „Chem — Skipper, jetzt, wo Sie mir sagen, daß da was ist, kann ich irgendwas sehen. Aber was isses?“ „Ihre Vermutung ist so gut wie meine“, antwortete Norton und drückte auf den Knopf Allgemeiner Alarm. „Camp Alpha an alle Stationen. Wir hatten gerade den Besuch einer Kreatur, die wie eine dreibeinige Spinne aussieht. Hat sehr dünne Beine, ist etwa zwei Meter groß, kleiner kugeliger Leib, bewegt sich sehr rasch mit Kreiselbewegungen. Erscheint harmlos, aber wißbegierig. Schleicht sich möglicherweise an euch ran, ohne daß ihr’s bemerkt. Bitte bestätigen.“ „Hier nichts Ungewöhnliches, Skipper.“ Von Westen in gleicher Entfernung meldete sich Rom mit verdächtig schläfriger Stimme. „Hier das gleiche, Skipper. Oh, einen Augenblick…“ „Was ist los?“ „Ich habe vor einer Sekunde meinen Schreiber weggelegt — jetzt isser fort! Was zum — oh!“ „Reden Sie vernünftig, Mann!“ „Sie werden das nicht glauben, Skipper. Ich habe mir Notizen gemacht — Sie wissen doch, ich schreibe gern, und ich störe niemanden dabei —, und ich habe meinen Lieblingskugelschreiber benutzt, er ist fast zweihundert Jahre alt — also und jetzt liegt er auf dem Boden, etwa fünf Meter von mir entfernt! Ich hab’ ihn wieder. Gott sei Dank ist er nicht beschädigt.“ „Und wie ist er dorthin gekommen? Was glauben Sie?“ „Chm — ich bin vielleicht eine Minute eingenickt. Es war ein harter Tag heute.“ Norton seufzte, enthielt sich aber eines Kommentars. Sie waren viel zu wenige, und sie hatten so wenig Zeit, eine ganze Welt zu erforschen. Nicht immer konnte die Begeisterung die Erschöpfung überwinden, und Norton fragte sich, ob sie vielleicht unnötige Risiken auf sich nähmen. Vielleicht sollte er seine Leute nicht in so kleine Gruppen aufteilen, vielleicht sollte er nicht versuchen, ein so großes Terrain zu erforschen. Doch er vergaß nie, wie rasch die Tage vorübereilten, und er dachte stets an die ungelösten Rätsel um sie herum. Die Gewißheit in ihm nahm immer mehr zu, daß bald etwas geschehen würde und daß sie dann Rama aufgeben müßten, noch bevor er das Perihelion erreicht hatte — jenen Augenblick der Wahrheit, in dem ohne Zweifel jeder Flugbahnwechsel würde stattfinden müssen. „Hört zu, Nabe, Rom, London — alle“, sagte er. „Ich will die ganze Nacht durch jede halbe Stunde Bericht haben. Wir müssen damit rechnen, daß wir von jetzt an jeden Augenblick Besuch bekommen können. Manche dieser Besucher sind vielleicht gefährlich, aber wir müssen mit allen Mitteln Zwischenfälle vermeiden. Sie alle kennen die Anweisungen in dieser Hinsicht.“ Das stimmte nur allzusehr; es gehörte zu ihrer Ausbildung — aber keiner der Männer und Frauen hatte jemals wirklich daran geglaubt, daß der so übermäßig theoretisch behandelte ›Kontakt mit außerirdischen Intelligenzen‹ zu ihren Lebzeiten stattfinden werde — ganz zu schweigen, daß sie diese Erfahrung selbst machen würden. Ausbildung war eine Sache, die Wirklichkeit war eine andere; und niemand konnte garantieren, daß die uralten menschlichen Instinkte der Selbsterhaltung im Notfall nicht die Oberhand gewinnen würden. Dennoch, es war wesentlich, daß sie jedem Wesen, dem sie in Rama begegneten, im Zweifelsfall bis zur letzten Minute — und sogar noch darüber hinaus — einräumten, es hege gute Absichten. Commander Norton wollte nicht als der Mann in die Geschichte eingehen, der den ersten interplanetaren Krieg ausgelöst hatte. Ein paar Stunden später waren Hunderte dieser Spinnen aufgetaucht und wieselten über die ganze Ebene. Per Teleskop konnte man erkennen, daß auch der Südkontinent von dieser Epidemie ergriffen war — anscheinend jedoch nicht die Insel New York. Die Spinnen kümmerten sich nicht weiter um die Forscher, und nach einer Weile beachteten diese die Spinnen auch kaum mehr — obwohl Norton von Zeit zu Zeit in den Augen seiner Stabsärztin ein raubtierhaftes Flackern zu entdecken glaubte. Er war sicher, nichts würde ihr größere Freude bereiten, als wenn einer dieser Spinnen ein bedauerlicher Unfall zustieße, und er hielt sie für durchaus imstande, einen solchen sogar herbeizuführen, um dem Interesse der Wissenschaft zu dienen. Mit ziemlicher Sicherheit verfügten die Spinnen nicht über Intelligenz; ihre Körper waren viel zu klein, als daß sie viel Gehirn enthalten konnten, ja es war sogar schwer vorstellbar, wo sie die Energie für ihre raschen Bewegungen speicherten. Und doch war ihr Verhalten merkwürdig zielstrebig und methodisch; sie schienen überall zu sein, doch sie untersuchten niemals den gleichen Ort zweimal. Wiederholt hatte Norton den Eindruck, daß sie nach etwas suchten. Was das auch immer sein mochte, sie hatten es anscheinend noch nicht gefunden. Verächtlich die drei großen Treppenkonstruktionen links liegenlassend, kletterten die Spinnen bis ganz zur Zentralnabe hinauf. Wie es ihnen gelang, die senkrechten Strecken zu erklimmen, selbst angesichts der Null-Schwerkraft, das wurde nicht klar; Laura stellte die Theorie auf, daß sie mit Saugnäpfen ausgestattet sein müßten. Und dann bekam sie, zu ihrem offenkundigen Entzücken, ihr heißersehntes Exemplar. Die Nabenkontrolle meldete, daß eine Spinne die senkrechte Wand hinuntergestürzt sei und nun tot oder bewegungsunfähig auf der ersten Plattform liege. Die Zeit, die Laura bis dorthin benötigte, stellte einen Rekord dar, der wohl nie gebrochen werden würde. Als sie auf der Plattform eintraf, stellte sie fest, daß das Wesen trotz der geringen Aufprallgeschwindigkeit alle drei Beine gebrochen hatte. Die Augen waren noch geöffnet, doch wies das Wesen keinerlei Reaktion auf die verschiedenen äußerlichen Tests auf. Selbst eine frische menschliche Leiche, entschied Laura, würde lebendiger sein; und sobald sie ihre Beute zur Endeavour zurückgeschafft hatte, begann sie mit ihrem Sektionsbesteck zu arbeiten. Die Spinne war so zerbrechlich, daß sie beinahe ohne Lauras Zutun in Stücke zerbrach. Sie löste die Beine vom Leib und zergliederte sie, dann begann sie mit dem empfindlichen Panzer um den Leib. Er spaltete sich in drei großen Kreisen und öffnete sich dann wie eine geschälte Orange. Nach ein paar Sekunden tiefster Ungläubigkeit — denn sie konnte nichts finden, was ihr bekannt vorgekommen wäre oder was sie hätte identifizieren können — fertigte Laura eine Reihe sorgfältiger Fotos an. Dann griff sie zum Skalpell. Wo sollte sie mit der Sektion beginnen? Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen und blindlings zugeschnitten, doch das wäre nicht sehr wissenschaftlich gewesen. Die Klinge drang fast ohne Widerstand ein. Eine Sekunde später hallte der äußerst undamenhafte Schrei der Stabsärztin Kapitänleutnant Ernst durch die ganze Endeavour. Der verärgerte Sergeant McAndrews brauchte gute zwanzig Minuten, um seine verschreckten Simps wieder zu beruhigen. 34. KAPITEL SEINE EXZELLENZ BEDAUERT… „Wie Sie alle wissen, meine Herren“, sagte der Marsbotschafter, „hat sich seit unserer letzten Sitzung sehr viel Neues ereignet. Wir haben vieles zu diskutieren — und zu entscheiden. Aus diesem Grund bin ich besonders betrübt darüber, daß unser geschätzter Kollege vom Merkur heute nicht unter uns weilt.“ Letzteres traf nicht ganz zu. Dr. Bose war nämlich keineswegs besonders betrübt darüber, daß Seine Exzellenz der Botschafter des Merkur abwesend war. Es hätte die Sache, sehr viel genauer getroffen, wenn man ihn besorgt genannt hätte. Sein ganzer Diplomateninstinkt sagte ihm, daß irgend etwas im Gange sei, und obgleich er über hervorragende Informationsquellen verfügte, hatte er keinerlei Hinweis erhalten können, worum es sich handelte. Der Entschuldigungsbrief des Botschafters war höflich, aber vollkommen nichtssagend gewesen. Seine Exzellenz hatte bedauert, daß dringliche und unvermeidbare Geschäfte ihn daran hinderten, persönlich und per Video an der Sitzung teilzunehmen. Es fiel Dr. Bose schwer, sich etwas Dringenderes oder Wichtigeres vorzustellen als Rama. „Zwei Mitglieder haben eine Erklärung abzugeben. Ich möchte zunächst Professor Davidson bitten.“ Erregtes Tuscheln ging durch die Reihen der übrigen Wissenschaftler. Die meisten von ihnen hatten das Gefühl gehabt, daß dieser Astronom mit seinem wohlbekannten kosmischen Standpunkt nicht der rechte Mann für den Stuhl des Vorsitzenden des Space Advisory Council sei. Er erweckte zuweilen den Eindruck, daß die Aktivitäten des intelligenten Lebens eine bedauerliche Belanglosigkeit im majestätischen Universum der Sterne und Galaxien darstellten und daß es von schlechtem Stil zeuge, wenn man dem zu große Aufmerksamkeit schenke. Damit hatte sich der Astronom bei Exobiologen wie Dr. Perera nicht gerade beliebt gemacht, denn dieser vertrat den genau entgegengesetzten Standpunkt. Für ihn und seine Kollegen bestand der einzige Zweck des Universums darin, Intelligenz hervorzubringen, und deshalb neigten sie manchmal dazu, höhnisch über rein astronomische Erscheinungen zu sprechen. „Bloße tote Materie“, lautete einer ihrer Lieblingsausdrücke. „Eure Exzellenz, Herr Botschafter“, begann der Astronom. „Ich habe das merkwürdige Verhalten Ramas während der letzten Tage analysiert und möchte Ihnen meine Schlußfolgerungen unterbreiten. Einige davon sind äußerst aufregend.“ Dr. Perera blickte überrascht auf, setzte aber dann eine undurchsichtige Miene auf. Ihm war alles sehr recht, was Professor Davidson aufregte. „Zunächst einmal war da diese bemerkenswerte Kette von Ereignissen, als dieser junge Leutnant zur südlichen Hemisphäre flog. Die elektrischen Entladungen als solche sind zwar spektakulär, aber ohne Bedeutung; man kann leicht beweisen, daß sie relativ wenig Energie enthielten. Doch sie trafen mit einer Rotationsveränderung Ramas zusammen und mit einer seiner Fluglagen — das heißt seiner Orientation im Raum. Und dies muß ein enormes Energiequantum beansprucht haben; die Entladungen, die Mr. — hmpf — Mr. Pak beinahe das Leben gekostet hätten, waren lediglich ein Nebeneffekt — vielleicht eine Störung, die durch diese gigantischen Blitzableiter am Südpol neutralisiert werden mußte. Daraus ziehe ich folgende zwei Schlüsse. Wenn ein Raumschiff — und wir müssen Rama als solches bezeichnen, trotz der fantastischen Ausmaße — seine Fluglage ändert, dann bedeutet dies gewöhnlich, daß es seine Flugbahn zu ändern vorhat. Wir müssen deshalb die Ansicht jener ernst nehmen, die überzeugt sind, daß Rama sich wahrscheinlich darauf vorbereitet, ein Planet unserer Sonne zu werden und nicht wieder zu den Sternen zurückzukehren. Wenn dies der Fall ist, dann muß die Endeavour zwangsläufig bereit sein, augenblicklich abzulegen — heißt das bei Raumschiffen so? — , falls dies plötzlich nötig sein sollte. Sie könnte sich in schwerer Gefahr befinden, solange sie noch körperlich mit Rama in Verbindung steht. Ich nehme an, daß Commander Norton sich dessen bereits wohlbewußt ist, doch ich denke, wir sollten ihm eine zusätzliche Warnung senden.“ „Vielen Dank, Professor Davidson. Ja, Dr. Solomons?“ „Ich möchte dazu einiges bemerken“, sagte der Wissenschaftshistoriker. „Rama scheint eine Rotationsänderung durchgeführt zu haben, ohne irgendwelche Düsen oder Reaktoreinrichtungen eingesetzt zu haben. Mir scheint dies nur zwei mögliche Erklärungen zuzulassen. Die erste wäre, daß Rama im Innern Gyroskope oder etwas Entsprechendes besitzt. Sie müßten riesig sein. Wo sind sie? Die zweite Möglichkeit — und das würde unsere gesamte Physik über den Haufen werfen — wäre, daß Rama über ein reaktionsloses Antriebssystem verfügt: über den sogenannten Space Drive, den Professor Davidson so sehr in Zweifel zieht. Wenn dies der Fall ist, dann könnte Rama zu nahezu allem in der Lage sein. Wir würden sein Verhalten auf keinen Fall vorherberechnen können, noch nicht einmal im groben physikalischen Bereich.“ Die Diplomaten waren von diesem Gefecht offensichtlich ein wenig verwirrt, doch der Astronom ließ sich nicht darauf ein. Er hatte für einen Tag seine Fühler weit genug vorgereckt. „Ich halte mich an die physikalischen Gesetze, wenn Sie gestatten, und zwar so lange, bis ich gezwungen bin, sie aufzugeben. Wenn wir in Rama auf keine Gyroskope gestoßen sind, dann haben wir vielleicht nicht gut genug nachgesehen oder nicht am richtigen Ort.“ Botschafter Bose merkte, daß Dr. Perera ungeduldig wurde. Normalerweise stürzte sich der Exobiologe so begeistert wie nur irgendeiner in Spekulationen; doch diesmal verfügte er zum erstenmal über ein paar feste Tatsachen. Sein Wissenschaftszweig, der so lange gedarbt hatte, war über Nacht zu üppiger Blüte gelangt. „Gut, gut — wenn es sonst dazu keine Kommentare mehr gibt — mir ist bekannt, daß Dr. Perera einige wichtige Informationen hat.“ „Danke, Euer Exzellenz. Wie Sie alle gesehen haben, ist es uns endlich gelungen, ein Exemplar einer ramanischen Lebensform in die Hand zu bekommen, und wir haben weitere Formen aus der Nähe beobachten können. Stabsärztin Kapitänleutnant Ernst, die Ärztin der Endeavour, hat einen ausführlichen Bericht über das spinnenähnliche Geschöpf geschickt, das sie seziert hat. Ich muß gleich an dieser Stelle sagen, daß einige ihrer Ergebnisse verwirrend sind und daß ich in jeder anderen Situation mich geweigert haben würde, sie ernst zu nehmen. Die Spinne ist definitiv organisch, allerdings unterscheidet sich ihre Chemostruktur von der unseren in vieler Hinsicht. Sie enthält beträchtliche Mengen leichter Metalle. Trotzdem zögere ich, sie als ein Tier zu bezeichnen, und zwar aus mehreren wesentlichen Gründen. Erstens besitzt sie anscheinend weder Mundöffnung noch Magen, noch Eingeweide — also kein System der Nahrungsaufnahme! Gleichfalls keine Vorrichtungen zur Aufnahme von Sauerstoff, keine Lungen, kein Blut, keine Fortpflanzungsorgane… Sie fragen sich vielleicht, was dieses Wesen denn nun eigentlich hat. Nun, einmal eine einfache Muskulatur, die die drei Beine und die drei peitschenähnlichen Tentakel oder Fühler kontrolliert. Dann gibt es ein Gehirn — sogar ein ziemlich kompliziertes, das in der Hauptsache mit der bemerkenswert hochentwickelten triokularen Sehfähigkeit des Geschöpfes befaßt ist. Aber achtzig Prozent des Körpers bestehen aus einer Wabenstruktur großer Zellen, und dies war es, was Frau Dr. Ernst eine so unangenehme Überraschung bereitete, als sie mit ihrer Sektion begann. Unter glücklicheren Umständen hätte sie es wohl sofort erkannt, denn es handelt sich um die einzige ramanische Struktur, die tatsächlich auch auf der Erde vorkommt — wenn auch nur bei einer Handvoll von Meerestieren. Der weitaus größte Teil der Spinne ist einfach eine Batterie, ziemlich ähnlich denen, die man in Elektrozellen und Rochen findet. Doch in unserem Fall dient diese Batterie anscheinend nicht der Verteidigung. Sie ist die Energiequelle dieses Geschöpfs. Und darum besitzt es keine Vorrichtungen zur Nahrungs- und Sauerstoffaufnahme; es braucht derartige primitive Einrichtungen nicht. Ganz nebenbei würde dies bedeuten, daß sich dieses Wesen in einem Vakuum vollkommen zu Hause fühlen würde… Wir haben also ein Geschöpf, das seinen Aufgaben und Zielen nach nichts weiter ist als ein mobiles Auge. Es verfügt über keine Greiforgane, und diese Tentakeln sind viel zu schwächlich. Wenn man mir eine genaue Beschreibung gegeben hätte, würde ich es einfach als Erkundungsinstrument bezeichnet haben. Sein Verhalten trifft zweifellos auf diese Bezeichnung zu. Diese Spinnen tun nämlich nichts anderes, als herumzulaufen und Dinge zu betrachten. Das ist alles, was sie tun können… Die anderen Tiere dagegen sind verschieden. Der Krebs, der Seestern, die Haie — alle in Ermangelung besserer Bezeichnungen — vermögen offenbar ihre Umgebung zu manipulieren und scheinen auf die verschiedenartigsten Funktionen spezialisiert zu sein. Ich nehme an, daß auch sie mit Elektrobatterien arbeiten, da sie wie die Spinne anscheinend keine Mundöffnungen besitzen. Ich bin sicher, daß Sie die biologischen Probleme richtig erkennen, die sich aus alldem ergeben. Konnten sich derartige Geschöpfe auf natürlichem Wege entwickeln? Ich glaube dies wirklich nicht. Sie scheinen entworfen zu sein wie Maschinen, die eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen haben. Wenn ich sie beschreiben müßte, würde ich sagen, es sind Roboter — biologische Roboter —, etwas, wofür es auf der Erde keine Entsprechung gibt. Wenn Rama ein Raumschiff ist, dann sind sie vielleicht Mitglieder der Besatzung. Aber wie sie geboren werden — oder geschaffen —, das kann ich Ihnen nicht sagen. Doch ich vermute, daß die Antwort drüben in New York liegt. Wenn Commander Norton und seine Leute lange genug warten können, werden sie vielleicht in zunehmendem Maß auf immer kompliziertere Wesen mit unvorhersehbarem Verhalten stoßen. Irgendwann dürften sie dann vielleicht auch auf die Ramaner selbst stoßen — die wirklichen Schöpfer jener Welt. Und, meine Herren, wenn das eintritt, dann wird es überhaupt keinen Zweifel mehr geben…“ 35. KAPITEL EXPRESS Commander Norton schlief fest und selig, als ihn sein persönlicher Nachrichtenoffizier aus glücklichen Träumen riß: Er machte mit seiner Familie auf dem Mars Ferien, flog gerade an dem majestätischen schneebedeckten Gipfel von Nyx Olympica vorbei, dem gewaltigsten Vulkan des Sonnensystems. Sein kleiner Sohn Billy hatte ihm gerade etwas zu erzählen begonnen. Jetzt würde er nie mehr erfahren, was es gewesen war. Der Traum verblaßte; die Wirklichkeit drängte sich ihm in Form der Stimme seines OvD auf, dort oben in seinem Schiff. „Tut mir leid, Sie aufzuwecken, Skipper“, sagte Kapitänleutnant Kirchoff. „Tripel-A-Priorität vom Hauptquartier.“ „Lesen Sie’s mir vor“, antwortete Norton verschlafen. „Kann ich nicht. Ist in Kode — nur für den Kommandanten.“ Norton war sofort hellwach. Nur dreimal während seiner ganzen Laufbahn hatte er eine solche Nachricht erhalten, und jedesmal hatte sie Ärger bedeutet. „Verflucht!“ knirschte er. „Was machen wir jetzt?“ Sein OvD machte sich nicht die Mühe, ihm zu antworten. Sie erfaßten das Problem beide vollkommen; es war ein Problem, das in der Schiffsordnung nicht berücksichtigt war. Im Normalfall war der Kommandant eines Raumschiffs nie mehr als ein paar Minuten von der Kommandozentrale entfernt, und dort lag das Buch mit den Kodeschlüsseln in einem nur ihm zugänglichen Safe. Wenn Norton jetzt loszog, würde er vielleicht in vier bis fünf Stunden — völlig erschöpft — sein Schiff erreichen. Aber so durfte man eine AAA-Priorität nicht erledigen. „Jerry“, sagte Norton schließlich. „Wer ist in der Kommunikationszentrale?“ „Keiner außer mir. Ich hab’ Sie selbst angerufen.“ „Ist der Aufzeichner ausgeschaltet?“ „Ja. Merkwürdige Sache. Völlig gegen die Vorschriften.“ Norton lächelte vor sich hin. Jerry war der beste Diensthabende Offizier, mit dem er je zusammengearbeitet hatte. Der Junge dachte immer an alles. „Okay. Sie wissen, wo mein Schlüssel ist. Rufen Sie zurück.“ Während der nächsten zehn Minuten wartete er so geduldig, wie es ihm nur möglich war, und bemühte sich — ziemlich erfolglos —, an andere Probleme zu denken. Er verschwendete nur höchst ungern geistige Energie, und es war ja ziemlich unwahrscheinlich, daß er erraten könnte, was die eingetroffene Nachricht enthalten würde. Den Inhalt würde er sowieso früh genug erfahren. Dann war der richtige Zeitpunkt gekommen, sich Sorgen zu machen. Als der OvD zurückrief, stand er offenbar unter beträchtlichem Streß. „Es ist gar nicht wirklich dringend, Skipper, und eine Stunde mehr macht wirklich keinen Unterschied. Aber ich möchte lieber nicht über Funk gehen. Ich schicke Ihnen die Nachricht durch Boten runter.“ „Aber warum denn — oh, na gut —, ich verlaß mich auf Ihr Urteilsvermögen. Wer bringt es durch die Luftschleusen?“ „Ich komme selbst. Ich melde mich, wenn ich an der Nabe bin.“ „Und damit ist Laura OvD.“ „Nur für eine Stunde, äußerstenfalls. Ich gehe gleich danach wieder zum Schiff zurück.“ Ein Stabsarzt verfügte nicht über die Spezialausbildung, die zur Führung eines Raumschiffs nötig war, ebensowenig wie ein Kommandant in der Lage wäre, eine Operation durchzuführen. In Notfällen hatte man manchmal beide Aufgaben mit Erfolg vertauscht; aber es war nicht ratsam. Nun, eine Vorschrift war heute nacht ja bereits verletzt worden… „Für das Protokoll haben Sie das Schiff keinen Moment verlassen. Haben Sie Laura geweckt?“ „Ja. Sie ist entzückt über die Gelegenheit.“ „Was für ein Glück, daß Ärzte es gewohnt sind, Geheimnisse für sich zu behalten. Ach — übrigens —, haben Sie daran gedacht, die Bestätigung zu senden?“ „Selbstverständlich. In Ihrem Name“.“ „Gut. Ich warte also.“ Aber jetzt war es Norton ganz unmöglich geworden, sich von ängstlichen Erwartungen freizuhalten. Nicht wirklich dringend — aber ich möchte lieber nicht über Funk gehen… Eins war klar: in dieser Nacht würde der Commander nicht mehr sehr viel Schlaf finden. 36. KAPITEL DER BIOTEN-WACHTPOSTEN Sergeant Pieter Rousseau wußte genau, warum er sich freiwillig für diese Aufgabe gemeldet hatte; er konnte hier auf verschiedene Weise einen Kindheitstraum verwirklichen. Teleskope hatten ihn bereits fasziniert, als er gerade erst sechs oder sieben Jahre alt war, und in seiner Jugend hatte er viel Zeit darauf verwendet, Linsen aller möglichen Gestalt und Größe zu sammeln. Er hatte sie in Pappröhren befestigt und sich Instrumente von immer höherer Potenz gebaut, bis er mit dem Mond und den Planeten, den näher gelegenen Raumstationen und der gesamten Umgebung im Umkreis von dreißig Kilometern um sein Elternhaus vertraut war. Seinen Geburtsort hatte er sich dafür gut gewählt: er lag in den Bergen Colorados, und die Aussicht war in fast alle Richtungen lohnend und unerschöpflich. Er hatte in völliger Sicherheit stundenlang die Gipfel erforscht, die in jedem Jahr ihren Zoll an unvorsichtigen Bergsteigern forderten. Und wenn er vieles gesehen hatte, so hatte er sich doch noch viel mehr in der Fantasie ausgemalt. Er hatte sich immer gern vorgestellt, daß hinter jedem Felskamm jenseits der Reichweite seines Teleskops Zauberkönigreiche voller wunderbarer Geschöpfe lägen. So hatte er es jahrelang vermieden, die Orte zu besuchen, die ihm seine Linsen nahe rückten, weil er wußte, die Wirklichkeit würde sich mit seinem Traum nicht messen können. Jetzt und hier auf der Mittelachse von Rama konnte er Wunder beobachten, die noch die wildesten Fantasien seiner Jugendjahre weit übertrafen. Vor ihm lag eine ganze Welt ausgebreitet — sicher, es war nur eine kleine Welt, aber ein Mensch konnte sein ganzes Leben damit verbringen, viertausend Quadratkilometer zu erforschen, auch wenn sie tot waren. Doch nun war das Leben mit all seinen unendlichen Möglichkeiten nach Rama gekommen, und wenn die biologischen Roboter keine Lebewesen sein sollten, so waren sie doch zumindest eine sehr gute Imitation von Lebewesen. Niemand wußte, wer den Begriff ›Biot‹ erfunden hatte; er schien plötzlich allgemein gebräuchlich geworden zu sein, in einer Art von gemeinsamer spontaner Wortschöpfung. Von seinem günstigen Aussichtspunkt an der Nabe begann der Chef-Bioten-Wachtposten Pieter — wie er glaubte — allmählich bestimmte Züge im Verhaltensmuster der Bioten zu begreifen. Die Spinnen waren freibewegliche Sensoren, die ihre Sehfähigkeit — möglicherweise auch die Tastfähigkeit — einsetzten, um den gesamten Innenraum Ramas zu untersuchen. Zuzeiten waren Hunderte von ihnen mit hoher Geschwindigkeit herumgehuscht, doch kaum zwei Tage später waren sie verschwunden; und jetzt war es ganz außergewöhnlich, wenn man auch nur eine von ihnen sah. An ihre Stelle war eine ganze Menagerie weit eindrucksvollerer Wesen getreten — es war keine leichte Aufgabe gewesen, sich Namen für sie auszudenken. Da gab es die Fensterputzer mit ihren großen Polsterfüßen, die offenbar die sechs künstlichen Sonnen Ramas der ganzen Länge nach polierten. Ihre riesigen Schatten, die genau auf dem Durchmesser dieser Welt auf die andere Seite fielen, verursachten dort manchmal kurzdauernde Eklipsen. Der Krebs, der die Libelle demontiert hatte, schien ein Straßenkehrer zu sein. Eine Relaiskette identischer Geschöpfe war in Camp Alpha erschienen und hatte alle Abfälle fortgebracht, die man säuberlich am Lagerrand gestapelt hatte; sie hätten auch alles übrige weggeschleppt, wenn ihnen nicht Norton und Mercer tapferen Widerstand geleistet hätten. Die Begegnung war beunruhigend, aber kurz gewesen; danach hatte es den Anschein, als begriffen die Straßenkehrer, was sie mitnehmen durften und was nicht, und kehrten in regelmäßigen Abständen zurück, um zu sehen, ob ihre Dienste erwünscht waren. Ein äußerst bequemes Arrangement, das auf einen hohen Intelligenzgrad schließen ließ — entweder bei den Straßenkehrern selbst oder in einer irgendwo gelegenen Kontrollzentrale. Die Müllabfuhr in Rama funktionierte nach einem sehr einfachen Prinzip: alles wurde ins Meer gekippt, wo es aller Wahrscheinlichkeit nach zu Strukturen aufgestapelt wurde, die erneut Verwendung finden konnten. Die Müllabfuhr wurde mit rapider Schnelligkeit abgewikkelt; die Resolution war zum großen Ärger von Ruby Barnes über Nacht verschwunden. Norton tröstete sie mit dem Hinweis, daß das Floß seine Aufgabe großartig erfüllt habe und daß er sowieso niemandem gestattet haben würde, es wieder zu benutzen. Die Haie konnten ja möglicherweise weniger Unterscheidungsvermögen besitzen als die Straßenkehrer. Kein Astronom, der einen bisher unbekannten Planeten entdeckt, hätte glücklicher sein können als Pieter Rousseau, als er einen neuen Biotentyp ausmachte und durch das Teleskop ein gutes Foto von ihm schießen konnte. Unglücklicherweise schienen alle interessanteren Spezies drüben am Südpol versammelt zu sein, wo sie geheimnisvolle Funktionen an den Hörnern erfüllten. Ein Wesen, das wie ein Tausendfüßler aussah, der Saugnäpfe an den Beinen hat, konnte hin und wieder am Großen Horn selbst gesichtet werden. An den niedrigeren Gipfeln hatte Pieter kurz einen Blick auf eine stämmige Kreatur erhaschen können, die man eventuell als eine Kreuzung zwischen einem Flußpferd und einer Planierraupe hätte bezeichnen mögen. Und es gab sogar eine doppelhälsige Giraffe, die offenbar die Rolle eines mobilen Krans spielte. Allem Anschein nach erforderte Rama wie jedes Raumschiff nach seiner ungeheuerlich langen Reise Kontrollen, Tests und Reparaturen, und die Besatzung war bereits heftig am Werk. Wann würden die Passagiere in Erscheinung treten? Aber die Klassifizierung von Bioten war nicht Pieters Hauptaufgabe. Er hatte die zwei oder drei Explorationstrupps zu überwachen, die ständig unterwegs waren. Er sollte darauf achten, daß sie nicht in Schwierigkeiten gerieten, er mußte sie warnen, wenn sich ihnen irgend etwas näherte. Alle sechs Stunden wurde er von jemandem abgelöst, der gerade nicht gebraucht wurde, aber mehr als einmal war er ununterbrochen zwölf Stunden lang auf seinem Posten gewesen. Das hatte dazu geführt, daß er nun die Geographie Ramas besser kannte als irgendein anderer Mensch. Sie war ihm so vertraut wie die Colorado-Berge seiner Jugend. Als Jerry Kirchoff durch die Luftschleuse Alpha kam, wußte Pieter sofort, daß etwas Außergewöhnliches im Gange sein mußte. Personalaustausch wurde nie während der Schlafperiode durchgeführt, und jetzt war es nach Mitternacht (Schiffszeit). Dann fiel Pieter ein, wie knapp an Leuten sie waren, und eine viel bestürzendere Unregelmäßigkeit wurde ihm schockartig bewußt. „Jerry — wer hat Befehl im Schiff?“ „Ich“, antwortete der OvD kalt und klappte seinen Helm auf. „Sie denken doch nicht etwa, daß ich die Brücke verlasse, während ich Wache habe, oder?“ Er langte in seine Allzwecktasche und holte eine kleine Dose hervor, die noch das Etikett trug: KONZENTRIERTER ORANGENSAFT: ERGIBT FÜNF LITER. „Sie können doch so was prima, Pieter. Der Skipper wartet darauf.“ Pieter nahm die Dose wiegend in die Hand und sagte: „Ich hoffe, Sie haben genügend Masse hineingesteckt. Manchmal bleiben sie auf der ersten Terrasse stecken.“ „Nun, Sie sind doch der Fachmann.“ Und das stimmte nur zu genau. Die Beobachter an der Nabe hatten ausreichend Gelegenheit gehabt zu üben, wie man kleinere Gegenstände hinunterschickte, die vergessen worden waren oder dringend benötigt wurden. Der Trick bestand darin, sie sicher über den Bereich der Schwerelosigkeit hinauszubefördern und darauf zu achten, daß danach, während der acht Kilometer langen Rollstrecke abwärts, der Corioliseffekt sie nicht zu weit von dem Lager, für das sie bestimmt waren, abtrieb. Pieter suchte festen Halt, packte die Dose und schleuderte sie den Abhang hinunter. Er zielte nicht direkt auf Camp Alpha, sondern fast in einem Winkel von dreißig Grad daneben. Beinahe sofort nahm der Luftwiderstand der Dose die Anfangsgeschwindigkeit, doch dann begann die Pseudoschwerkraft Ramas zu wirken, und sie bewegte sich mit konstanter Geschwindigkeit abwärts. Einmal prallte sie am Fuß der Leiter auf und vollführte einen Zeitlupensprung über die erste Terrasse hinaus. „Jetzt isses okay“, sagte Pieter. „Wollen Sie wetten?“ „Nein“, lautete die prompte Antwort. „Sie kennen sich zu gut aus.“ „Das ist aber unsportlich von Ihnen. Aber ich sage Ihnen jetzt schon — die Büchse wird innerhalb von dreihundert Metern von Camp Alpha liegenbleiben.“ „Das scheint mir nicht sehr nahe.“ „Versuchen Sie’s doch gelegentlich mal. Ich hab’ mal gesehen, wie Joe ein paar Kilometer vorbeigeschossen hat.“ Die Dose hüpfte jetzt nicht mehr; die Schwerkraft hatte soweit zugenommen, daß sie nun an der gebogenen Innenfläche der Nordkappe zu kleben schien. Als sie die zweite Terrasse erreicht hatte, rollte sie mit etwa zwanzig bis dreißig Stundenkilometern dahin und hatte damit die höchste Geschwindigkeit erreicht, die die Reibung zulassen würde. „Und jetzt müssen wir warten“, sagte Pieter und setzte sich wieder an sein Teleskop, um die ›Luftpostbombe‹ im Auge zu behalten. „In zehn Minuten wird sie dort sein. Ah, hier kommt der Skipper — ich habe mich daran gewöhnt und kann Leute sogar aus diesem Winkel erkennen —, jetzt schaut er zu uns rauf.“ „Ich habe den Eindruck, dieses Teleskop vermittelt Ihnen eine Art Machtgefühl!“ „Aber ja doch. Ich bin der einzige, der alles weiß, was sich in Rama tut. Jedenfalls habe ich geglaubt, daß ich es weiß.“ Pieters Stimme klang anklagend, er warf Kirchoff einen vorwurfsvollen Blick zu. „Wenn es Sie glücklich macht, der Skipper hat gemerkt, daß er keine Zahnpasta mehr hat.“ Danach schlief das Gespräch ein. Schließlich aber sagte Pieter: „Ich wollte, Sie hätten die Wette angenommen… er braucht bloß fünfzig Meter weit zu gehen… jetzt sieht er sie… Auftrag ausgeführt.“ „Danke, Pieter. Sehr gute Leistung. Und jetzt können Sie sich wieder schlafen legen.“ „Was heißt hier schlafen! Ich habe bis 4.00 Uhr Wache!“ „Tut mir sehr leid — aber Sie müssen geschlafen haben. Oder wie erklären Sie sich sonst, daß Sie all das geträumt haben?“ SPACE SURVEY HAUPTQUARTIER AN COMMANDER SS ENDEAVOUR. PRIORITÄT AAA. GEHEIMSTUFE NUR FÜR KAPITÄN. KEINE AUFZEICHNUNG PER DAUERRECORDER. SPACEGUARD BERICHTET ULTRASCHNELLES RAUMFAHRZEUG OFFENBAR VOR ZEHN ODER ZWÖLF TAGEN VON MERKUR GESTARTET UM RAMA ABZUFANGEN. FALLS KEINE FLUGBAHNÄNDERUNG EINTREFFEN FÜR VOM DATUM 322 TAGE 15 STUNDEN BERECHNET. KANN NÖTIG WERDEN DASS SIE VORHER EVAKUIEREN. WEITERE ANWEISUNGEN FOLGEN. OBERKOMMANDO Norton las die Nachricht ein halbes dutzendmal durch, um sich das Datum einzuprägen. Es fiel in Rama schwer, das Zeitgefühl nicht zu verlieren; er mußte auf seine Kalenderuhr sehen, um herauszufinden, daß heute der Tag war. Damit blieb ihnen nur noch eine Woche… Die Nachricht war niederschmetternd, nicht nur wegen ihres Inhalts, sondern auch wegen der Implikationen. Die Hermianer hatten einen heimlichen Start vorgenommen — was an und für sich bereits ein Bruch der Weltraumgesetze war. Die Schlußfolgerung war eindeutig: ihr ›Raumfahrzeug‹ konnte nur eine Vernichtungsrakete sein. Aber warum? Es war unvorstellbar — also beinahe unvorstellbar —, daß sie es riskieren würden, die Endeavour in Gefahr zu bringen, also würde er aller Wahrscheinlichkeit nach von den Hermianern gründlich gewarnt werden. Im Notfall konnte er innerhalb weniger Stunden abdocken. Allerdings würde er dies nur unter schärfstem Protest und auf direkten Befehl des Oberkommandierenden hin tun. Langsam und tief in Gedanken versunken ging er zu dem improvisierten Lebenserhaltungsgerät hinüber und ließ die Nachricht in eine Elektrosan-Toilette fallen. Der leuchtende Laserblitz, den er durch den Spalt unter dem Sitzdeckel sehen konnte, verriet ihm, daß den Sicherheitsbestimmungen Genüge geschehen war. Es ist doch zu blöd, sagte er sich, daß man nicht alle Probleme so rasch und so hygienisch aus der Welt schaffen kann. 37. KAPITEL DIE RAKETE Die Rakete war noch fünf Millionen Kilometer weit entfernt, als der Schein ihrer Plasma- Bremsdüsen im Hauptteleskop der Endeavour deutlich sichtbar wurde. Inzwischen war das Geheimnis publik geworden, und Norton hatte widerwillig die zweite und möglicherweise letzte Evakuierung aus Rama befohlen; doch er beabsichtigte nicht eher abzudocken, bis ihm die Ereignisse keine andere Wahl ließen. Als das Bremsmanöver beendet war, befand sich der unwillkommene Gast vom Merkur nur noch fünfzig Kilometer von Rama entfernt und führte offensichtlich mittels seiner Fernsehkameras eine genaue Überprüfung durch. Man konnte diese Kameras genau erkennen — eine am Bug und eine am Heck, ebenso mehrere kleine Rundstrahlantennen und eine große Richtantenne, die beständig auf den fernen Planeten Merkur gerichtet war. Norton fragte sich, was für Anordnungen wohl über diesen Leitstrahl ankommen und was für Informationen zurücklaufen mochten. Aber eigentlich konnten die Hermianer ja gar nichts herausbringen, was sie nicht sowieso schon wußten; sämtliche Entdeckungen, die die Endeavour gemacht hatte, waren im ganzen Sonnensystem verbreitet worden. Dieses Raumfahrzeug — es hatte sämtliche Geschwindigkeitsrekorde gebrochen, um hierherzugelangen — konnte nur der verlängerte Arm sein für die Absichten und Pläne seiner Konstrukteure, ein Instrument, das ihren Zielen diente. Und diese Ziele würde man bald kennen, denn in drei Stunden beabsichtigte der Botschafter des Merkur, die Generalversammlung der United Planets zu informieren. Offiziell gab es die Rakete noch gar nicht. Sie hatte keine Erkennungszeichen und sendete nicht auf Standardfrequenz. Dies war ein schwerer Bruch der Vereinbarungen, aber noch nicht einmal SPACEGUARD hatte bisher formell Protest erhoben. Alle warteten nervös und ungeduldig darauf, was die Leute vom Merkur weiter tun würden. Drei Tage waren vergangen, seit die Existenz — und die Herkunft — der Rakete bekannt waren; doch die ganze Zeit hatten sich die Hermianer in ein hartnäckiges Schweigen gehüllt. Sie waren Meister darin, wenn es ihren Zielen diente. Einige Psychologen hatten die Behauptung aufgestellt, daß es nahezu unmöglich sei, die Mentalität von Menschen ganz zu verstehen, die auf dem Merkur geboren wurden. Die Hermianer waren für alle Zeit von der Erde durch deren dreimal höhere Schwerkraft verbannt; sie konnten vom Mond aus über diese schmale Schlucht auf den Planeten ihrer Vorfahren (ja zum Teil sogar ihrer Eltern) schauen, doch sie konnten ihn niemals besuchen. Darum behaupteten sie selbstverständlich, daß sie dies gar nicht wollten. Sie gaben vor, den sanften Regen zu verachten, die wogenden Felder, die Seen und Meere, den blauen Himmel — Dinge, die sie überhaupt nur aus Aufzeichnungen kannten. Da ihr Planet von so hoher Sonnenenergie überflutet wurde, daß die Tagestemperatur oftmals sechshundert Grad erreichte, legten sie sich eine affektierte angeberische Hartgesottenheit zu, die ernsthafter Nachforschung keinen Augenblick lang standhielt. Tatsächlich neigten sie zu körperlicher Schwächlichkeit, da sie ja nur überleben konnten, wenn sie völlig gegen ihre Umgebung abgeschirmt waren. Ein Hermianer würde in einem Gebiet in Äquatornähe auf der Erde an einem heißen Tag sehr rasch außer Gefecht gesetzt werden, selbst wenn er die Schwerkraft vertragen könnte. Aber wo es wirklich darauf ankam, waren die Hermianer unglaublich zäh. Der psychologische Druck, den dieser wild pulsierende Stern, die Sonne, in so großer Nähe auf sie ausübte, die technischen Probleme der Unterwerfung dieses so abweisenden Planeten, dem man sämtliche Lebensnotwendigkeiten entreißen mußte — all dies zusammen hatte zu einer spartanischen und in vielerlei Hinsicht höchst bewundernswerten Kultur geführt. Auf die Hermianer konnte man sich verlassen: wenn sie etwas versprachen, dann hielten sie das auch ein — die Rechnung, die sie dafür präsentierten, konnte allerdings beachtlich sein. Einer ihrer Lieblingsscherze sagte, daß sie die Sonne, falls diese sich je in eine Nova zu verwandeln drohte, gern unter Kontrolle bringen würden — vorausgesetzt, die vertraglichen Summen dafür wären garantiert. Ein anderer Witz, der seinen Ursprung nicht auf dem Merkur hatte, lautete, daß jedes Kind, das auch nur das kleinste Anzeichen von Interesse an Kunst, Philosophie oder theoretischer Mathematik erkennen ließ, sofort wieder in die hydroponischen Kulturen zurückgesteckt würde. Soweit es sich um Kriminelle und Psychopathen handelte, war dies leider kein Witz. Kriminalität war ein Luxus, den unter anderen sich der Merkur nicht erlauben konnte. Commander Norton hatte den Merkur einmal besucht, war ungeheuer beeindruckt gewesen — wie die meisten Besucher — und hatte dort viele Freunde gewonnen. Er hatte sich in Port Luzifer in ein Mädchen verliebt und sogar daran gedacht, einen dreijährigen Ehevertrag zu unterzeichnen, doch die Eltern mißbilligten eine Verbindung mit einem Mann, der von außerhalb der Venusbahn stammte. Nun, auch das hatte nichts weiter ausgemacht… „Tripel-A-Nachricht von der Erde, Skipper“, meldete sich die Brücke. „Vokal und Begleittext. Sind Sie bereit?“ „Bestätigen Sie und Computern Sie den Text. Geben Sie mir das Vokalband.“ „Hier ist es.“ Admiral Hendrix’ Stimme klang ruhig und sachlich, als erteile er einen routinemäßigen Flottenbefehl, und nicht, als habe er es mit einer Situation zu tun, die in der Geschichte der Raumfahrt einzigartig war. Aber schließlich saß er ja auch nicht zehn Kilometer von der Bombe entfernt. „Oberkommandierender an Kommandanten der Endeavour. Hier eine kurze Zusammenfassung der Lage, soweit wir sie jetzt überblikken können. Sie wissen, daß die Generalversammlung um 14.00 Uhr zusammentritt, und Sie werden den Verlauf der Sitzung verfolgen. Es ist möglich, daß Sie sofort darauf Aktionen unternehmen müssen, ohne Rücksprache mit uns; deshalb vorsorglich diese Instruktionen. Wir haben die Fotos analysiert, die Sie uns gesendet haben; das Raumfahrzeug ist eine standardisierte Raumsonde, die hochgetrimmt wurde auf starken Antrieb und die möglicherweise die Initialzündung per Laserstrahl erhält. Größe und Masse entsprechen einer Wasserstoffbombe im 500- bis 1000-Megatonnen- Bereich; die Hermianer verwenden bis zu 100 Megatonnen routinemäßig bei der Erschließung von Bodenschätzen, also dürfte es ihnen keine Schwierigkeiten bereitet haben, eine derartige Sprengkraft zusammenzubauen. Ferner versichern uns unsere Fachleute, daß dies in etwa die Minimalgröße darstellt, wenn man sichergehen will, daß Rama vernichtet wird. Wenn die Rakete an der dünnsten Stelle — unter der Zylindrischen See — detonierte, würde sie ein Leck in den Rumpf schlagen, und die Rotation des Raumkörpers würde dann das Zerstörungswerk vollenden. Wir nehmen an, daß die Hermianer, falls sie eine solche Aktion geplant haben, Ihnen rechtzeitig mitteilen werden, sich abzusetzen. Zu Ihrer Information: der Gammastrahlenblitz solch einer Bombe könnte für Sie innerhalb eines Bereichs von bis zu tausend Kilometern gefährlich sein. Doch dies ist nicht die größte Gefahr. Die Wrackteile von Rama, die tonnenschwer sein würden und mit fast tausend Stundenkilometern wegtrudeln könnten, wären in der Lage, Sie noch in unbegrenzter Entfernung zu vernichten. Wir empfehlen deshalb, daß Sie sich längs der Rotationsachse bewegen, da in dieser Richtung keine Trümmerteile abgestoßen werden. Zehntausend Kilometer müßten ein ausreichender Sicherheitsabstand sein. Diese Nachricht kann nicht abgefangen werden; sie geht über einen Mehrfach-Pseudo- Zufallskanal. Deshalb kann ich Klartext in Englisch mit Ihnen reden. Ihre Antwort ist möglicherweise nicht ganz so abgesichert, sprechen Sie also vorsichtig und verwenden Sie gegebenenfalls den Kode. Ich setze mich sofort nach der Generalversammlung wieder mit Ihnen in Verbindung. Ende der Nachricht. Oberkommando, Ende.“ 38. KAPITEL DIE GENERALVERSAMMLUNG Den Geschichtsbüchern zufolge hatte es eine Zeit gegeben, in der die alten Vereinten Nationen Mitglieder hatten. Allerdings konnte sich das kaum einer mehr vorstellen. Die Vereinten Planeten (UP) hatten nur sieben, und selbst das war manchmal schon schlimm genug. Entsprechend ihrer Nähe zur Sonne waren dies: Merkur, Erde, Mond, Mars, Ganymed, Titan und Triton. Diese Liste enthielt zahlreiche Auslassungen und Zweideutigkeiten, die vermutlich irgendwann in der Zukunft bereinigt werden würden. Die Kritiker des Systems wurden niemals müde, darauf hinzuweisen, daß die meisten Mitglieder der Vereinten Planeten ja überhaupt keine Planeten seien, sondern Satelliten. Und es sei lächerlich, daß die vier Giganten Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun nicht vertreten seien… Aber auf diesen Gasgiganten lebte kein Mensch, und mit ziemlicher Sicherheit würde dort auch nie jemand leben. Das gleiche mochte für jenen anderen großen, nicht repräsentierten Planeten gelten: für die Venus. Selbst die begeistertsten Planeteningenieure gaben zu, daß es Jahrhunderte dauern würde, die Venus zu zähmen. Aber inzwischen ließen die Hermianer sie nicht aus den Augen und brüteten zweifellos über langfristigen Plänen in dieser Hinsicht nach. Auch die getrennte Repräsentanz von Erde und Luna war ein beständiger Zankapfel gewesen; die übrigen Mitglieder argumentierten, daß damit ein Teilbereich des Sonnensystems zu große Macht erhalte. Aber auf dem Mond lebten mehr Menschen als auf allen anderen Welten, ausgenommen die Erde — und der Mond war nun einmal der einzig mögliche Treffpunkt für Sitzungen der UP. Überdies stimmten Erde und Mond kaum jemals in einem Punkt überein, darum war es unwahrscheinlich, daß sie jemals einen gefährlichen Block bilden würden. Der Mars hatte die Treuhandschaft über die Asteroide — mit Ausnahme der Ikarischen Gruppe (die von Merkur verwaltet wurde) — und einer Handvoll anderer, deren Perihelion jenseits des Saturn lag und die deshalb von Titan beansprucht wurden. Eines Tages würden die größeren Asteroiden wie Pallas, Vesta, Juno und Ceres selbst bedeutend genug sein, ihre eigenen Botschafter zu haben, und die Mitgliederzahl der UP würde dann zweistellig sein. Ganymed vertrat nicht nur den Jupiter — und damit eine größere Masse als das gesamte Sonnensystem zusammengenommen —, sondern auch die restlichen schätzungsweise fünfzig Jupitersatelliten, falls man die vorübergehenden Prisen aus dem Asteroidengürtel mit einbezog (die Juristen stritten sich noch immer um diesen Punkt). In gleicher Weise kümmerte sich Titan um den Saturn, seine Ringe und die übrigen etwa dreißig Satelliten. Die Lage Tritons war sogar noch komplizierter. Der große Neptunmond war der fernste Weltkörper des Sonnensystems, der beständig bewohnt war. Das hatte zur Folge, daß sein Botschafter eine beträchtliche Anzahl von Flaggen vertrat. Er war Repräsentant des Uranus und seiner acht Monde (von denen bislang noch keiner erobert worden war), des Neptun und seines einzigen Mondes und der einsamen mondlosen Persephone. Und wenn es jenseits von Persephone Planeten geben sollte, dann würden sie gleichfalls in den Verantwortungsbereich Tritons fallen. Und als reichte das nicht aus, hatte man den Botschafter der Äußeren Finsternis, wie er gelegentlich bezeichnet wurde, zuweilen klagen hören: „Und was ist mit den Kometen?“ Allgemein bestand der Eindruck, daß man die Lösung dieses Problems der Zukunft überlassen solle. Und doch war diese Zukunft bereits sehr konkret eingetreten. Manchen Definitionen zufolge war Rama ein Komet, denn Kometen waren die einzigen sonstigen Besucher aus den Tiefen des Alls, und viele von ihnen waren auf hyperbolischen Bahnen der Sonne sogar näher gekommen, als Ramas Bahn es erwarten ließ. Jeder Weltraumrecht-Jurist würde daraus einen sehr guten Fall konstruieren können — und der Merkurbotschafter war einer der besten Juristen auf diesem Gebiet. „Wir erteilen das Wort Seiner Exzellenz dem Botschafter des Merkur.“ Da die Delegierten entsprechend der Entfernung ihres Planeten im umgekehrten Uhrzeigersinn plaziert waren, saß der Hermianer zur äußersten Rechten des Vorsitzenden. Bis zur letzten Minute hatte er die Verbindung mit seinem Computer gehalten; nun setzte er die Synchro-Brille ab, die verhinderte, daß irgend jemand sonst die Nachrichten auf seinem Bildschirm entziffern konnte. Er nahm den Stapel Notizen von seinem Tisch und erhob sich rasch. „Herr Vorsitzender, geehrte Mitabgeordnete, ich darf mit einer kurzen Zusammenfassung der Situation, der wir uns jetzt konfrontiert sehen, beginnen.“ Hätte ein anderer Delegierter den Ausdruck ›kurze Zusammenfassung‹ gebraucht, dann hätten wohl alle Zuhörer heimlich gestöhnt, aber jedermann wußte, daß die Hermianer ganz genau meinten, was sie sagten. „Das gigantische Raumschiff oder der künstliche Asteroid, der Rama getauft wurde, wurde vor einem Jahr in der Region außerhalb Jupiters geortet. Zunächst hielt man es für einen natürlichen Himmelskörper, der auf einer Hyperbelbahn lief, um die Sonne herum und wieder zurück zu den Sternen. Als seine wahre Natur erkannt wurde, hat man den Beobachter Endeavour zur Kontaktaufnahme abbeordert. Ich zweifle nicht daran, daß wir alle Commander Norton und seiner Besatzung zu der Effizienz gratulieren, mit der sie diesen ihren einzigartigen Auftrag durchführen konnten. Anfangs glaubten wir, Rama sei tot — seit so vielen hunderttausend Jahren erstarrt, daß eine Wiederbelebung unmöglich erschien. In einem strikt biologischen Sinn mag das auch jetzt noch zutreffen. Es scheint unter den Wissenschaftlern, die sich mit der Materie befaßt haben, allgemeine Übereinstimmung zu herrschen, daß kein lebender Organismus von einer gewissen komplexen Struktur in der Lage ist, einen künstlichen Scheintod mehr als nur ein paar Jahrhunderte zu überleben. Selbst bei absoluter Schwerelosigkeit dürften demnach die Restquantenwirkungen zu viele Zellinformationen auslöschen, als daß die Wiedererweckung möglich wäre. Demzufolge hatte es den Anschein, daß trotz der enormen Bedeutung Ramas für die Archäologie nicht mit größeren astropolitischen Problemen zu rechnen sein würde. Heute ist es klar, daß dies eine äußerst naive Einschätzung der Lage war. Allerdings haben manche Kritiker von Anfang an darauf hingewiesen, daß Ramas Flugbahn zu exakt auf die Sonne ziele, als daß dies reiner Zufall sein könnte. Aber selbst dann, so hätte man argumentieren können — und man argumentierte tatsächlich so —, konnte es sich um ein fehlgeschlagenes Experiment handeln. Rama hatte zwar das geplante Ziel erreicht, doch die kontrollierende Intelligenz hatte nicht überleben können. Auch dieser Standpunkt erscheint jetzt sehr naiv, denn er unterschätzt die Wesen, mit denen wir es zu tun haben. Was wir vergessen haben in Erwägung zu ziehen, war die Möglichkeit eines nichtbiologischen Überlebens. Wenn wir die äußerst plausible Theorie Dr. Pereras akzeptieren, und sie wird sicherlich allen Fakten gerecht, dann existieren die innerhalb Ramas beobachteten Geschöpfe erst seit sehr kurzer Zeit. Ihre Produktionsmuster oder Schablonen waren in irgendeiner zentralen Datenbank gespeichert, und als die Zeit reif war, wurden sie aus den vorhandenen Rohstoffen hergestellt. Möglicherweise waren diese in der metallo-organischen Suppe der Zylindrischen See enthalten. Derartige Unternehmungen liegen heute noch ein wenig außerhalb der menschlichen Möglichkeiten, doch sie stellen theoretisch kein Problem mehr dar. Wir wissen, daß feste Schaltungen im Gegensatz zu lebendiger Materie Informationen ohne Verluste über unbegrenzte Zeiträume aufzubewahren vermögen. Also ist Rama vollkommen operationsbereit und in der Lage, die Absichten seiner Erbauer zu erfüllen — welche immer die sein mögen. Von unserem Standpunkt aus spielt es keine Rolle, ob die Ramaner selbst alle seit einer Million Jahren tot sind oder ob auch sie neu geschaffen werden und sich zu ihren Dienern gesellen, was jeden Augenblick möglich sein könnte. So oder so wird ihr Wille vollzogen und wird auch in Zukunft vollzogen werden. Rama hat uns inzwischen den Beweis geliefert, daß sein Antriebssystem noch funktioniert. In wenigen Tagen wird er am Perihelion sein, wo er logischerweise eventuell wichtige Flugbahnänderungen vornehmen müßte. Wir müssen also damit rechnen, daß wir bald einen neuen Planeten haben — und er würde sich durch die Bezirke des Sonnensystems bewegen, die der Jurisdiktion meiner Regierung unterstehen. Es ist natürlich auch möglich, daß Rama weitere Richtungsänderungen vornimmt und sich auf eine definitive Umlaufbahn irgendwo um die Sonne begibt. Er könnte sogar zu einem Satelliten eines größeren Planeten werden. Zum Beispiel der Erde… Meine Herren Mitabgeordneten, wir sehen uns also einer ganzen Reihe von Möglichkeiten konfrontiert, von denen einige allerdings wirklich ernster Natur sind. Es wäre töricht zu behaupten, daß jene Geschöpfe uns freundlich gesonnen sein müssen, daß sie sich in keiner Weise in unsere Angelegenheiten einmischen werden. Wenn sie in unser Sonnensystem kommen, dann deshalb, weil sie hier etwas holen wollen. Selbst wenn es nur wissenschaftliche Kenntnisse sein sollten — überlegen Sie sich bitte, wie dieses Wissen Verwendung finden könnte… Wir sehen uns jetzt einer Technologie gegenüber, die Hunderte, ja vielleicht Tausende von Jahren weiter fortgeschritten ist als die unsere — und einer Kultur, zu der es möglicherweise überhaupt keine Berührungspunkte gibt. Wir haben das Verhalten der biologischen Roboter studiert — der sogenannten Bioten —, soweit dies aus den Filmen, die Commander Norton vom Inneren Ramas übermittelte, möglich war, und wir sind zu bestimmten Schlußfolgerungen gelangt, die wir Ihnen hier unterbreiten wollen. Wir auf dem Merkur haben wahrscheinlich Pech, daß wir keine lokalen Lebensformen zur Beobachtung haben. Doch verfügen wir natürlich über vollkommen umfassende Aufzeichnungen über die irdische Zoologie, und dort entdeckten wir eine frappierende Parallele zu Rama. Und zwar handelt es sich um die Termitenkolonie. Wie bei Rama existiert auch dort eine künstliche Welt mit einer kontrollierten Umwelt. Wie bei Rama hängt die Funktionsfähigkeit von einer ganzen Reihe hochspezialisierter biologischer Maschinen ab — Arbeitern, Baumeistern, Bauern und — Kriegern. Und wenn wir auch nicht wissen, ob Rama eine Königin hat, so möchte ich doch die Vermutung äußern, daß die Insel, die als New York bekannt ist, eine ähnliche Funktion erfüllen dürfte. Es wäre selbstverständlich absurd, den Vergleich zu weit voranzutreiben; er ist in vielen Punkten nicht stichhaltig. Aber ich erlaube mir, ihn Ihnen aus folgenden Gründen zu unterbreiten: Bis zu welchem Grad würde jemals zwischen menschlichen Wesen und Termiten eine Zusammenarbeit oder eine Verständigung möglich sein? Wenn es keinerlei Interessenkonflikte gibt, tolerieren sich die beiden Spezies. Doch wenn eine von beiden entweder das Territorium oder die Hilfsmittel der anderen Gattung benötigt, wird kein Pardon gegeben. Dank unserer Technologie und unserer Intelligenz sind wir stets in der Lage zu siegen, wenn wir dazu nur stark genug entschlossen sind. Doch manchmal fällt dies nicht leicht, und manch einer ist überzeugt, daß auf lange Sicht der Sieg doch noch den Termiten zufallen wird… Bedenken Sie dies, und erwägen Sie nun die furchtbare Bedrohung, die Rama für die menschliche Zivilisation bedeuten könnte. Ich sage ›könnte‹ — nicht muß. Und welche Schritte haben wir unternommen, um dem Schlimmsten zu begegnen, falls es eintreffen sollte? Überhaupt keine. Wir haben nur geredet und spekuliert und gescheite Abhandlungen verfaßt. Nun, meine Herren Mitabgeordneten, der Merkur hat mehr als dies getan. Gemäß den Bestimmungen der Klausel 34 des Weltraumabkommens von 2057, denen zufolge wir berechtigt sind, alle nötigen Schritte zu unternehmen, um die Unversehrtheit unseres Solarraums zu erhalten, haben wir ein hochpotenziertes Nukleargeschoß in die Nähe Ramas gebracht. Ich muß sagen, daß wir äußerst glücklich wären, wenn wir es nicht einsetzen müßten. Doch jetzt sind wir wenigstens nicht mehr hilflos, wie dies zuvor der Fall war. Man könnte anführen, daß wir einseitig gehandelt hätten, ohne vorherige Konsultationen. Wir geben dies zu. Doch kann einer sich hier vorstellen — ich bitte um Vergebung, Herr Vorsitzender —, daß wir eine derartige Übereinkunft in der uns zur Verfügung stehenden Zeit hätten erreichen können? Wir halten dafür, daß wir nicht nur in unserem eigenen Interesse handelten, sondern in dem der ganzen menschlichen Rasse. Alle kommenden Generationen werden uns vielleicht eines Tages für unsere Vorsicht danken. Wir waren uns natürlich darüber im klaren, daß es eine Tragödie — ja sogar ein Verbrechen — sein würde, ein so wunderbares Artefakt wie Rama zu zerstören. Und wenn es irgendeinen Weg gibt, dies ohne Risiken für die Menschheit zu vermeiden, würden wir uns glücklich schätzen, diesen Weg kennenzulernen. Wir jedenfalls haben keinen gefunden, und die Zeit wird knapp. Innerhalb der nächsten paar Tage — ehe Rama das Perihelion erreicht — müssen wir die Entscheidung fällen. Wir werden der Endeavour rechtzeitig und ausführlich Nachricht geben — doch wir würden Commander Norton anraten, sich ständig bereitzuhalten, innerhalb einer Sekunde abzudocken. Es ist durchaus denkbar, daß Rama jeden Moment weitere dramatischen Veränderungen durchmachen kann. Das ist alles, Herr Vorsitzender, meine Herren Kollegen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, und ich rechne auf Ihre bereitwillige Unterstützung.“ 39. KAPITEL ENTSCHEIDUNGSSCHWIERIGKEITEN „Nun, Rod, wie passen die Hermianer in ihr theologisches Weltbild?“ „Nur allzu gut, Commander“, antwortete Leutnant Rodrigo mit humorlosem Lächeln. „Es ist der uralte Kampf zwischen den Kräften des Guten und des Bösen. Und zuweilen müssen die Menschen in diesem Kampf eine Seite wählen.“ Habe ich doch gewußt, daß es irgend so was ist, dachte Norton. Diese Situation muß für Boris ein Schock gewesen sein, aber ich glaube nicht, daß er resignieren und sie passiv hinnehmen wird. Die Kosmo-Christen waren energische und kompetente Leute. Tatsächlich ähnelten sie in mancherlei Hinsicht den Hermianern beträchtlich. „Ich vermute, Sie haben einen Plan, Rod?“ „Jawohl, Commander. Es ist wirklich ganz einfach. Wir brauchen nur die Bombe zu entschärfen.“ „Aha. Und welchen Vorschlag zur Durchführung haben Sie?“ „Ich nehme eine kleine Drahtschere mit.“ Wenn jemand anderer ihm diesen Vorschlag unterbreitet hätte, Norton würde an einen Scherz geglaubt haben. Nicht so bei Boris Rodrigo. „Moment mal! Das Ding strotzt von Kameras. Glauben Sie denn, daß die Hermianer einfach auf ihrem Hintern sitzenbleiben und Ihnen zusehen werden?“ „Aber sicher; mehr können sie nämlich gar nicht tun. Wenn das Funksignal bei ihnen ankommt, ist es bereits viel zu spät. Ich kann die Sache leicht in zehn Minuten erledigen.“ „Ich verstehe. Die werden aber wütend sein. Aber nehmen Sie mal an, die Bombe hat eine Sicherungsvorrichtung und Ihre Manipulation zündet sie?“ „Das scheint mir höchst unwahrscheinlich, und wozu sollte es auch dienen? Diese Bombe wurde für eine bestimmte Aufgabe im tiefen Weltraum gebaut, und sie ist sicherlich mit allen möglichen Sicherungsvorkehrungen ausgestattet, um die Detonation zu verhindern, außer auf einen positiven Befehl hin. Aber dieses Risiko gehe ich gern ein — und es ist möglich, ohne unser Schiff dabei zu gefährden. Ich habe mir alles genau überlegt.“ „Ich bin sicher, das haben Sie“, sagte Norton. Die Idee war verführerisch, und er war davon begeistert. Besonders behagte ihm die Vorstellung, wie frustriert die Hermianer sein würden, und er würde viel darum gegeben haben, ihre Reaktionen sehen zu können, wenn ihnen — zu spät — klarwurde, was mit ihrem tödlichen Spielzeug passierte. Doch es gab Komplikationen in anderer Hinsicht, und sie schienen sich zu vermehren, je länger Norton das Problem überdachte. Er sah sich vor die bei weitem schwierigste und kritischste Entscheidung seiner ganzen Laufbahn gestellt. Und das war sogar noch eine lächerliche Untertreibung. Er stand vor der schwierigsten Entscheidung, die jemals ein Kommandant zu treffen hatte: denn von ihr konnte sehr wohl die Zukunft der gesamten menschlichen Rasse abhängen. Denn was war, wenn die Hermianer recht hatten? Nachdem Rodrigo ihn verlassen hatte, knipste er das BITTE-NICHT-STÖREN-Schild an seiner Tür an; er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er es zum letztenmal benutzt hatte, und war fast ein wenig überrascht, daß es funktionierte. Nun war er mitten im Herzen seines überfüllten, von geschäftigem Lärm erfüllten Schiffes ganz mit sich allein. Nur das Porträt des Kapitäns James Cook blickte aus den Fernen der Zeit auf ihn herab. Die Erde zu konsultieren war unmöglich; man hatte ihn ja bereits gewarnt, daß alle Nachrichten abgehört werden konnten — möglicherweise sogar durch Relais an der Bombe selbst. Damit lag die Verantwortung uneingeschränkt in seinen Händen. Irgendwo hatte er einmal eine Geschichte über einen Präsidenten der Vereinigten Staaten gehört — war es Roosevelt gewesen oder Truman? –, der auf seinem Schreibtisch ein Schild stehen hatte mit der Aufschrift: ›Der Schwarze Peter landet hier.‹ Norton war nicht ganz sicher, was ein ›Schwarzer Peter‹ war, aber er wußte, wenn einer auf seinem Schreibtisch gelandet war. Er konnte nichts tun und mußte abwarten, bis die Hermianer ihn aufforderten abzudokken. Wie würde man das in den Geschichtsbüchern der Zukunft lesen? Norton machte sich keine übergroßen Sorgen über seinen Ruhm oder seine Schmach nach dem Tode, aber er legte auch keinen Wert darauf, für alle Zeiten als Mittäter in einem kosmischen Verbrechen in die Erinnerung der Menschen einzugehen, eines Verbrechens, das zu verhindern in seiner Macht gestanden hätte. Und Rodrigos Plan war einwandfrei. Wie er es nicht anders erwartet hatte, hatte dieser das kleinste Detail ausgearbeitet, jede Möglichkeit vorweggenommen — selbst die unwahrscheinliche Gefahr, daß die Bombe gezündet werden könnte, wenn man an ihr herumhantierte. Aber falls dies eintreten sollte, würde die Endeavour immer noch hinter Rama als Schutzschild sicher sein. Und was Leutnant Rodrigo selbst betraf, so schien er die Möglichkeit der sofortigen Auferstehung mit völligem Gleichmut zu betrachten. Doch selbst wenn die Bombe erfolgreich entschärft wäre, so bedeutete dies noch lange nicht, daß die Sache damit erledigt war. Die Hermianer könnten es ja erneut versuchen — es sei denn, man fand einen Weg, ihnen Einhalt zu gebieten. Aber wenigstens hätten sie ein paar Wochen Aufschub gewonnen; Rama würde weit jenseits des Perihelions sein, ehe es einem zweiten Geschoß möglich wäre, ihn zu erreichen. Und bis dahin würden hoffentlich die schlimmsten Befürchtungen der Panikmacher entkräftet sein. Oder aber auch umgekehrt… Tun oder Nichttun, das war hier die Frage. Nie zuvor in seinem Leben hatte Commander Norton sich dem Dänenprinzen so verwandt gefühlt. Wie immer er entschied, die Möglichkeiten eines guten oder bösen Ausgangs schienen sich vollkommen die Waage zu halten. Er sah sich vor die schwierigste aller moralischen Entscheidungen gestellt. Wenn seine Wahl falsch war, dann würde er dies sehr rasch erfahren. Aber wenn sie richtig war — würde er vielleicht nie in der Lage sein, dies zu beweisen… Es hatte keinen Sinn, sich noch weiter mit logischen Argumenten herumzuschlagen und die möglichen Zukunftsalternativen zu skizzieren. Auf diese Weise konnte man nur endlos im Kreis herumrennen. Es war an der Zeit, daß er auf seine inneren Stimmen hörte. Er erwiderte den ruhigen, stetigen Blick, der ihn über die Jahrhunderte hinweg traf. „Ich stimme Ihnen zu, Kapitän“, flüsterte er. „Die menschliche Rasse muß mit ihrem Gewissen leben können. Was immer auch die Hermianer behaupten mögen: Überleben ist nicht alles.“ Er drückte den Rufknopf der Brückensprechanlage und sagte langsam: „Leutnant Rodrigo — ich würde Sie gern sprechen.“ Dann schloß er die Augen, hakte die Daumen in die Sicherheitsgurte seines Sessels und machte sich bereit, ein paar Augenblicke völliger Entspanntheit zu genießen. Es würde möglicherweise geraume Zeit vergehen, bis ihm dies wieder vergönnt wäre. 40. KAPITEL DER SABOTEUR Der Skooter war von allen unnötigen Gegenständen befreit worden; jetzt war er nur noch ein offenes Rahmenwerk, das die Antriebs-, Lenkungs- und Lebenserhaltungssysteme zusammenhielt. Selbst der Sitz für den Kopiloten war entfernt worden, da jedes Kilogramm an Extramasse mit Aktionszeit hätte bezahlt werden müssen. Dies war einer der Gründe dafür gewesen, wenn auch nicht der einzige, warum Rodrigo darauf bestanden hatte, allein zu gehen. Die Aufgabe war dermaßen einfach, daß kein zweites Paar Hände eingesetzt werden mußte, und das Gewicht eines zweiten Passagiers würde mehrere Minuten Flugzeit gekostet haben. So wie es jetzt war, konnte der Skooter mit mehr als einem Drittel G beschleunigen; er konnte die Strecke von der Endeavour zu der Rakete in vier Minuten überwinden. Damit blieben sechs Minuten übrig, und das sollte eigentlich ausreichen. Rodrigo blickte nur einmal zurück, nachdem er das Raumschiff verlassen hatte. Er sah, daß es sich, wie geplant, von der Mittelachse abgesetzt hatte und nun sacht über der wirbelnden Scheibe des Nordendes davonschwebte. Wenn er die Bombe erreichte, würde zwischen ihr und der Endeavour die Masse Ramas liegen. Er ließ sich Zeit mit dem Flug über die Nordpolebene. Hier brauchte er sich noch nicht zu beeilen, da ihn die Kameras der Bombe noch nicht ausmachen konnten. Also konnte er Treibstoff sparen. Dann trieb er über den gebogenen Rand der Welt hinaus — und dort lag das Raketengeschoß vor ihm. Es blitzte hell in einem Sonnenlicht, das sogar noch schärfer war als jenes auf seinem Ursprungsplaneten. Rodrigo hatte bereits die Lenkautomatikknöpfe gedrückt. Er aktivierte die Sequenz: der Skooter trudelte auf seinen Gyros und hatte innerhalb weniger Sekunden vollen Schub erreicht. Zuerst schien ihn das plötzliche Gewicht erdrücken zu wollen, dann gewöhnte Rodrigo sich daran. Immerhin hatte er innerhalb Ramas ein zweifach höheres Gewicht ertragen — und schließlich war er auf der Erde geboren, wo es dreimal höher war. Die gewaltige gekrümmte Außenwand des fünfzig Kilometer langen Zylinders fiel langsam unter ihm zurück, als der Skooter sich direkt auf die Rakete ausrichtete. Aber es war unmöglich, Ramas Größe abzuschätzen, da er so völlig glatt und strukturlos war — dermaßen ohne bestimmte Züge, daß es schwerfiel zu sagen, ob er wirklich rotierte. Einhundert Sekunden Aktionszeit waren vergangen; Rodrigo näherte sich der Halbwegmarke. Die Rakete lag noch immer zu weit entfernt, als daß man Einzelheiten hätte erkennen können, doch wirkte sie nun viel leuchtender vor dem jettschwarzen Himmel. Es war merkwürdig, daß keine Sterne zu sehen waren — nicht einmal die schimmernde Erde oder die blendende Venus; die dunklen Filter zum Schutz seiner Augen vor dem tödlich grellen Glanz machten dies unmöglich. Rodrigo hatte die Vermutung, daß er dabei war, einen Rekord zu brechen; wahrscheinlich hatte nie zuvor ein Mensch so nahe der Sonne außerhalb eines Raumschiffs gearbeitet. Er hatte Glück, daß die Sonnenaktivität gering war. Bei zwei Minuten und zehn Sekunden begann das Wendelämpchen zu blinken, der Schub fiel auf Null, der Skooter drehte sich um hundertachtzig Grad herum. Sofort kam wieder voller Schub, doch jetzt bremste er das Fahrzeug mit der gleichen irren Geschwindigkeit von drei Metern pro Sekunde rapide ab — ja eigentlich noch schneller, da er ja fast die Hälfte der Antriebsmasse verloren hatte. Die Rakete lag noch fünfundzwanzig Kilometer weit weg; noch zwei Minuten, und er würde sie erreicht haben. Er hatte eine Höchstgeschwindigkeit von fünfzehnhundert Stundenkilometern geschafft — für einen Skooter war das absoluter Irrsinn, und wahrscheinlich brach er damit einen weiteren Rekord. Aber schließlich war sein Unternehmen kaum als eine Routine-EVA zu bezeichnen, und er wußte haargenau, was er tat. Die Rakete wuchs immer mehr; jetzt konnte er auch die Hauptantenne sehen, die unbeirrbar auf den fernen Planeten Merkur gerichtet stand. Während der letzten drei Minuten waren die Bilder seiner Annäherung mit Lichtgeschwindigkeit über ihren Leitstrahl gesendet worden. Nun würde es noch zwei Minuten dauern, bevor die Signale den Merkur erreicht hatten. Was würden die Hermianer tun, wenn sie ihn sahen? Es würde Bestürzung herrschen, ganz ohne Frage; sie würden natürlich sofort wissen, daß er mit der Bombe mehrere Minuten früher Kontakt aufgenommen hatte, ehe sie überhaupt wissen konnten, daß er unterwegs war. Wahrscheinlich würde ein Wachtposten im Dienst seine Vorgesetzten informieren — das würde weitere Zeit in Anspruch nehmen. Doch selbst im denkbar schlimmsten Fall — selbst wenn der Diensthabende Offizier autorisiert sein sollte, die Bombe zu zünden, und wenn er unmittelbar auf den Auslöseknopf drückte — würde es noch weitere fünf Minuten dauern, bis das Signal eintraf. Obgleich Rodrigo keine Wette darauf eingehen mochte — die Kosmo-Christen waren alles andere als Spielernaturen —, war es doch ziemlich sicher, daß eine solche sofortige Reaktion nicht erfolgen werde. Die Hermianer würden zögern, ein Aufklärungsfahrzeug von der Endeavour zu vernichten, auch wenn sie seinen Absichten mißtrauten. Sie würden ohne Zweifel zunächst einmal den Versuch unternehmen, irgendwie Kontakt aufzunehmen. Und auch das würde eine Verzögerung bedeuten. Außerdem gab es einen noch plausibleren Grund: die Hermianer würden nicht eine Gigatonnenbombe für einen armseligen Skooter verschwenden. Und es würde eine nutzlose Verschwendung sein, wenn die Bombe zwanzig Kilometer von ihrem vorgesehenen Ziel detonierte. Sie würden das Ding erst bewegen müssen. Also, er hatte wirklich massig Zeit… aber er würde vorsichtshalber mit dem Schlimmsten rechnen. Er würde vorgehen, als werde der Auslöseimpuls in der kürzestmöglichen Zeitspanne eintreffen — also innerhalb von fünf Minuten. Während der Skooter sich die letzten paar hundert Meter heranschlich, verglich Rodrigo rasch die Einzelheiten, die er nun wahrnehmen konnte, mit dem, was er auf den Fotos aus weiter Entfernung gesehen hatte. Was zuvor nur ein Sortiment von Bildern gewesen war, verwandelte sich nun in hartes Metall und glatten Kunststoff. Es war nicht länger etwas Abstraktes, sondern eine tödliche Wirklichkeit. Die Rakete war ein Zylinder von etwa zehn Metern Länge und drei Metern Durchmesser — durch einen seltsamen Zufall waren dies beinahe die gleichen Proportionen wie die Ramas. Sie war an dem Rahmenwerk der Trägerrakete durch offene Verstrebungen von kurzen T-Stützen befestigt. Aus irgendeinem Grund — wahrscheinlich wegen dem Schwergewichtspunkt der Masse — stand die Bombe rechtwinkelig zur Achse der Trägerrakete, wodurch das angemessen bedrohliche Bild eines Hammers entstand. Und tatsächlich war es ja auch ein Hammer. Einer, der schwer genug war, eine ganze Welt zu zertrümmern. Von beiden Enden der Bombe gingen Kabelstränge aus, liefen über den zylindrischen Teil und verschwanden durch das Rahmenwerk im Innern des Fahrzeugs. Hier waren die gesamte Kommunikation und Kontrolle konzentriert. Die Bombe selbst besaß keinerlei antennenartiges Gebilde. Rodrigo brauchte nur diese zwei Kabelstränge zu unterbrechen, und nichts als harmloses unentzündbares Metall würde übrigbleiben. Obwohl er genau damit gerechnet hatte, erschien es ihm nun doch ein wenig zu leicht. Er warf einen Blick auf seine Uhr: noch dreißig Sekunden, ehe die Hermianer Kenntnis von seiner Existenz erhalten konnten, selbst wenn sie gesehen hatten, wie er um die Nordbegrenzung Ramas herumgebogen war. Es standen ihm also mit absoluter Gewißheit fünf Minuten Zeit zur Verfügung, in denen er ohne Störung arbeiten konnte, und eine neunundneunzigprozentige Wahrscheinlichkeit, daß er länger Zeit hatte. Sobald der Skooter völlig zum Stillstand gekommen war, verankerte Rodrigo ihn an dem Gerippe des Geschosses, so daß beide wie eine einheitliche starre Konstruktion wirkten. Dies kostete ihn nur ein paar Sekunden. Sein Werkzeug hatte er sich bereits vorher ausgesucht, und er kletterte sofort aus dem Pilotensitz. Der steife, starkisolierte Raumanzug hinderte ihn nur leicht in seinen Bewegungen. Als erstes untersuchte er eine kleine Metallplakette, die die Inschrift trug: DEPARTMENT ENERGIETECHNIK ABTLG. D. 47, SUNSET BOULEVARD VULCANOPOLIS, 17464 AUSKÜNFTE ÜBER: MR. HENRY K. JONES Rodrigo erlaubte sich den Verdacht, daß in ein paar Minuten Mr. Henry Jones außerordentlich viel zu tun haben würde. Die kräftige Drahtschere wurde rasch mit den Kabelsträngen fertig. Als die ersten Kabel getrennt waren, hatte Rodrigo höchstens beiläufig an das höllische Feuer gedacht, das da nur ein paar Zentimeter von ihm entfernt gefesselt lag. Wenn sein Eingreifen dieses Höllenfeuer zum Aufflammen brächte — er würde es nie merken. Er blickte wieder auf seine Uhr. Er hatte weniger als eine Minute gebraucht, und das bedeutete, daß er genau nach Zeitplan arbeitete. Nun kam das zweite, das Sicherheitskabel, an die Reihe — und wenn das erledigt war, konnte er sich auf den Heimweg machen, direkt unter den Augen der empörten und frustrierten Hermianer. Er hatte gerade begonnen, den zweiten Kabelstrang anzugehen, als er in dem Metall, das er berührte, ein ganz schwaches Zittern verspürte. Erschreckt blickte er zurück auf die Trägerrakete. Der charakteristische blauviolette Schein einer aktivierten Rückstoßdüse waberte um einen der Kontrolljets. Die Bombe machte sich zu einer Richtungsänderung bereit. Die Nachricht vom Merkur war kurz und vernichtend. Sie traf zwei Minuten später ein, nachdem Rodrigo um die Krümmung Ramas verschwunden war. AN COMMANDER ENDEAVOUR VON MERKUR SPACE CONTROL, INFERNO WEST. SIE HABEN EINE STUNDE ZEIT NACH ERHALTEN DIESER NACHRICHT, SICH VON RAMA ZU ENTFERNEN. SCHLAGEN VOR, MAXIMALBESCHLEUNIGUNG LÄNGS DER ROTATIONSACHSE, BESTÄTIGUNG DES EMPFANGS ERBETEN. ENDE. Norton las die Durchschrift mit völlig ungläubigem Erstaunen, dann packte ihn der Zorn. Er mußte sich gegen den kindischen Impuls wehren, den Hermianern einfach zurückzufunken, daß seine gesamte Mannschaft sich innerhalb von Rama aufhalte und daß es Stunden dauern werde, sie alle zu evakuieren. Doch damit würde nichts gewonnen sein — außer daß man vielleicht den guten Willen und die Nerven der Hermianer auf die Probe stellte. Und warum hatten sie sich so wenige Tage vor dem Perihelion zu handeln entschlossen? Norton fragte sich, ob der ständig zunehmende Druck der öffentlichen Meinung mittlerweile so stark geworden sein konnte, daß die Verantwortlichen auf dem Merkur sich entschließen mußten, den (weitaus größeren) Rest der menschlichen Rasse mit einem Fait accompli zu konfrontieren. Diese Erklärung schien nicht so recht plausibel, denn eine derartige sensible Bereitschaft des Eingehens auf Massenbedürfnisse war durchaus untypisch für die Merkur-Bürokratie. Norton hatte nicht die kleinste Möglichkeit, Rodrigo zurückzurufen, denn er und sein Skooter lagen jetzt im Funkschatten Ramas und damit außer Kontakt, bis sie wieder auf Sichtlinie waren. Und das würde erst der Fall sein, wenn die Mission Rodrigos erfolgreich beendet — oder fehlgeschlagen war. Norton blieb nichts weiter übrig, als abzuwarten. Er hatte immer noch reichlich Zeit: ganze fünfzig Minuten. Inzwischen war er sich über die wirkungsvollste Antwort an den Merkur klargeworden: Er würde die Nachricht völlig ignorieren und abwarten, welche Schritte die Hermianer als nächstes unternehmen würden. Als die Bombe sich zu bewegen begann, war Rodrigos erstes Gefühl nicht Furcht im körperlichen Sinn gewesen; es war etwas viel Verheerenderes. Er glaubte felsenfest daran, daß das Universum strengen Gesetzen unterliege, die nicht einmal GOTT selbst durchbrechen konnte — ganz zu schweigen von den Hermianern. Keine Nachricht konnte schneller als das Licht reisen; und er, Boris Rodrigo, hatte einen fünfminütigen Vorsprung gegenüber allem, was die Hermianer möglicherweise unternehmen konnten. Das, was jetzt hier geschah, mußte ein Zufall sein — ein gespenstischer, vielleicht sogar ein tödlicher Zufall, aber nicht mehr. Irgendwie mußte zufällig ein Kontrollsignal an die Rakete abgegangen sein, während er die Endeavour verlassen hatte, und während er fünfzig Kilometer weit vorangekommen war, hatte die Nachricht achtzig Millionen Kilometer Raum überwunden. Aber vielleicht handelte es sich ja auch nur um eine automatische Richtungsänderung, um einem Überhitzungsprozeß irgendwo in der Trägerrakete entgegenzuwirken. Es gab nämlich Stellen, an denen die Oberflächentemperatur nahezu fünfzehnhundert Grad betrug, und Rodrigo hatte sich die größte Mühe gegeben, sich so weit als möglich im Schatten zu halten. Eine zweite Turbine stieß einen Feuerstrahl aus und korrigierte die Drehung der ersten. Nein — dies war nicht bloß thermale Berichtigung. Die Bombe justierte sich und wies nun direkt auf Rama zu… Es war zwecklos zu fragen, warum. Besonders in diesem Augenblick war dies zwecklos. Aber es gab etwas, das zu seinen Gunsten sprach: das Geschoß war ein Mechanismus mit langsamer Beschleunigung. Ein Zehntel G war das Äußerste, was es erreichen konnte. Er konnte also weitermachen. Er überprüfte die Halterungen seines Skooters an dem Halterungsgerüst der Bombe und überprüfte zum drittenmal die Sicherheitsleine, die seinen Raumanzug mit dem Skooter verband. Langsam stieg in ihm kalter Zorn auf, und er bestärkte ihn eigentlich nur in seiner Entschlossenheit. Sollte dieses Manöver etwa bedeuten, daß die Hermianer die Bombe ohne vorherige Warnung zünden würden? Daß sie der Endeavour keine Chance geben würden zu entkommen? Dies schien einfach unglaublich. Es wäre nicht nur ein Akt erstaunlicher Brutalität, sondern eine Wahnsinnstat, die den Rest der Bevölkerung des Sonnensystems gegen die Hermianer einnehmen würde. Und wieso hatten sie es für nötig befunden, die Garantien ihres eigenen Gesandten nicht einzuhalten? Wie immer auch die Pläne der Hermianer aussehen mochten, sie würden nicht verwirklicht werden. Die zweite Nachricht vom Merkur stimmte mit der ersten haargenau überein. Sie traf zehn Minuten nach dieser ein. Also hatten sie den Termin verlängert — und Norton hatte noch immer eine Stunde Zeit. Außerdem hatten sie offensichtlich abgewartet, bis eine Antwort von der Endeavour sie erreichen konnte, ehe sie ihre Warnung wiederholten. Allerdings kam nun ein weiterer Faktor ins Spiel: inzwischen mußten sie Leutnant Rodrigo gesehen haben und hatten ein paar Minuten Zeit gehabt, ihre Entscheidungen zu treffen. Inzwischen konnten die Befehle vom Merkur bereits auf dem Weg sein — sie konnten in jeder Sekunde eintreffen. Norton hatte das Gefühl, er sollte sich besser bereitmachen, jeden Augenblick abzusetzen, denn der Rumpf Ramas, der den Himmel füllte, konnte sekundenschnell zu glühen beginnen: in einer vergänglichen Pracht, die die Sonne bei weitem überstrahlen würde. Als der Hauptschub ansetzte, war Rodrigo bereits sicher verankert. Kaum zwanzig Sekunden später erstarb der Jetstrahl wieder. Rodrigo rechnete im Geiste rasch durch: Delta-V konnte nicht höher als fünfzehn Stundenkilometer gewesen sein. Die Bombe würde über eine Stunde brauchen, um Rama zu erreichen. Vielleicht wurde sie ja auch nur genauer ausgerichtet, um ein rascheres Ergebnis zu garantieren. Wenn dies zutraf, dann war das eine kluge Vorsichtsmaßnahme. Allerdings hatten sich die Hermianer dafür zuviel Zeit gelassen. Rodrigo warf wieder einen Blick auf seine Uhr, obwohl er mittlerweile ein präzises Zeitgefühl entwickelt hatte und sich eigentlich gar nicht mehr auf seiner Uhr vergewissern mußte. Auf dem Merkur würden sie jetzt sehen, wie er zielstrebig auf ihre Bombe zusteuerte. Jetzt war er weniger als zwei Kilometer von ihr entfernt, und es gab für die Hermianer sicher nicht den geringsten Zweifel, was Leutnant Rodrigo beabsichtigte. Und wahrscheinlich fragten sie sich beunruhigt, ob er seine Aufgabe bereits durchgeführt hatte. Rodrigo hatte mit dem zweiten Kabelstrang so wenig Schwierigkeiten wie mit dem ersten. Wie alle guten Handwerker hatte auch er seine Werkzeuge gut ausgewählt. Die Bombe war jetzt entschärft. Oder — um präzise zu sein — sie konnte nicht mehr durch Fernsteuerung gezündet werden… Allerdings gab es noch eine andere Möglichkeit, und Boris Rodrigo durfte sich nicht erlauben, sie zu übersehen. Es gab jetzt zwar keine äußeren Kontaktzündungen mehr, doch es konnte eingebaute geben, die durch Aufprall aktiviert werden würden. Die Hermianer waren noch immer in der Lage, die Flugbahn ihrer Trägerrakete zu bestimmen, und sie konnten sie zu einem Zusammenstoß mit Rama manövrieren, wann immer sie wollten. Rodrigos Aufgabe war noch immer nicht völlig beendet. In fünf Minuten würde man ihn in einer Kontrollkabine irgendwo auf dem Merkur auf den Bildschirmen sehen, wie er an der Außenseite ihrer Rakete entlangkroch, die schlichte Drahtschere in der Hand, die die gewaltigste Waffe, die die Menschheit jemals zum Einsatz bringen wollte, wirkungslos gemacht hatte. Fast fühlte Boris sich versucht, der oder den Kameras zuzuwinken, doch es schien ihm dann doch ein wenig würdelos: immerhin war er gerade dabei, Geschichte zu machen, und Millionen von Menschen würden künftig diese Szene im Fernsehen verfolgen. Das hieß, sofern es die Hermianer nicht vorzogen, in einem Anfall von Pikiertheit die Bänder zu vernichten. Und er könnte es ihnen nicht einmal verdenken. Er war jetzt an der Verankerung der Interspace- Antenne angekommen und hantelte sich Meter für Meter bis zu ihrem Ende, der großen Rundstrahlantenne, vor. Seine zuverlässige Drahtschere wurde auch mit dem multiplen Infosystem leicht fertig und kappte die Kabel ebenso leicht wie die Laser-Ortungsmechanismen. Als er den letzten Draht durchgeschnitten hatte, begann die Antenne langsam zu kreisen. Diese überraschende Bewegung verwirrte ihn einen Moment, doch dann wurde ihm klar, daß er die automatische Fixierung auf den Merkur unterbrochen haben mußte. Fünf Minuten später würden die Hermianer jeden Kontakt mit ihrem Sklaven verloren haben. Denn dieser Sklave war jetzt nicht nur aktionsunfähig, er war auch blind und taub geworden. Rodrigo kletterte langsam wieder in seinen Skooter zurück. Er löste die Verankerung und wendete das Fahrzeug, bis die Vorderstoßstangen gegen die Rakete gepreßt waren, und zwar so dicht an ihrem Masseschwerpunkt wie möglich. Dann zog er den Schub auf volle Kraft, soviel die Zellen nur hergaben, und hielt ihn dort etwa zwanzig Sekunden lang. Da der Skooter es mit einer Masse zu tun hatte, die die seinige um ein Mehrfaches überstieg, reagierte er sehr langsam. Als Rodrigo den Antrieb auf Null drosselte, nahm er zugleich eine sorgfältige Analyse des Geschwindigkeitsvektors der Bombe vor. Jetzt würde das Geschoß weit an Rama vorbeizielen. — Außerdem könnte man es künftig nach Belieben wieder orten. Schließlich handelte es sich um ein äußerst wertvolles Stück Ausrüstung. Und Leutnant Rodrigo war ein Mann von nahezu pathologischer Ehrlichkeit. Er wollte den Hermianern keinesfalls die Chance bieten, ihn der Veruntreuung ihres Eigentums zu beschuldigen. 41. KAPITEL DER HELD „Liebling“, begann Norton, „dieser Quatsch hat uns über einen Tag gekostet, aber wenigstens bekomme ich so die Gelegenheit, mit dir zu reden. Ich bin noch immer im Schiff, und wir gehen jetzt zurück zur Polarachse. Wir haben Rod vor einer Stunde aufgenommen. Er sah aus, als hätte er gerade eine ruhige Wache hinter sich gebracht und gehe jetzt in Freiwache. Ich vermute, keiner von uns beiden wird je wieder den Merkur besuchen können, und ich frage mich, ob man uns als Helden oder als Schurken behandeln wird, wenn wir auf die Erde zurückkommen. Aber mein Gewissen ist rein; ich bin sicher, wir haben das Richtige getan. Ich bin neugierig, ob die Ramaner jemals ›danke schön‹ sagen werden. Wir können nur noch zwei Tage länger hierbleiben; im Gegensatz zu Rama verfügen wir nicht über eine kilometerdicke Haut, um uns vor der Sonne zu schützen. Der Schiffsrumpf entwickelt bereits gefährliche Überhitzungsstellen, und wir mußten an manchen Stellen bereits Abschirmungen anbringen. Tut mir leid, ich wollte dir nicht mit meinen Problemen auf die Nerven gehen… Wir haben also gerade noch Zeit für einen Trip nach Rama, und ich beabsichtige herauszuholen, was nur geht. Aber hab keine Angst — ich werde kein Risiko eingehen.“ Er stoppte die Aufzeichnung. Der letzte Satz verschleierte, um es gelinde zu sagen, die Wahrheit. Denn jeder Augenblick innerhalb Ramas war voller Gefahren und Ungewißheiten; kein Mensch konnte sich dort jemals wirklich zu Hause fühlen angesichts dieser Kräfte, die das Begriffsvermögen überstiegen. Und Norton beabsichtigte auf diesem letzten Trip, jetzt, da er wußte, daß sie danach nie wieder zurückkehren würden und daß also keine künftigen Aktionen aufs Spiel gesetzt werden könnten, sein Glück ein bißchen stärker auf die Probe zu stellen. „In achtundvierzig Stunden werden wir also diese Mission zu Ende gebracht haben. Was dann geschieht, ist noch nicht sicher; wie du ja weißt, haben wir praktisch unseren gesamten Treibstoffvorrat aufgebraucht, um auf diese Bahn zu gelangen. Ich warte immer noch darauf, daß man mir erklärt, ob und wo ein Tankschiff zu uns stoßen kann, und zwar rechtzeitig, so daß wir zur Erde zurückkehren können, oder ob wir beim Mars eine Schwerkraftlandung machen müssen. Auf jeden Fall dürfte ich gegen Weihnachten wieder zu Hause sein. Sag dem Junior, es tut mir leid, daß ich ihm keinen Baby-Bioten mitbringen kann; so was gibt es nämlich nicht… Es geht uns allen gut, aber wir sind ziemlich ausgepumpt. Ich habe mir einen langen Urlaub verdient, nach alledem, und wir werden die verlorene Zeit wettmachen. Was immer sie auch über mich sagen mögen, du kannst mit Recht behaupten, mit einem Helden verheiratet zu sein. Wie viele Frauen haben schon einen Mann, der eine Welt gerettet hat?“ Wie gewohnt hörte er das Band sorgfältig ab, ehe er es kopierte, um sicherzugehen, daß es für seine beiden Familien paßte. Es war ein merkwürdiges Gefühl, nicht zu wissen, welche von beiden er zuerst wiedersehen würde; im Normalfall stand sein Terminplan mindestens ein Jahr im voraus fest, da er durch die unerbittlichen Bewegungen der Planeten bestimmt wurde. Doch dies hatte für die Zeit vor Rama gegolten. Nun würde nichts mehr so sein wie früher. 42. KAPITEL DER GLÄSERNE TEMPEL „Wenn wir es versuchen“, sagte Karl Mercer, „glauben Sie, die Bioten werden uns daran hindern wollen?“ „Vielleicht. Das gehört zu den Dingen, die ich herausfinden möchte. Warum sehen Sie mich so komisch an?“ Mercer setzte sein träges verstecktes Grinsen auf, das gewöhnlich sekundenschnell von irgendeinem privaten Witz ausgelöst werden konnte, den er mit seinen Schiffskameraden teilte oder auch nicht. „Es ist mir nur so durch den Kopf gegangen, Skipper, ob Sie vielleicht glauben, daß Rama Ihnen gehört. Bisher haben Sie jeden Versuch, in die Gebäude einzudringen, strikt verboten. Wieso dieser Gesinnungswandel? Haben die Hermianer Ihnen einen Floh ins Ohr gesetzt?“ Norton lachte, brach aber gleich wieder ab. Es war eine gescheite Frage, und er war nicht sicher, ob die naheliegenden Antworten auch die richtigen waren. „Vielleicht war ich bloß zu vorsichtig — ich wollte Ärger vermeiden. Aber jetzt haben wir die letzte Chance. Wenn wir zum Rückzug gezwungen werden sollten, haben wir nicht allzu viel verpaßt.“ „Vorausgesetzt, wir ziehen uns geordnet zurück.“ „Selbstverständlich. Aber die Bioten haben sich bisher nie feindselig gezeigt; und außer den Spinnen gibt es da meiner Ansicht nach nichts, was uns einholen oder fangen könnte — falls wir abhauen müssen.“ „Sie können ja rasch abhauen, Skipper, ich jedenfalls beabsichtige, mich mit Würde zu verabschieden. Übrigens, ich glaube, ich weiß, warum die Bioten uns so höflich behandeln.“ „Neue Theorien kommen ein bißchen spät, nicht wahr?“ „Trotzdem, hier haben Sie sie: sie glauben, wir seien Ramaner. Sie können keinen Unterschied machen zwischen einem Sauerstoffatmer und einem anderen.“ „Ich glaube nicht, daß sie so dumm sind.“ „Es hat nichts mit Dummheit zu tun. Sie sind für ihre speziellen Aufgaben programmiert worden, und wir tauchen in ihrem Bezugssystem eben überhaupt nicht auf.“ „Vielleicht haben Sie recht. Und vielleicht werden wir das ja feststellen können — sobald wir mit der Arbeit in London beginnen.“ Joe Calvert hatte die alten Filme mit Bankeinbrüchen immer gern gesehen, doch er hatte nie damit gerechnet, selbst einmal an einem Einbruch beteiligt zu sein. Doch im Prinzip tat er jetzt genau das. Die verlassenen Straßen ›Londons‹ schienen voller Gefahr, auch wenn er wußte, daß nur sein schulderfülltes Gewissen ihm diesen Eindruck aufzwang. Er glaubte nicht wirklich, daß die versiegelten, fensterlosen Gebäude rings um ihn voller wachsamer Bewohner steckten, die nur darauf lauerten, in Horden hervorzubrechen, sobald die Eindringlinge sich an ihrem Besitz vergreifen würden. Tatsächlich war er eigentlich ziemlich sicher, daß dieser ganze Gebäudekomplex — wie die übrigen Städte auch — einfach nur eine Art Vorratslager war. Eine zweite Befürchtung, die sich gleichermaßen auf zahllose antike Krimifilme stützte, war dagegen besser begründet. Es mochte ja keine schrillen Alarmglocken und keine kreischenden Sirenen geben, aber es war nur logisch anzunehmen, daß Rama über irgendein Warnsystem verfügte. Wie konnten sonst die Bioten wissen, wann und an welcher Stelle ihre Dienste erforderlich waren? „Wer keine Schutzbrille aufhat, umdrehen“, befahl Sergeant Myron. Er roch plötzlich nach Stickstoffoxyd, als die Luft im Strahl der Laser zu verbrennen begann. Ein gleichmäßiges Zischen ertönte, als das glühende Messer sich zu Geheimnissen hindurchschnitt, die seit der Geburt des Menschen im verborgenen geruht hatten. Keine Materie konnte dieser konzentrierten Gewalt widerstehen, und so schnitten sie sich ohne Schwierigkeiten mehrere Meter pro Minute weiter vorwärts. In bemerkenswert kurzer Zeit hatten sie einen Block herausgeschnitten, groß genug, einen Menschen durchzulassen. Als der herausgeschnittene Block nicht von selbst Platz machte, klopfte Myron sacht dagegen — dann fester —, dann hämmerte er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften dagegen. Schließlich fiel der Block mit einem hohlklingenden widerhallenden Krach nach innen. Wieder mußte Norton an jenen Archäologen denken, der dieses alte ägyptische Grabmal aufgebrochen hatte. Es war wie beim allererstenmal, als er Rama betreten hatte. Er rechnete nicht damit, schimmerndes Gold zu finden; tatsächlich hatte er überhaupt keine vorgefaßte Meinung, als er durch die Öffnung kletterte. Seine Stablampe hielt er in der ausgestreckten Hand vor sich. Ein griechischer Tempel aus Glas — das war sein erster Eindruck. Das Gebäude war angefüllt von zahlreichen Reihen vertikaler kristallener Säulen. Sie waren etwa einen Meter dick und reichten vom Boden bis zur Decke. Hunderte davon standen da, verloren sich in der Dunkelheit jenseits des Lichtkegels seiner Lampe. Norton ging auf die erste Säule zu und richtete seine Lampe auf ihr Inneres. Wie durch eine zylindrische Linse gebrochen fächerte das Licht auf der anderen Seite aus, wurde erneut gesammelt, gebrochen, fächerte aus und wurde in der Reihe von Säulen dahinter schwächer und schwächer. Er hatte das Gefühl, sich mitten in einer komplizierten optischen Demonstration zu befinden. „Sehr hübsch“, bemerkte der Mercer, „aber was für einen Zweck hat es? Wer braucht einen Wald von gläsernen Säulen?“ Norton klopfte sacht gegen eine Säule. Es klang fest, wenn auch mehr metallisch als gläsern. Er war völlig verwirrt und befolgte deshalb einen sehr nützlichen Rat, den er vor langer Zeit gehört hatte: „Im Zweifelsfall halt den Mund und mach weiter.“ „Ich hätte schwören mögen, daß diese Säule leer ist — und jetzt ist plötzlich jemand drin.“ Norton warf einen raschen Blick zurück. „Wo?“ fragte er. „Ich kann nichts sehen.“ Er folgte Mercers deutendem Finger. Er wies auf nichts. Die Säule war noch immer völlig transparent. „Können Sie’s nicht sehen?“ fragte Mercer ungläubig. „Kommen Sie hier rüber. Verflixt — jetzt ist es weg!“ „Was ist denn hier los?“ fragte Calvert. Es dauerte mehrere Minuten, bis er auch nur andeutungsweise eine Antwort erhielt. Die Säulen waren nicht aus jedem Blickwinkel und auch nicht unter jedem Lichteinfall transparent. Wenn man um sie herumging, wurden plötzlich Objekte sichtbar, die offenbar in ihrem Inneren eingebettet lagen wie Fliegen in Bernstein und die dann ebenso plötzlich wieder verschwanden. Es gab Dutzende davon, und alle waren verschieden. Sie sahen vollkommen wirklich und fest aus, und doch schienen manche auf gleichem Raum zu sein. „Hologramme“, sagte Calvert. „Wie in einem Museum auf der Erde.“ Ja, das war offensichtlich die Erklärung. Und aus eben diesem Grund kam sie Norton verdächtig vor. Seine Zweifel wuchsen, als er die anderen Säulen untersuchte und die Bildnisse heraufbeschwor, die sie enthielten. Werkzeuge (allerdings für riesige und seltsam geformte Hände bestimmt), Behältnisse, kleine Maschinen mit Schalttafeln, die für mehr als fünf Finger gemacht zu sein schienen, wissenschaftliche Instrumente, verblüffend konventionelle Haushaltsgeräte, darunter Messer und Teller, die, abgesehen von ihrer Größe, auf der Erde keinen zweiten Blick auf sich gezogen hätten — alles war da, und dazu noch Hunderte weniger leicht zu identifizierender Gegenstände, die oftmals alle zusammen in ein und derselben Säule zusammengedrängt waren. Ein Museum muß doch sicherlich irgendwie logisch angeordnet sein, mußte irgendeine Trennung nach Sachgebieten und zueinander gehörigen Themen aufweisen. Doch dies hier schien eine völlig zufällige Ansammlung von Eisenkurzwaren zu sein. Sie hatten die schwer fixierbaren Bilder in einer großen Zahl von Säulen fotografiert, als Norton plötzlich einfach aufgrund der Vielfältigkeit der Gegenstände eine Idee hatte, worum es sich handeln könnte. Vielleicht war dies ja gar keine Sammlung, sondern ein Katalog, der nach einem willkürlichen, aber vollkommen logischen System zusammengestellt war. Er dachte an die verrückten Zusammenstellungen, die jedes Wörterbuch oder jede alphabetische Liste darstellt, und er probierte diese Vorstellung an seinen Gefährten aus. „Ja, ich verstehe, was Sie meinen“, sagte Mercer. „Andersrum würden die Ramaner wahrscheinlich ebenso erstaunt sein, wenn sie feststellen müßten, daß wir — äh, Kamera neben Kameradschaftsehe oder Teller neben Teakholz stellen.“ „Oder Buch neben Bucharateppich“, ergänzte Calvert, nachdem er mehrere Sekunden lang tief nachgedacht hatte. Dieses Spielchen könnte man stundenlang fortsetzen, entschied er, und mit wachsender Irrtumsmarge. „Genau das ist es“, antwortete Norton. „Vielleicht ist das ja ein alphabetischer Katalog von 3-D-Bildern — Schablonen — körperliche Blaupausen, falls man es so nennen will.“ „Zu welchem Zweck?“ „Nun, Sie wissen über die Biotentheorie Bescheid… die Vorstellung, daß diese Bioten nicht existieren, bis sie benötigt werden, und daß sie erst dann erschaffen werden — daß sie synthetisiert werden — nach Mustern, die irgendwo aufbewahrt sind?“ „Ich verstehe“, sagte Mercer langsam und nachdenklich. „Wenn also ein Ramaner einen linkshändigen Knüppel braucht, dann drückt er die entsprechende Kodenummer, und von den Schablonen hier drin wird eine Kopie angefertigt.“ „Ja, etwa in der Art. Aber fragt mich bitte nicht nach den praktischen Einzelheiten.“ Die Säulenreihen, durch die sie vorgedrungen waren, hatten an Größe ständig zugenommen. Jetzt waren sie fast zwei Meter dick. Und auch die eingeschlossenen Bildwerke waren gewachsen. Es war klar, daß die Ramaner aus zweifellos exzellenten Gründen sich auf Lebensgröße in der Reproduktion festgelegt hatten. Norton fragte sich, wie sie etwas wirklich Großes aufbewahrten, wenn das überhaupt der Fall sein sollte. Um ein möglichst großes Terrain zu erfassen, hatten sich die vier Kundschafter nun getrennt und wanderten einzeln durch den kristallenen Säulenwald, wo sie versuchten, so viele Fotos von den flüchtigen Erscheinungen zu machen, wie es bei der Einstellungsgeschwindigkeit ihrer Kameras nur möglich war. Es war wirklich ein erstaunlich glücklicher Zufall, dachte Norton. Allerdings hatte er auch das Gefühl, es verdient zu haben, daß er jetzt Glück hatte. Zweifellos hätten sie bei ihrer letzten Exkursion gar nichts Besseres auswählen können als diesen „illustrierten Katalog Ramanischer Artefakte “. Und doch, von einem anderen Standpunkt aus betrachtet, konnte es auch wieder nichts Enttäuschenderes geben. Denn hier war ja wirklich nichts außer ungreifbaren Mustern von Licht und Nichtlicht; alle diese scheinbar festen Gegenstände hatten keine Wirklichkeit. Selbst in der Erkenntnis dieser Tatsache fühlte sich Norton mehr als einmal versucht, eine der Säulen mit seinem Laser zu öffnen, um etwas Stoffliches, Materielles, Handfestes mit zur Erde zurückzubringen. Es war genau der gleiche Trieb, sagte er sich mit einem schiefen Grinsen, der einen Affen dazu veranlassen würde, nach dem Spiegelbild einer Banane in einem Spiegel zu grapschen. Er fotografierte gerade irgend etwas, das wie ein optischer Apparat aussah, als Calverts Schrei ihn erreichte. Er rannte sofort durch die Säulenreihen auf ihn zu. „Skipper — Karl — Will — schaut euch das an!“ Joe Calvert neigte bekanntlich zu plötzlichen Begeisterungsausbrüchen, doch was er jetzt entdeckt hatte, rechtfertigte zweifellos jede Form der Aufgeregtheit. Im Inneren einer der zwei Meter dicken Säulen befand sich ein Harnisch oder eine Uniform, ganz offensichtlich für ein aufrecht gehendes Geschöpf von übermenschlicher Größe gedacht. Ein sehr enges Metallband oder ein Metallgürtel umgab anscheinend die Taille oder den Thorax in der Mitte — oder wie immer man eine der irdischen Zoologie unbekannte Körperaufteilung sonst bezeichnen mochte. Davon gingen drei schlanke sich nach außen verjüngende Schläuche aus, die in einem vollkommen kreisförmigen Gürtel zusammenstießen, es waren, beachtlicherweise, zirka hundert Zentimeter Durchmesser in diesem Kreis. Die Öffnungen, die sich in gleichem Abstand auf diesem Gürtel fanden, konnten eigentlich nur für Gliedmaßen des Oberkörpers gedacht sein. Vielleicht für Arme. Jedenfalls waren es drei Öffnungen… Es gab zahllose Beutel, Schnallen, Bänder, von denen Werkzeuge (oder Waffen!) hervorragten, Röhren und Elektroleiter, sogar kleine Schachteln, schwarze Kästchen, die in einem Elektroniklabor auf der Erde völlig am Platze gewesen wären. Die ganze Anordnung wirkte fast so kompliziert wie die eines Raumanzugs, obwohl sie dem Geschöpf, das sie trug, offensichtlich nur begrenzten Schutz bieten konnte. Und war dieses Geschöpf wirklich ein oder der Ramaner? Norton hatte da echte Zweifel. Wahrscheinlich werden wir das niemals genau wissen, sagte er sich. Aber ›es‹ muß über Intelligenz verfügt haben, denn kein Tier hätte mit einer dermaßen hochentwickelten Maschinerie umzugehen verstanden. „Etwa zweieinhalb Meter hoch“, bemerkte Mercer nachdenklich, „den Kopf nicht mitgerechnet. Weiß der und jener, wie der ausgesehen hat!“ „Ja, und mit drei Armen, und wahrscheinlich drei Beinen. Der gleiche Konstruktionsplan wie bei den Spinnen — nur auf einer viel massiveren Stufe. Glauben Sie wirklich, es handelt sich um einen Zufall?“ „Nein. Wahrscheinlich ist es kein Zufall. Wir bauen unsere Roboter ja auch nach unserem Bild. Man kann also annehmen, daß die Ramaner genau das gleiche tun.“ Joe Calvert blickte mit einer für ihn völlig außergewöhnlichen Scheu auf das vor ihm liegende Schauspiel. „Glauben Sie, die wissen, daß wir hier sind?“ fragte er halb flüsternd. „Das bezweifle ich“, antwortete Mercer. „Wir sind noch nicht einmal bis zu ihrer Bewußtseinsschwelle vorgedrungen, wenn auch die Hermianer sich recht große Mühe gegeben haben.“ Sie standen noch immer so da und waren nicht in der Lage, sich von dem Anblick zu lösen, als Pieter von der Nabenkontrolle sich meldete. Seine Stimme klang dringlich und sehr besorgt. „Skipper — Sie kommen jetzt besser raus!“ „Was ist los? Kommen Bioten hierher?“ „Nein — es ist viel ernster. Die Lichter werden schwächer.“ 43. KAPITEL DER RÜCKZUG Als er in großer Hast durch das Loch nach außen kroch, das sie mit ihren Laserstrahlen geschnitten hatten, schien es Norton, daß die sechs Sonnen Ramas so brillant leuchteten wie immer. Pieter hatte sicher einen Bewertungsfehler gemacht — ziemlich ungewöhnlich bei ihm… Doch Pieter hatte eben diese Reaktion vorhergesehen. „Es ist so langsam passiert“, erklärte er entschuldigend, „daß es eine ganze Weile dauerte, bevor ich einen Unterschied merkte. Aber es kann keinen Zweifel daran geben — ich habe es auf dem Fotometer verfolgt. Die Lichtstärke ist um vierzig Prozent gesunken.“ Jetzt, während seine Augen sich nach der Düsternis des Glastempels wieder an das Licht Ramas gewöhnten, konnte Norton dieser Behauptung Glauben schenken. Der lange Rama- Tag neigte sich seinem Ende zu. Es war noch immer so warm wie zuvor, und dennoch bemerkte Norton, daß er fröstelte. Er hatte die gleiche Erfahrung bereits einmal gemacht. Es war ein herrlicher Sommertag auf der Erde gewesen. Plötzlich war das Licht unerklärlicherweise schwächer geworden, als fiele Düsternis aus dem Himmel herunter oder als habe die Sonne ihre Kraft verloren. Es stand aber kein Wölkchen am Himmel. Dann fiel es ihm wieder ein: eine partielle Sonnenfinsternis hatte sich damals ausgebreitet. „Das ist es“, sagte er grimmig. „Wir kehren um. Laßt die ganze Ausrüstung zurück. — Wir werden sie nicht mehr benötigen.“ Jetzt, so hoffte er, würde sich seine Vorausplanung auf diesem Sektor bewähren. Er hatte London für diesen Plünderungsausflug ausgewählt, weil keine andere Stadt dem Treppensystem Beta so nahe lag. Der Fuß der Treppe war nur vier Kilometer weit entfernt. Sie machten sich mit gleichmäßigen langen Schritten auf den Weg. Diese Fortbewegungsart hatte sich bei einem halben G als die bequemste bewährt. Norton schlug ein Tempo ein, das sie seiner Schätzung nach ohne Erschöpfung an den Rand der Ebene führen würde, und zwar ohne allzu große Zeitverschwendung. Norton war sich nur zu deutlich der acht Kilometer bewußt, die sie noch hinaufsteigen mußten, sobald sie den Fuß der Beta-Treppe erreicht hatten. Doch würde er sich sehr viel sicherer fühlen, sobald sie wirklich mit dem Aufstieg begonnen hätten. Eine erste Erschütterung trat ein, als sie beinahe am Fuß der Treppe waren. Es war nur eine leichte Störung. Norton wandte sich instinktiv um und erwartete bei den Berghörnern am Südpol ein weiteres Feuerwerk zu sehen. Aber Rama wiederholte sich anscheinend nie in genau der gleichen Weise. Wenn von diesen nadeldünnen Gipfeln elektrische Entladungen ausgingen, dann waren sie zu schwach, als daß man sie hätte sehen können. „Brücke“, rief er, „habt ihr das gesehen?“ „Ja, Skipper. — War ein ganz kleiner Schock. Vielleicht eine weitere Positionsänderung. Wir beobachten den Gradgyro. — Bisher noch kein Ergebnis. Moment mal! Positives Ergebnis! Wir können es gerade noch messen: weniger als ein Mikroradial pro Sekunde, aber beständig.“ Also begann Rama sich umzuorientieren. Allerdings mit nahezu unmerklicher Langsamkeit. Diese vorhergehenden Erschütterungen konnten sehr wohl falscher Alarm gewesen sein — aber dies hier und jetzt, dies war echt. „Frequenz erhöht sich — fünf Mikrorad. He, habt ihr diesen Stoß mitgekriegt?“ „Na sicher haben wir. Versetzen Sie alle Systeme an Bord in Operationsbereitschaft. Es kann sein, daß wir abrupt abziehen müssen.“ „Rechnen Sie denn jetzt bereits mit einer Änderung der Flugbahn? Wir sind noch ziemlich weit vom Perihelion entfernt.“ „Ich glaube nicht, daß Rama sich an unsere Schulbücher halten wird. Sind fast bei Beta angekommen. Machen dort fünf Minuten Pause.“ Fünf Minuten waren natürlich bei weitem nicht ausreichend. Trotzdem dehnten sie sich, als wären sie ein Jahrhundert. Es konnte jetzt nämlich wirklich keinen Zweifel mehr geben: das Licht wurde schwächer, und zwar sehr rasch. Obwohl sie alle ihre Stablampen bei sich hatten, war die Vorstellung von Finsternis in dieser Innenwelt unerträglich. Sie alle hatten sich psychologisch vollkommen an den endlosen Rama-Tag gewöhnt, und es fiel ihnen direkt schwer, sich an die Umstände bei ihren ersten Erkundungen in dieser Welt zu erinnern. Sie verspürten alle den unwiderstehlichen Drang zu fliehen, zu entkommen — sich in dieses Sonnenlicht zu retten, das da auf der anderen Seite der zylindrischen Wände, einen Kilometer weit von ihnen entfernt, leuchtete. „Nabenkontrolle!“ rief Norton. „Funktioniert der Suchscheinwerfer? Wir werden ihn vielleicht bald ganz rasch brauchen.“ „Sicher, Skipper, hier kommt er.“ Ein Lichtfunke, der sie mit Sicherheit erfüllte, erschien acht Kilometer über den Köpfen der Männer. Aber das Licht wirkte erstaunlich schwächlich. Doch es hatte ihnen zuvor nützliche Dienste geleistet, und es würde sie auch jetzt leiten, falls dies nötig sein sollte. Das würde der längste und nervenzerrüttendste Aufstieg werden, den seine Besatzung je unternommen hatte, dachte Norton grimmig. Was auch geschehen mochte, man durfte nichts übereilen. Wenn sie sich zu sehr erschöpften, dann würden sie einfach irgendwo an diesem steilen Abhang zusammenbrechen und warten müssen, bis ihre Muskeln, die den Dienst versagten, wieder einsatzbereit sein würden. Inzwischen waren sie wohl ohnehin eine der meisttrainierten Mannschaften, die je eine Mission im Weltraum ausgeführt hatten. Aber schließlich waren den Möglichkeiten von Fleisch und Blut Grenzen gesetzt. Nach einstündigem unablässigen Vorwärtsstolpern hatten sie die vierte Abteilung des Treppensystems erreicht. Sie waren jetzt etwa drei Kilometer über der Nordebene. Von jetzt an würde es sehr viel leichter gehen: die Schwerkraft war bis auf nahezu ein Drittel der Erdschwerkraft gesunken. Und wenn auch ab und zu kleinere Beben sich bemerkbar gemacht hatten, so waren doch keine weiteren außergewöhnlichen Erscheinungen aufgetreten, und es gab noch immer genügend Licht. Sie begannen sich besser zu fühlen, brachten mehr Optimismus auf, ja sie fragten sich sogar, ob sie nicht vielleicht zu früh fortgegangen seien. Immerhin, eines stand fest: sie würden nicht zurückkehren. Sie alle hatten zum letztenmal den Fuß auf den Boden Ramas gesetzt. Es war während ihrer zehnminütigen Pause auf der vierten Plattform, daß Joe Calvert plötzlich ausrief: „Was hat dieser Lärm zu bedeuten, Skipper?“ „Lärm? — Ich kann nichts hören.“ „Ein Hochfrequenzpfeifen — die Frequenz sinkt. Sie müssen es doch hören!“ „Ihre Ohren sind jünger als meine… Ach ja, jetzt höre ich es.“ Das Pfeifen schien aus allen Richtungen zu kommen. Bald war es zu großer Lautstärke angeschwollen, war fast durchdringend, verlor aber bald an Höhe. Dann brach es plötzlich völlig ab. Ein paar Sekunden später kam es erneut und wiederholte die gleiche Sequenz; das Signal enthielt alles, was man an melancholisch jaulenden Sturmsirenen von einem Leuchtturm auf der Erde gewohnt war, die ihre Warnungen in eine nebelverhangene Nacht hinaussenden. Es war eine Botschaft, und sie mußte dringend sein. Sie war nicht für ihre menschlichen Ohren bestimmt, aber sie konnten sie verstehen. Und dann — wie um doppelt sicherzugehen — wurde die Warnung durch die Sonnen im Rama noch einmal visualisiert. Sie verdunkelten sich, verloschen nahezu völlig. Dann begannen sie zu pulsieren. Hell leuchtende Kugeln rasten wie Kugelblitze die sechs schmalen Täler entlang, die einst die Sonnen dieser Welt gewesen waren. Die Kugelblitze wanderten von beiden Polen weg auf die See zu. Sie pulsierten in einem synchroniserten Rhythmus, der nur eines bedeuten konnte: „Zur See!“ Und die Aufforderung war so stark, daß man sich ihr nur schwer entziehen konnte. Keiner der Männer entging dem Zwang, sich umzuwenden und Vergessen in den Wassern Ramas zu suchen. „Nabenkontrolle!“ rief Norton dringlich. „Können Sie verfolgen, was los ist?“ Pieters Stimme kam zu ihm zurück. Sie klang ehrfürchtig und mehr als nur etwas angstvoll. „Ja, Skipper. Ich habe gerade den Südkontinent in der Linse. Dort drüben wuseln immer noch zig Bioten herum. Ein paar davon sind ziemlich groß. Kräne, Bulldozer — Mengen von Mülltypen. Und sie alle rasen auf die Zylindrische See zu, mit einer Geschwindigkeit, wie ich sie bei ihnen bisher noch nicht erlebt habe. Da verschwindet ein Kran — schwupps, über die Böschung! Genau wie Jimmy, bloß ein bißchen schneller, na, ziemlich viel schneller! … Er ist in Trümmer zersplittert, als er aufprallte… Und jetzt kommen die Haie — sie machen sich über ihn her — brrr, kein schöner Anblick… Jetzt habe ich die Ebene im Visier. Da liegt ein Bulldozer, der anscheinend eine Panne hat… er dreht sich beständig im Kreis. Jetzt wird er von ein paar Krebsen attackiert, die ihn in Stücke zerlegen… Skipper, ich glaube, Sie machen sich am besten sofort auf den Heimweg.“ „Glauben Sie mir“, sagte Norton mit Nachdruck, „wir kommen so rasch, wie es nur geht.“ Rama machte die Luken dicht wie ein Schiff, das sich auf einen Sturm vorbereitet. Dieser Eindruck drängte sich Norton zwingend auf: Allerdings hätte er keine logische Erklärung dafür finden können. Er empfand sich nicht mehr als ein rationales Wesen: in seinem Inneren lagen zwei widersprüchliche Kräfte miteinander im Streit. Der Zwang zur Flucht und der Wunsch, jenen Blitzentladungen zu folgen, die noch immer über den Himmel huschten und die ihn aufforderten, sich zu den Bioten zu gesellen und wie sie auf die See zuzumarschieren. Noch eine Sektion der Treppenkonstruktion — wieder zehn Minuten Pause, damit die Gifte Gelegenheit hatten, aus seinen Muskeln zu verschwinden —, noch zwei Kilometer vor ihnen… Aber laßt uns bloß nicht daran denken… Die wahnsinnige Sequenz fallender Pfeiftöne hörte ganz plötzlich auf. Im gleichen Augenblick stellten die Feuerbälle, die bisher durch die geraden Täler auf die See zu pulsiert waren, ihre Bewegung ein. Wieder waren die sechs linearen Sonnen Ramas durchgehende Lichtbänder. Aber diese Lichtbänder nahmen rasch an Helligkeit ab, zuckten zuweilen. Von Zeit zu Zeit wurden unterirdische Beben spürbar. Die Brükke berichtete, daß Rama noch immer mit unmerklicher Langsamkeit hin- und herschwinge — wie eine Kompaßnadel, die auf ein schwaches Magnetfeld reagiert. Das klang ja eigentlich recht zuversichtlich. Wenn Rama seine Schwenkung beenden würde, dann würde Norton wirklich beginnen, sich Sorgen zu machen. Alle Bioten waren jetzt verschwunden, wie Pieter von der Nabe berichtete. In der ganzen Innenwelt Ramas gab es nun nur noch eine Bewegung, die der menschlichen Wesen, die mit schmerzlicher Langsamkeit die gekrümmten Hänge der Nordkuppel emporkletterten. Norton hatte die Schwindelgefühle längst überwunden, die er beim ersten Anstieg empfunden hatte, nun nistete eine völlig neue Furcht in seinem Inneren. Sie alle waren hier außerordentlich verletzlich — auf dieser riesigen Kletterpartie von der Ebene bis zur Nabe; was würde passieren, wenn Rama, nachdem er seine Positionsänderung vollzogen hatte, plötzlich beschleunigen würde? Aller Voraussicht nach würde der Schub sich längs der Achse auswirken. Wenn dies in nördlicher Richtung stattfand, wäre das kein Problem. Sie würden einfach nur ein bißchen stärker gegen den Hang gepreßt, den sie gerade hinanstiegen. Doch wenn der Schub südwärts erfolgte, dann würden sie möglicherweise in den Raum hinausgeschleudert werden und eventuell irgendwann auf die unter ihnen liegende Ebene fallen. Norton versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, daß jede mögliche Beschleunigung ja nur sehr schwach sein konnte. Die Berechnungen Dr. Pereras hatten höchst überzeugend geklungen: Rama konnte kaum mit mehr als einem Fünfzigstel G beschleunigen, oder die Zylindrische See würde über die Südklippe hinüberschwappen und einen ganzen Kontinent überfluten. Aber Perera hatte in seinem bequemen Studierzimmer drunten auf der Erde gesessen. Ihn bedrohten nicht kilometerhohe Metallklippen, die allem Anschein nach jederzeit herunterstürzen konnten. Und vielleicht war ja eine periodische Überflutung in Rama eingeplant… Nein, das war einfach lächerlich. Absurd, sich einzubilden, daß all diese Trillionen Tonnen von Masse sich plötzlich beschleunigen könnten, und zwar so stark, daß er, Norton, den Halt verlor. Trotzdem ließ Norton für den Rest des Anstiegs das Geländer niemals los. Endlos viel später endete die Treppe; jetzt waren nur noch ein paar hundert Meter senkrechter Leiter zu überwinden. Es war nicht mehr nötig, diese Leiter hinaufzuklettern, denn ein Mann an der Nabe konnte ganz leicht einen anderen gegen die abnehmende Schwerkraft emporziehen. Selbst am Fuß der Leiter wog ein Mann weniger als fünf Kilo und oben praktisch gar nichts. Norton entspannte sich in der Sitzschlinge, griff von Zeit zu Zeit nach den Handgriffen, um den schwachen Corioliseffekt auszugleichen, der ihn von der Leiter wegzudrängen suchte. Bei diesem letzten Blick auf Rama vergaß er beinahe seine verkrampften steifen Muskeln. Das Licht war jetzt etwa so hell wie bei Vollmond auf der Erde; die Szenerie war klar zu übersehen, doch kleinere Einzelheiten konnte er nicht mehr erkennen. Der Südpol war teilweise hinter einem leuchtenden Nebel verborgen — nur das Große Horn drang durch ihn hindurch: ein kleiner schwarzer Punkt genau ihm gegenüber. Der sorgfältig kartographierte und doch immer noch unbekannte Kontinent jenseits der See war wieder das anscheinend zufällige Flickmuster wie zuvor. Er war zu stark verkürzt und wies zu viele komplizierte Details auf, als daß die visuelle Prüfung ergiebig gewesen wäre, und Norton überflog den Bereich nur mit einem kurzen Blick. Seine Augen glitten rings um dies kreisförmige Band der See, er bemerkte zum erstenmal ein reguläres Muster von unruhigem Wasser. Es war, als ob die Wellen über Riffe brächen, die in geometrisch genauen Abständen angeordnet waren. Ramas Manöver zeigte seine Auswirkungen, allerdings waren sie nur geringfügig. Er war sicher, daß Sergeant Barnes unter diesen Umständen mit Vergnügen über die Zylindrische See gesegelt wäre, hätte er sie gebeten, mit ihrer verlorenen Resolution loszufahren. New York, London, Paris, Moskau, Rom… er sagte all den Städten auf dem Nordkontinent Lebewohl und hoffte, die Ramaner würden ihm vergeben, wenn er irgendwo Schaden angerichtet hatte. Vielleicht würden sie ja Verständnis dafür aufbringen, daß alles aus wissenschaftlichem Interesse geschehen war. Dann war er plötzlich bei der Nabe angekommen; Hände griffen eifrig nach ihm, um ihm zu helfen und ihn rasch durch die Luftschleuse zu befördern. Seine überanstrengten Arme und Beine zitterten so unkontrolliert, daß er beinahe hilflos war, und so ließ er es sich dankbar gefallen, wie ein halbgelähmter Invalide manipuliert zu werden. Der Himmel Ramas zog sich über ihm zusammen, als er in den Zentralkrater der Nabe hinabstieg. Als die innere Schleusentür ihm den Anblick endgültig abschnitt, dachte er bei sich: Wie seltsam, daß jetzt die Nacht hereinbricht, wo Rama der Sonne am nächsten ist! 44. KAPITEL SPACE DRIVE Hundert Kilometer Entfernung boten ausreichend Sicherheit, hatte Norton entschieden. Rama war nun ein großes schwarzes Rechteck, daß ihnen genau die Breitseite bot und die Sonne verdeckte. Er hatte die Gelegenheit wahrgenommen und die Endeavour ganz in den Rama-Schatten gebracht, um die Kühlsysteme des Schiffs zu entlasten und ein paar überfällige Reparaturen ausführen zu lassen. Ramas schützender Schattenkegel konnte jeden Augenblick verschwinden, und er wollte ihn so gut ausnutzen, wie es eben ging. Rama wendete immer noch; inzwischen hatte er beinahe fünfzehn Grad durchlaufen, und nun konnte es überhaupt keinen Zweifel mehr geben, daß eine größere Flugbahnänderung bevorstand. Auf den Vereinten Planeten hatte die Erregung einen hysterischen Höhepunkt erreicht, doch bis zur Endeavour drang davon nur ein schwaches Echo. Körperlich und seelisch war die Besatzung erschöpft; nach dem Take-off von der Basis am Nordpol schliefen alle — bis auf eine kleine Wachmannschaft — zwölf Stunden lang. Auf Anordnung der Ärztin hatte Norton bei sich Elektroberuhigung angewendet; doch er hatte trotzdem geträumt, daß er eine endlose Treppe hinaufklettern müsse. Am zweiten Tag nach der Rückkehr ins Schiff ging alles nahezu wieder seinen normalen Gang; die Erforschung Ramas schien bereits einem anderen Leben anzugehören. Norton begann mit der Papierarbeit, die sich auf seinem Schreibtisch angesammelt hatte, und machte Zukunftspläne. Aber er wies die Ersuchen um Interviews zurück, die sich irgendwie in die Funkverbindung von Survey und sogar von SPACEGUARD eingeschlichen hatten. Vom Merkur lagen keine Nachrichten vor, und die Generalversammlung der UP hatte ihre Sitzung vertagt, obwohl sie innerhalb einer Stunde wieder zusammentreten konnte. Norton gönnte sich — dreißig Stunden, nachdem sie Rama verlassen hatten — zum erstenmal eine ganze Nacht lang Schlaf, als man ihn plötzlich roh wieder in die Wirklichkeit zurückschüttelte. Er fluchte schlaftrunken vor sich hin und blinzelte mit einem Auge: vor ihm stand Karl Mercer. Und wie jeder gute Kapitän war Norton sofort hellwach. „Er hat aufgehört, sich zu drehen?“ „Ja. Liegt da wie ein Fels.“ „Gehn wir zur Brücke.“ Das ganze Schiff war wach. Selbst die Simps wußten, daß etwas im Gang war, und stießen ängstliche Wimmerlaute aus, bis Sergeant McAndrews sie mit einigen raschen Handsignalen beruhigte. Doch als Norton in seinen Stuhl glitt und die Halterungen um seine Taille festzog, fragte er sich, ob auch dies nicht nur wieder falscher Alarm sein werde. Rama wirkte nun wie zu einem dicken Zylinder verkürzt; der brennende Rand der Sonne waberte über die eine Kante. Norton plazierte die Endeavour sacht wieder in den Schatten der künstlichen Sonnenfinsternis zurück und sah, wie die perlenhelle Pracht der Korona wieder vom Hintergrund der helleren Sterne auftauchte. Es zeigte sich eine riesige Protuberanz, die mindestens eine halbe Million Kilometer hoch aufschoß und die sich so weit von der Sonne entfernt hatte, daß ihre äußersten Zacken wie ein Baum von karmesinrotem Feuer wirkten. Jetzt können wir nur noch abwarten, sagte sich Norton. Und dabei ist es wichtig, nicht die Geduld zu verlieren, wichtig, bereit für eine Reaktion in Sekundenschnelle zu sein, alle Instrumente funktions- und aufnahmebereit zu halten, wie lange es auch dauern mag… Aber das war seltsam: das Sternenfeld verschob sich, beinahe so, als habe er die Rolltriebwerke aktiviert. Dabei hatte er keinen der Kontrollschalter berührt, und wenn eine tatsächliche Bewegung stattgefunden hätte, das wäre sofort zu spüren gewesen. „Skipper!“ rief Calvert aufgeregt von der Navigationskabine. „Wir rollen — sehen Sie sich die Sterne an! Aber ich bekomme keine Reaktion auf den Instrumenten!“ „Funktionieren die Rollstabilisatoren?“ „Völlig normal — Nadel zittert auf Null. Aber trotzdem rollen wir pro Sekunde um mehrere Grade!“ „Das ist unmöglich!“ „Sicher ist es unmöglich. Aber sehen Sie doch selbst…“ Wenn alles andere versagte, mußte man sich eben auf die natürlichen Instrumente, die Augen, verlassen. Norton konnte nicht daran zweifeln: das Sternenfeld rotierte tatsächlich langsam. Dort verschwand der Sirius über den Rand der Backbordseite. Entweder hatte das Universum sich sehr plötzlich entschlossen, gemäß einer vorkopernikanischen Kosmologie um die Endeavour zu kreisen, oder die Sterne standen still und das Schiff drehte sich. Die letzte Erklärung schien doch etwas plausibler, aber sie brachte unlösbare Paradoxa mit sich. Wenn das Schiff sich tatsächlich mit dieser Geschwindigkeit drehte, dann würde Norton es unbedingt gespürt haben müssen. Und die Stabilisatoren konnten nicht alle gleichzeitig ausgefallen sein. Es blieb nur eine Antwort übrig. Jedes Atom der Endeavour mußte von irgendeiner Kraft gepackt worden sein — und nur ein sehr starkes Schwerkraftfeld konnte dies bewirken. Jedenfalls konnte kein anderes bekanntes Feld… Plötzlich verschwanden die Sterne. Der lohende Diskus der Sonne war hinter dem Schattenschild Ramas aufgetaucht und hatte sie im Himmel ausgelöscht. „Haben Sie Radarangaben? Wie hoch ist der Dopplereffekt?“ Norton rechnete fest damit, daß auch dies ausgefallen war, doch hier irrte er sich. Rama war endlich unterwegs und beschleunigte mit bescheidenen 0,015 G. Norton sagte sich: Dr. Perera müßte jetzt eigentlich mit sich zufrieden sein. Er hatte eine Maximalbeschleunigung von 0,02 prognostiziert. Und die Endeavour war irgendwie in die Heckwelle geraten und saß da fest wie ein Stück Treibgut, das hinter einem davoneilenden Schiff herumwirbelt… Stunde um Stunde blieb die Beschleunigung Ramas konstant. Rama fiel mit ständig wachsender Geschwindigkeit von der Endeavour fort. Je größer die Entfernung wurde, desto schwächer wurde das anomale Verhalten des Raumschiffs. Die normalen Gesetze der Trägheit begannen wieder zu wirken. Man konnte nur Vermutungen anstellen über die Energien, in deren Rückstoß sie kurze Zeit gefangen gewesen waren, und Norton war dankbar für seine Vorsicht, die ihn die Endeavour in eine sichere Entfernung hatte bringen lassen, bevor Rama seine Triebwerke aktiviert hatte. Und was diesen Antrieb anging, so war eins jetzt jedenfalls klar, wenn auch alles andere ein Geheimnis blieb. Rama hatte keine Gasdüsen, keine Ionenstrahlen oder Plasmaschubwerke, die ihn auf seine Bahn hätten bringen können. Am besten drückte es der akademische Sergeant Myron aus, als er voll erschrokkener Ungläubigkeit sagte: „Und da verschwindet Newtons Drittes Gesetz!“ Aber auf eben dieses Dritte Newtonsche Gesetz mußte sich die Endeavour am darauffolgenden Tag verlassen, als sie ihre allerletzten Treibstoffreserven einsetzte, um ihr Flugbahn von der Sonne weg aufzunehmen. Die Veränderung war nur geringfügig, aber sie würden die Entfernung zum Perihelion um zehn Millionen Kilometer vergrößern. Und das bedeutete einen Unterschied: man brauchte nun nicht mehr die Kühlsysteme mit fünfundneunzig Prozent ihrer Kapazität zu belasten und — den sicheren Tod riskieren. Als sie ihre Flugbahnmanöver beendet hatten, war Rama bereits zweihunderttausend Kilometer weit entfernt, und es war schwierig, ihn gegen den brutalen Glanz der Sonne auszumachen. Aber noch immer erhielten sie exakte Radarmessungen über seine Flugbahn. Und je länger sie diese verfolgten, desto verwirrter wurden sie. Sie überprüften die Zahlenangaben wieder und wieder, bis ihnen schließlich nichts anderes übrigblieb, als die unglaubliche Schlußfolgerung zu akzeptieren. Es sah so aus, als ob alle Ängste der Hermianer, die Heldentaten Rodrigos und die ganzen rhetorischen Wasserfälle der Generalversammlung der UP vollkommen umsonst gewesen wären. Was für eine Ironie des Kosmos, sagte sich Norton, als er sich die endgültigen Berechnungen ansah, wenn die Computer in Rama nach Millionen Jahren sicherer Steuerung einen winzigen Fehler gemacht haben — wenn sie etwa in einer Gleichung ein Pluszeichen in ein Minus verwandelt haben. Sie waren alle so sicher gewesen, daß Rama an Geschwindigkeit verlieren und vom Schwerkraftfeld der Sonne eingefangen werden würde und daß er so zu einem neuen Planeten im Sonnensystem werden müsse. Und Rama tat genau das Gegenteil. Es gewann an Schnelligkeit — und noch dazu in der denkbar schlechtesten Richtung. Rama fiel immer rascher auf die Sonne zu. 45. KAPITEL DER PHÖNIX Je eindeutiger die Einzelheiten der neuen Flugbahn Ramas erfaßbar wurden, desto schwerer fiel es, nicht zu glauben, daß diese Welt in eine sichere Katastrophe stürzen müsse. Nur eine Handvoll Kometen waren je so nahe an der Sonne vorbeigezogen; und Rama würde am Perihelion weniger als eine halbe Million Kilometer von dieser Hölle aus brennendem Wasserstoff entfernt sein. Keine Materie war imstande, diese Temperaturen auszuhalten; die harte Legierung, die Ramas Rumpf schützte, würde bereits in zehnfacher Entfernung zu schmelzen beginnen. Die Endeavour hatte nun ihr eigenes Perihelion hinter sich gebracht, und jeder fühlte sich erleichtert. Nun flog das Raumschiff auf einer Bahn, die es langsam immer weiter von der Sonne entfernte. Rama lag weit vor ihnen auf seinem engeren und schnelleren Orbit, und es sah jetzt schon aus, als befinde er sich in den äußersten Protuberanzen der Korona. Die Endeavour würde dem letzten Akt der Tragödie von einem Logenplatz aus beiwohnen können. Dann begann Rama plötzlich, knappe fünf Millionen Kilometer von der Sonne entfernt, sich einen Kokon zu spinnen. Bislang war er in den schärfsten Teleskopen der Endeavour noch immer als ein winziger heller Stern sichtbar gewesen; nun begann er plötzlich zu flimmern wie ein Stern, den man im Dunst eines Horizontes sieht. Es hatte beinahe den Anschein, als löse sich Rama auf. Und Norton verspürte einen scharfen Stich des Bedauerns, als er sah, wie das Bild zerfloß, wie da so viel Wunderbares verlorenging. Dann wurde ihm klar, daß Rama ja noch immer vorhanden war, daß er sich nur mit einem schimmernden Nebel umgeben hatte. Und dann war Rama verschwunden. Statt dessen sah Norton ein helles sternenähnliches Objekt, das keine sichtbare Scheibe aufwies — als hätte Rama sich plötzlich zu einem winzigen Ball zusammengezogen. Es dauerte eine Weile, bevor ihnen klarwurde, was da geschah. Rama war tatsächlich verschwunden: er war nun von einer absolut reflektierenden Kugel umgeben, die etwa hundert Kilometer im Durchmesser maß. Sie konnten jetzt nur noch die Widerspiegelung der Sonne selbst sehen, die von der ihnen zugewandten Seite reflektiert wurde. Aller Wahrscheinlichkeit nach befand sich Rama hinter dieser schützenden Blase in Sicherheit vor den höllischen Kräften der Sonne. Die Stunden vergingen, und die Blase veränderte ihre Gestalt. Das Spiegelbild der Sonne verzerrte sich, wurde länglich. Die Kugelform verwandelte sich in ein Ellipsoid, der lange Achsenpunkt wies in die Flugrichtung Ramas. Und dann begannen die ersten anomalen Berichte von den Roboterbeobachtern einzutreffen, die seit nahezu zweihundert Jahren die Sonne unablässig überwachten. Irgend etwas geschah mit dem Magnetfeld der Sonne, etwa dort, wo Rama sich aufhielt. Die millionenkilometerlangen Kraftlinien, die von der Korona ausgingen und die ihre Strahlenbüschel hochionisierten Gases mit heftigen Geschwindigkeiten fortschleuderten, die zuweilen sogar das gewaltige Schwerkraftfeld der Sonne mißachteten, formierten sich nunmehr um dieses schimmernde Ellipsoid. Noch konnte das Auge nichts entdecken, aber die kreisenden Instrumente zeichneten jede Veränderung im Magnetfluß und in der Ultraviolettstrahlung auf. Und jetzt konnte man sogar mit bloßem Auge die Veränderung der Korona wahrnehmen: in der äußeren Atmosphäre der Sonne war ein schwachglühender Tunnel oder eine Röhre erschienen. Die Länge betrug etwa hunderttausend Kilometer, und sie reichte sehr weit nach oben oder außen. Sie war leicht gekrümmt, etwa in der Flugbahnrichtung, die Rama eingeschlagen hatte. Und Rama selbst — oder vielmehr der Schutzmantel, den er sich umgelegt hatte — wurde als glitzernde Perle sichtbar, die mit wachsender Geschwindigkeit diese geisterhafte Röhre durch die Korona hindurch entlangraste. Denn Ramas Geschwindigkeit nahm immer noch zu. Er raste jetzt mit über zweitausend Kilometersekunden dahin: es konnte jetzt keinen Zweifel mehr geben, daß Rama nicht im Bannkreis der Sonne gefangen bleiben würde. Jetzt war endlich klar, worin die Strategie Ramas bestand. Rama hatte sich der Sonne nur so stark angenähert, um ihre Energie an der Quelle anzuzapfen und um sich noch mehr Beschleunigung zu verschaffen, damit er noch rascher seinem endgültigen unbekannten Ziel zueilen könne… Und jetzt hatte es den Anschein, als würde da mehr als bloße Energie abgezapft. Niemand würde das je genau wissen, denn die nächsten Beobachtungsinstrumente waren immerhin noch dreißig Millionen Kilometer entfernt, doch es gab genügend eindeutige Anzeichen dafür, daß Materie von der Sonne selbst nach Rama hinüberfloß, als wolle diese Welt die Verluste und Leckagen von Zehntausenden von Jahrhunderten im Raum wiedergutmachen. Rama wirbelte immer schneller um die Sonne herum. Er bewegte sich nun rascher als irgendein Objekt, das jemals das Sonnensystem gekreuzt hatte. In weniger als zwei Stunden hatte sich seine Bewegungsrichtung um mehr als neunzig Grad verändert, und damit hatte Rama endgültig bewiesen, wie geradezu verächtlich wenig ihm an all diesen Welten lag, deren Seelenfrieden er so grob gestört hatte. Rama fiel aus der Eklipse heraus gegen den Südhimmel zu, in eine Richtung, die weit unter den Bahnen aller Planeten des Sonnensystems lag. Und wenn dies auch nicht sein endgültiges Ziel sein konnte — denn das war ganz eindeutig —, so strebte er doch mehr oder weniger auf die Große Magellanwolke, diesen berühmten Nebel, zu, auf die einsamen Abgründe jenseits der Milchstraße. 46. KAPITEL EIN LETZTES ZWISCHENSPIEL „Kommen Sie rein“, sagte Commander Norton wie geistesabwesend, als er das sachte Klopfen an seiner Tür vernahm. „Hier sind ein paar Neuigkeiten, Bill. Ich wollte Sie direkt bringen, ehe die Besatzung sich was ausdenkt. Und außerdem fallen sie sowieso in meinen Verantwortungsbereich.“ Norton schien immer noch weit weg zu sein. Er lag auf dem Bett, die Hände hinter dem Nacken verschränkt, die Augen halb geschlossen, die Beleuchtung in der Kabine war nur schummrig… Er döste nicht richtig vor sich hin, doch er hatte sich in den Luxus einer Fantasie, eines höchst privaten Traums verloren. Er blinzelte ein-, zweimal, dann war er sofort wieder da. „Tut mir leid, Laura. Ich begreife das gar nicht. Worum geht es denn?“ „Sagen Sie bloß, Sie hätten es vergessen!“ „Hören Sie auf, mich an der Nase oder sonstwo rumzuführen, Sie ekelhaftes Weib! In letzter Zeit habe ich mich ja wirklich mit ein paar kleinen Problemchen rumschlagen müssen.“ Stabsärztin Kapitänleutnant Ernst schob einen Ankerstuhl die Rillen entlang und setzte sich neben Norton nieder. „Die interplanetarischen Krisen kommen und gehen, aber die Mühlen der Bürokratie auf dem Mars mahlen unablässig vor sich hin. Ich vermute, Rama hat da Hilfestellung geleistet. Und Gott sei Dank brauchten Sie nicht auch noch das Einverständnis der Hermianer dazu!“ In Nortons Gehirn dämmerte etwas. „Oh — also hat Port Lowell die Erlaubnis gegeben!“ „Nein, noch besser — es klappt bereits…“ Laura Ernst warf einen Blick auf den Papierstreifen in ihrer Hand. „Sofort“, las sie. „Möglicherweise wird gerade jetzt Ihr neuer Sohn empfangen. Meine Glückwünsche.“ „Danke. Ich hoffe nur, es hat ihm nichts ausgemacht zu warten.“ Wie alle Astronauten war Norton bei seiner Dienstverpflichtung sterilisiert worden. Denn wenn ein Mann Jahre seines Lebens im Weltraum verbringen mußte, dann waren strahlungsbedingte Mutationen des Samens nicht ein bloßes Risiko, sondern eine ziemliche Gewißheit. Also hatte das Spermatozoon, das auf dem Mars soeben seine Genfracht abgeladen hatte (zwei Millionen Kilometer von seinem Spender entfernt), dreißig Jahre lang tiefgefroren warten müssen, bis sich sein Schicksal erfüllte. Norton fragte sich, ob er wohl rechtzeitig zur Geburt seines Kindes nach Hause kommen würde. Er hatte sich Erholung verdient — ein normales Familienleben, soweit dies einem Astronauten überhaupt möglich war. Jetzt, da seine Mission nahezu beendet war, begann er sich zu entspannen. Er dachte wieder an seine Zukunft und an die Zukunft seiner beiden Familien. Ach, es würde gut sein, eine Zeitlang wieder zu Hause zu sein und die verlorene Zeit wieder gutzumachen. In jeder Hinsicht… „Mein Besuch“, protestierte Laura ziemlich wenig überzeugend, „hatte eigentlich einen rein beruflichen Charakter…“ „Nach all den Jahren“, antwortete Norton, „dürften wir uns doch wohl ein bißchen besser kennen. Im übrigen sind Sie ja ab sofort außer Dienst.“ Sehr viel später fragte Stabsärztin Kapitänleutnant Ernst: „Und was denkst du jetzt?“ — „Ich hoffe doch, daß Sie nicht sentimental werden, Skipper!“ „Nein, nicht wegen uns beiden. Es ist Rama. Ich vermisse ihn.“ „Innigsten Dank für dieses Kompliment.“ Norton schloß sie fester in die Arme. Eine der nettesten Nebenerscheinungen der Schwerelosigkeit, pflegte er oft zu denken, war es, daß man einen Partner wirklich die ganze Nacht lang im Arm halten konnte, ohne daß einem dabei die Arme einschliefen. Und es gab sogar Leute, die behaupteten, daß Liebe bei einem G so schwerfällig sei, daß sie sie nicht mehr zu genießen vermöchten. „Laura, es ist eine wohlbekannte Tatsache, daß Männer im Gegensatz zu Frauen einen zweigleisigen Verstand haben. Aber jetzt mal im Ernst — also, jedenfalls ein bißchen ernster: ich habe wirklich das Gefühl, daß ich etwas verloren habe.“ „Ja, das kann ich begreifen.“ „Sei doch nicht so medi-zynisch. Das ist nur einer der Gründe. Ach, lassen wir’s doch.“ Norton gab es auf. Es war so schwer zu erklären. Es gelang ihm nicht einmal, es sich selbst klarzumachen. Er hatte über alle vernünftigen Erwartungen hinaus Erfolg gehabt. Die Entdeckungen, die seine Leute in Rama gemacht hatten, würden die Wissenschaftler Jahrzehnte beschäftigen. Und was noch mehr zählte, er, Norton, hatte das fertiggebracht, ohne einen einzigen Mann zu verlieren. Aber er hatte auch versagt. Man konnte endlose Vermutungen darüber anstellen, doch das Wesen und die Absichten der Ramaner waren noch immer völlig unbekannt. Sie hatten das Sonnensystem als Auftankstation benutzt, als neue Startbasis — man konnte es nennen, wie man wollte —, und hatten dieses Sternensystem danach vollkommen ignoriert, während sie sich zu wichtigeren Aufgaben aufmachten. Vielleicht würden sie nie auch nur wissen, daß es so etwas wie eine menschliche Rasse gab. Und eine derartig unerhörte Gleichgültigkeit war schlimmer, als es irgendeine absichtliche Beleidigung hätte sein können. Als Norton zum letztenmal einen Blick auf Rama warf, auf diesen winzigen Stern, der in einen Bereich jenseits der Venus hinausschoß, wußte er mit absoluter Sicherheit, daß wieder ein Teil seines Lebens vergangen war. Er war erst fünfundfünfzig Jahre alt, aber er hatte das Gefühl, als habe er seine ganze Jugendlichkeit dort unten auf dieser gekrümmten Ebene gelassen, mitten zwischen den Geheimnissen und Wundern, die sich jetzt auf Nimmerwiedersehen dem Zugriff der Menschheit entzogen. Was immer die Zukunft ihm an Ehrungen und Beförderungen bringen mochte, er, Norton, würde für den Rest seiner Tage unter einem Gefühl leiden, daß ein Höhepunkt vorüber war, und zwar endgültig, und daß er unwiderruflich die wichtigsten Gelegenheiten seines Lebens verpaßt hatte. Das war es, worüber er insgeheim nachdachte. Aber eigentlich hätte er es besser wissen sollen. In seinem Schlummer auf der weit entfernten Erde, aus dem er plötzlich durch eine Botschaft aus seinem Unbewußten aufgeschreckt wurde, und es war ein ruheloser Schlummer gewesen, hatte Dr. Perera eine Botschaft erhalten, die noch immer sein ganzes Gehirn erfüllte und die er bisher noch keinem anderen Menschen mitgeteilt hatte: Die Ramaner tun alles dreifach… Dieses e-book darf nicht zum Verkauf angeboten werden.